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Der Nutzen des Selbstmitgefühls


Am ersten Kursabend war Marion sehr skeptisch. »Wie soll mir Selbstmitgefühl helfen? Ich habe mir angewöhnt, sehr streng mit mir umzugehen – ich weiß schon, dass das teuflisch sein kann. Es hat mich aber dahin gebracht, wo ich heute stehe. Warum sollte ich mich ändern? Kann ich mich überhaupt ändern? Wie kann ich mich darauf verlassen, dass es funktioniert, wenn ich mich darauf einlasse?

Zum Glück musste sich Marion nicht nur auf unser Wort verlassen. Über tausend Studien41 belegen den gesundheitlichen Nutzen des Selbstmitgefühls auf geistiger und körperlicher Ebene. Menschen mit mehr Selbstmitgefühl verfügen über ein höheres Wohlbefinden:

WenigerMehr
DepressionGlück
AngstLebenszufriedenheit
StressSelbstvertrauen
Schamkörperliche Gesundheit

Auch wenn wir alle natürlich über unterschiedliche Grade an Selbstmitgefühl verfügen, kann es durchaus erlernt werden. Forschungsergebnissen zufolge hat sich das Selbstmitgefühl bei Menschen, die einen MSC-Kurs besuchten, um durchschnittlich 43 Prozent gesteigert.42 Die Teilnahme am Kurs half ihnen ebenso dabei, achtsamer gegenüber anderen zu werden und mehr Mitgefühl mit ihnen zu haben, eine stärkere soziale Verbundenheit zu spüren, eine höhere Grundzufriedenheit sowie mehr Glück zu erleben und sich weniger depressiv, ängstlich und gestresst zu fühlen. Die Teilnehmenden waren nach dem MSC-Kurs auch weniger geneigt, problematischen Emotionen auszuweichen.

Der Großteil dieser Vorteile stand in direktem Zusammenhang mit dem Erlernen von Selbstmitgefühl. Ferner ließ sich ein Jahr nach dem Kurs feststellen, dass der Zuwachs an Selbstmitgefühl und weitere Gewinne, die der MSC-Kurs mit sich gebracht hatte, nach wie vor zu verzeichnen waren. Der Grad an Selbstmitgefühl hing damit zusammen, wie häufig die Teilnehmenden die entsprechenden Übungen durchgeführt hatten (was die Anzahl der Tage betraf, die sie wöchentlich meditierten, oder die Häufigkeit informeller Übungen, die sie täglich absolvierten). Diese Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass du die Beziehung zu dir selbst auf radikale Weise wandeln und dadurch dein Leben entscheidend verbessern kannst, wenn du die verschiedenen Übungen dieses Buchs anwendest.

Die Übungen aus dem MSC-Programm können die Beziehung zu dir selbst umgestalten und dein Leben dadurch zum Besseren wenden.

Marion hatte nach außen hin ein beneidenswertes Leben – zwei großartige Kinder, eine glückliche Ehe, erfüllende Arbeit –, dennoch fühlte sie sich fast jeden Abend wie ein nervliches Wrack: Sie machte sich Sorgen, ob sie jemandem auf den Schlips getreten haben könnte, oder sie setzte sich selbst schwer zu, dass sie als Mutter nicht gut genug sei, und war enttäuscht darüber, dass sie mit ihren hohen Erwartungen nicht mithalten konnte. Keinerlei Bestätigungen schienen daran etwas zu verändern. Marion war ein Mensch, bei dem sich jeder darauf verlassen konnte, dass sie im rechten Moment das Richtige sagen würde, allen gegenüber stets freundlich wäre und jedem ihre Unterstützung anböte. Irgendwie übertrug sich diese Einschätzung jedoch nicht auf die Art und Weise, wie Marion mit sich selbst umging. Sie wusste, dass eine Veränderung von innen her kommen musste. Aber wie?

Es erschien ihr, als könnte die Entwicklung von mehr Selbstmitgefühl ihr eine Antwort auf ihre Frage geben, also schrieb sie sich für einen MSC-Kurs ein. Vor Kursbeginn füllte Marion den Fragebogen zum Selbstmitgefühl (Self-Compassion Scale) aus (siehe Seite 50), wobei ihr auffiel, dass sie wahrscheinlich ihre eigene schlimmste Feindin war. Während des ersten MSC-Kurstreffens wurde ihr allerdings klar, dass sie damit keineswegs allein dastand. In Wirklichkeit ist die Neigung, sich selbst zu kritisieren, sich abzusondern und in Grübeleien zu verstricken, wenn die Dinge mal nicht so laufen wie gewünscht, eine ziemlich unwillkürliche Reaktion von uns allen.

Marions nächster Schritt in Richtung Selbstmitgefühl – den Schmerz durch Selbstkritik zu erkennen – fiel ihr sehr leicht. Ihr Bedürfnis nach Bestätigung durch andere begann ihre Familie und Freunde bereits zu ermüden, und Marion war sich ihrer Besessenheit, perfekt zu sein, schon mehr als bewusst. Diese Sehnsucht lag tief in ihrer Kindheit verwurzelt. Sie war bei einem finanziell erfolgreichen, aber emotional distanzierten Vater aufgewachsen. Und sie hatte eine ehemalige Schönheitskönigin zur Mutter, die eine Abneigung gegenüber einer solch »langweiligen« Aufgabe wie »Vollzeit-Mutter« hegte. Marion sehnte sich stets sehr nach mehr emotionaler Wärme und Nähe zu ihren Eltern, was jedoch unerreichbar schien. Es gelang ihr zwar, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem sie bei fast allem, was sie unternahm, erfolgreich war. Dies aber brachte Marion nie das, wonach sie sich am meisten sehnte.

Das erste Aha-Erlebnis hatte Marion, als sie darüber nachdachte, wie sehr und wie bedingungslos sie ihre kleinen Kinder liebt. Sie begann sich zu fragen: »Warum schließe ich mich so systematisch von dieser Liebe aus?« Wäre es ihr denn nicht möglich, sich selbst in dieses angenehme Gefühl zu hüllen, genau so, wie sie manchmal mit ihren Kindern am Ende eines Tages kuschelt und sie warm zudeckt? Kann sie mit sich selbst nicht auf dieselbe liebevolle Art sprechen, in der sie mit ihren Freunden spricht? »Letztendlich«, so dachte Marion, »brauche ich es doch genau wie alle anderen auch, geliebt zu werden!«

Als Marion sich zugestand, sich selbst zu lieben, tauchte etwas von den alten Sehnsüchten und der Einsamkeit ihrer Kindheit auf. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich jedoch schon ganz dem Gedanken verschrieben, dass sie, genau wie jeder andere auch, Mitgefühl verdiente. Sie begann sogar ein wenig Trauer um all die vielen Jahre zu spüren, in denen sie damit befasst war, die Zuneigung anderer anzustreben, um das Loch in ihrem Herzen zu füllen.

Die Praxis des Selbstmitgefühls war schwierig für sie, doch sie blieb beharrlich dabei. Sie wusste, dass diese alten Gefühle zum Vorschein kommen mussten, und sie erwarb die Ressourcen, die sie benötigte, um ihnen zu begegnen – Achtsamkeit und Selbstmitgefühl. Von nun an konnte sie beginnen, sich selbst das zu geben, was sie von anderen ersehnte.

Ihre Freunde und ihre Familie nahmen allmählich eine Veränderung an Marion wahr. Zuerst einmal waren es kleine Dinge, beispielsweise sagte sie ein Treffen mit Freunden ab, wenn sie abends erschöpft und ihr nicht nach Ausgehen zumute war. Sie selbst stellte fest, dass sie leichter einschlief, vielleicht weil sie nicht länger dalag und den ganzen Tag vor ihrem inneren Auge vorüberziehen ließ, um über all ihre Fehltritte nachzusinnen. Hin und wieder wachte sie noch immer aus Albträumen auf, in denen sie beispielsweise träumte, dass sie einen Vortrag in der Arbeit halten sollte und vergessen hatte, worum es eigentlich ging. Dann legte sie einfach ihre Hand aufs Herz, sprach sich selbst liebevolle Worte zu und schlief alsbald wieder ein. Ihrem Mann fiel auf – halb scherzhaft, halb ernst gemeint–, dass Marion »pflegeleichter« wurde. Zum Ende des achtwöchigen MSC-Kurses hin stimmten Marion und ihre Familie darin überein, dass sie zu einem glücklicheren Menschen geworden war. Wirklich erstaunlich war jedoch, dass Marion sich nicht mehr selbst rügte, wenn sie einen Fehler begangen hatte, dass sie das Bedürfnis nach Perfektion losließ und sich selbst genau so zu lieben und zu akzeptieren begann, wie sie ist.


ÜBUNG

Wie selbstmitfühlend bin ich?

Der Weg beginnt häufig mit einer objektiven Einschätzung davon, über wie viel Selbstmitgefühl wir bereits verfügen. Über den entsprechenden Fragebogen43 wird auf einer Skala der Grad ermittelt, zu dem Menschen Selbstmitgefühl aufbringen oder sich eher streng verurteilen, ein Gefühl des gemeinsamen Menschseins empfinden oder sich aufgrund ihrer Unvollkommenheit allein und getrennt von anderen fühlen und achtsam ihr Leiden wahrnehmen oder sich mit jenem übermäßig identifizieren. In den meisten Studien wird diese Skala verwendet, auch um den Zusammenhang von Selbstmitgefühl und Wohlbefinden zu ermitteln.

Dieser Fragebogen ist eine angepasste Version der Kurzform des Fragebogens44 zum Selbstmitgefühl. Wenn du den gesamten Fragebogen zum Selbstmitgefühl ausfüllen und dir dein Ergebnis errechnen lassen möchtest, geh auf die englischsprachige Webseite www.self-compassion.org/test-how-self-com-passionate-you-are.

Die folgenden Aussagen beschreiben, wie du mit dir selbst in schwierigen Momenten umgehst. Bevor du antwortest, lies jede Aussage sorgfältig durch. Gib links von jeder Aussage an, wie häufig du dich auf die beschriebene Art und Weise verhältst. Nutz die Zahlenskala von 1 (»Fast niemals«) bis 5 (»Fast immer«) für deine Angaben.

Verwende die folgende Skala für den ersten Abschnitt:

Fast niemalsFast immer
12345

____ Ich versuche, verständnisvoll und geduldig mit den Anteilen meiner Persönlichkeit umzugehen, die ich nicht mag.

____ Wenn etwas Schmerzhaftes passiert, bemühe ich mich darum, das Geschehene aus einer ausgewogenen Perspektive zu betrachten.

____ Ich versuche meine Misserfolge als Teil des menschlichen Daseins zu betrachten.

____ Wenn ich schwere Zeiten durchmache, gebe ich mir selbst die liebevolle Fürsorge und Sanftheit, die ich dann brauche.

____ Wenn mich etwas aufregt, versuche ich, meine Gefühle im Gleichgewicht zu halten.

____ Wenn ich mich in irgendeiner Weise unzulänglich fühle, versuche ich, mich daran zu erinnern, dass Gefühle der Unzulänglichkeit den meisten Menschen vertraut sind.

Für den nächsten Abschnitt verwende die folgende Skala (beachte, dass die Außenwerte in dieser Skala von der vorigen abweichen und die umgekehrte Bedeutung anzeigen):

Fast immerFast niemals
12345

____ Wenn mir etwas nicht gelingt, das mir wichtig ist, dann zehren mich Gefühle der Unzulänglichkeit auf.

____ Wenn es mir schlechtgeht, neige ich dazu zu glauben, dass die meisten anderen Menschen wahrscheinlich glücklicher sind als ich.

____ Wenn mir etwas misslingt, das mir wichtig ist, fühle ich mich in aller Regel allein in meinem Scheitern.

____ Wenn es mir schlechtgeht, dann neige ich dazu, ganz besessen fixiert auf all die Dinge zu sein, die nicht gut laufen.

____ Ich missbillige meine eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten und verurteile sie.

____ Ich bin ungeduldig gegenüber den Anteilen meiner Persönlichkeit, die ich nicht mag, und toleriere sie nicht.

Auswertung deines Tests:

Gesamtsumme (Summe aller zwölf Fragen): ____________________

Durchschnittswert (Gesamtsumme dividiert durch 12): ____________________

Durchschnittlich liegen die Gesamtergebniswerte auf der Skala in etwa um 3. Als grobe Orientierung kann man sagen, dass ein Wert zwischen 1 und 2,5 ein geringes Selbstmitgefühl bedeutet, ein Wert zwischen 2,5 und 3,5 entspricht einer mittleren Ausprägung, und ein Wert zwischen 3,5 und 5,0 bedeutet, dass du ein hohes Selbstmitgefühl besitzt.

REFLEXION

Wenn dein Endergebnis niedriger ausgefallen ist, als es dir gefällt, mach dir keine Sorgen. Das Schöne am Selbstmitgefühl ist, dass es sich um eine Fähigkeit handelt, die wir uns aneignen können. Vielleicht dauert es ein wenig, aber letzten Endes wirst du sie erlernen.


INFORMELLE PRAXIS

Ein Selbstmitgefühlstagebuch führen

Versuch eine Woche lang (oder auch länger, wenn du möchtest), täglich ein Tagebuch über Selbstmitgefühl zu führen. Tagebuch zu schreiben ist eine sehr effiziente Art und Weise, unseren Emotionen Ausdruck zu verleihen;45 und es hat sich gezeigt, dass dies der seelischen und körperlichen Gesundheit zuträglich ist. Nimm dir abends einige ruhige Minuten und lass die Geschehnisse des Tages noch einmal an dir vorüberziehen. Schreib in dein Tagebuch alle Dinge, die du bedauerst oder bei denen du ein schlechtes Gewissen hattest, alles, wofür du dich selbst verurteilt hast, oder jede andere schwierige Erfahrung, die schmerzhaft war. (Beispielsweise bist du vielleicht wütend auf den Kellner in einem Restaurant geworden, weil er eine Ewigkeit gebraucht hat, um die Rechnung zu bringen. Dann hast du eine unfreundliche Bemerkung gemacht und bist rausgeeilt, ohne Trinkgeld zu geben. Im Nachhinein hast du dich geschämt, und es war dir peinlich.) Versuche nun, jedes einzelne schwierige Vorkommnis, das du an diesem Tag hattest, mit Achtsamkeit, einem Gefühl des gemeinsamen Menschseins und mit Freundlichkeit zu betrachten und dadurch mit mehr Selbstmitgefühl mit dem Erlebten in Beziehung zu treten. Hier siehst du, wie:

Achtsamkeit

Hierbei geht es im Wesentlichen darum, die schmerzhaften Gefühle, die aufgrund deiner Selbsturteile oder der schwierigen Umstände an sich aufgetreten sind, in einem ausgeglichenen Gewahrsein zu halten. Schreib auf, wie du dich gefühlt hast: traurig, beschämt, ängstlich, gestresst und so weiter. Versuch beim Schreiben, deiner Erfahrung gegenüber urteilsfrei und akzeptierend zu sein, ohne sie zu schmälern oder zu dramatisieren. (Zum Beispiel: »Ich war gefrustet darüber, dass der Kellner so langsam war. Ich wurde wütend, habe überreagiert und kam mir später lächerlich vor.«)

Gemeinsames Menschsein

Schreib auf, inwiefern deine Erfahrung ein Teil der allgemeinen menschlichen Erfahrung ist. Dazu gehört, dass wir alle unvollkommen sind und zuweilen schmerzhafte Erfahrungen machen (etwa »Jeder überreagiert mal – das ist einfach menschlich« oder »Es ist naheliegend, dass Menschen sich in einem solchen Moment so fühlen«). Vielleicht hilft es auch, über die Ursachen und besonderen Umstände nachzudenken, die deiner schmerzhaften Situation zugrunde liegen. (»Mein Frust hatte sich verschärft, weil ich einen Arzttermin am anderen Ende der Stadt hatte und eine halbe Stunde zu spät dran war. Es war sehr viel Verkehr auf den Straßen an diesem Tag. Wären die Umstände anders gewesen, wäre meine Reaktion wahrscheinlich auch anders ausgefallen.«)

Selbstfreundlichkeit

Schreibe ein paar freundliche und verständnisvolle Worte an dich selbst, etwa so, wie du einer guten Freundin schreiben würdest. Teile dir selbst in einem sanften und beruhigenden Ton mit, dass dir dein eigenes Glück und dein Wohlbefinden wichtig sind. (»Alles ist in Ordnung. Das hast du zwar vermasselt, aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich verstehe, wie frustriert du warst, und da ist dir einfach der Kragen geplatzt. Vielleicht kannst du in dieser Woche, wenn du nochmal mit Bedienungspersonal zu tun hast, besonders geduldig und freundlich sein.«)

REFLEXION

Sobald du mindestens eine Woche lang dein Selbstmitgefühlstagebuch geführt hast, frage dich, ob sich etwas an der Art und Weise verändert hat, wie du mit dir selbst sprichst. Wie hat es sich angefühlt, sich selbst auf einfühlsamere Weise zu schreiben? Glaubst du, dass es dir im Umgang mit den Schwierigkeiten, die dir begegnet sind, geholfen hat?

Manche werden feststellen, dass ein Selbstmitgefühlstagebuch zu führen eine wunderbare Hilfe für die eigene Praxis ist, andere werden es vielleicht eher als lästig empfinden. Sicher lohnt es sich, das Schreiben eine Woche lang auszuprobieren, wenn das Tagebuchführen aber nichts für dich ist, dann kannst du es einfach überspringen. Wichtig ist, dass wir alle drei Schritte des Selbstmitgefühls üben – uns achtsam unserem Schmerz zuwenden, uns daran erinnern, dass Unvollkommenheit Teil des gemeinsamen Menschseins ist, sowie liebevoll und unterstützend mit uns selbst umgehen, weil wir es gerade schwer haben.

Selbstmitgefühl - Das Übungsbuch

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