Читать книгу Sicher eingewöhnen - Käthe Bleicher - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеIch freue mich sehr, dass Sie zu diesem Buch gegriffen haben. Denn das bedeutet, dass das Thema «Eingewöhnung» endlich den Platz in unserer Gesellschaft erhält, den es schon lange verdient hat.
«Eingewöhnung» – für viele ist dieser Begriff meist sehr negativ behaftet. Schnell steigen da Bilder oder Erinnerungen in einem auf, etwa weinende Kinder, gestresste Erzieher und verzweifelte Eltern. Zumindest erlebte ich in den Anfängen meiner pädagogischen Arbeit die Phasen der Eingewöhnung in der Krippe keineswegs als ein entspanntes, freudiges Kennenlernen zwischen Bezugserzieherin und Kind sowie zwischen Erzieherin und Eltern. Die meisten meiner Kolleginnen, die schon einige Eingewöhnungen hinter sich hatten, sehnten die Zeit der Eingewöhnung nicht gerade herbei. Und auch die Eltern kamen häufig eher ängstlich und unsicher zum ersten Tag der Eingewöhnung als freudig und erwartungsvoll.
Keine besonders guten Voraussetzungen, wenn man bedenkt, dass die Art und Weise einer Eingewöhnung eine sehr bedeutsame Rolle dabei spielt, wie das Kind später einmal in der Gruppe der Kinder stehen wird.
Schnell habe ich mir die Fragen gestellt: Woran liegt das? Wieso wird die Phase der Eingewöhnung von vielen Pädagogen und Eltern als stressvoll und unangenehm empfunden?
Das liegt vermutlich daran, dass die Eingewöhnungen häufig alles andere als schön und ideal verlaufen. Jeder kennt diese Geschichten – entweder von Freunden oder von seinen eigenen Erlebnissen als Mutter, als Vater oder als Erzieherin – Geschichten wie die folgenden:*
«Wir waren gerade den zweiten Tag in der Krippe, da sagte die Erzieherin, ich könne nun gehen. Die Mama würde nicht länger gebraucht. Ich war so überrumpelt, dass ich der Erzieherin einfach Folge leistete. Ich verließ den Raum, ohne mich von meinem Kind zu verabschieden, obwohl ich innerlich wusste, dass es weder richtig noch gut war. Draußen vor der verschlossenen Tür des Gruppenraums hörte ich meine Tochter bitterlich weinen. Das hat mir das Herz zerrissen.»
Eine Mutter über die Eingewöhnung ihrer eineinhalbjährigen Tochter
«Ich habe schon viele Kinder eingewöhnt. Aber nur wenige Eingewöhnungen waren wirklich rund und schön. Häufig fühle ich mich von den Eltern unter Druck gesetzt, da sie erwarten, dass man das Kind in sehr kurzer Zeit eingewöhnen soll. Aber das geht nicht, eine gute Eingewöhnung braucht Zeit. Nur so kann das Kind eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen. Ich würde mir wünschen, dass die Eltern nicht so einen Zeitdruck auf uns Erzieher ausüben.»
Eine Erzieherin über die Eingewöhnung in ihrer Krippe
«Vor der Eingewöhnung unseres elf Monate alten Sohnes hatte ich große Angst. Ich war innerlich völlig zerrissen. Wegen meines Jobs hatte ich einen totalen Druck im Nacken, da ich nicht länger als zwölf Monate zu Hause bleiben konnte. Ich musste meinen elf Monate alten Sohn also in eine Krippe geben, obwohl ich gerne länger daheim geblieben wäre. Er war ja noch so klein.
Was, wenn er den ganzen Tag allein in der Krippe am Boden sitzt und niemand für ihn da ist? Die Umstände waren auch alles andere als ideal. Mal nahm ihn die eine Erzieherin morgens in Empfang, mal eine andere, die er zuvor kaum gesehen hatte. Er schrie jedes Mal, und ich musste ihn in diesem Zustand zurücklassen.»
Eine Mutter über die Eingewöhnung ihres elf Monate alten Sohnes
«Häufig habe ich das Gefühl, dass bei der Eingewöhnung die Mütter das Problem sind. Die wissen oft nicht wirklich, was sie wollen. Einerseits wollen sie das Kind in die Krippe geben, andererseits haben sie Gewissensbisse oder sind sich einfach unsicher.
Das überträgt sich natürlich auf die Kinder. Kein Wunder, dass die dann schreien. Und mich macht das jedes Mal nervös, wenn die Kinder schreien – keine Ahnung warum, aber irgendwie ist mir das unangenehm. Mit den Vätern klappt die Eingewöhnung meistens viel besser. Die können besser loslassen und sind nicht so emotional.»
Eine Erzieherin zu der Frage, wie sie die Eingewöhnung in ihrer Krippe erlebt
Schon anhand dieser vier Beispiele können wir sehen, dass die Eingewöhnung ein hoch emotionales Thema ist. Interessant wäre nun auch die Frage, wie ein Kind das Eingewöhnen denn erleben und beschreiben würde. Ich habe einmal den Versuch gemacht, mir auszumalen, was ein zwölf Monate altes Kleinkind wohl erlebt, wenn es von seiner Mama, zu der es eine sichere Bindung hat, in einer Kindertagesstätte eingewöhnt wird.
Was könnte dieses Baby empfinden, wenn es bereits am ersten oder zweiten Tag des Kita-Besuches von seiner Mutter getrennt wird?
«Heute Morgen bin ich mit Mama in so einen großen Raum gegangen, da war wirklich was los. Ganz viele Kinder waren da, und es war laut und roch ganz anders als bei uns zu Hause. Da gab es auch ganz viele Spielsachen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte.
Zum Glück war ich auf Mamas Arm. Da ist es immer so schön warm und gemütlich, und ich fühle mich da immer so sicher.
Aber dann kam plötzlich eine komische Frau, die wollte mich von Mamas Arm nehmen. Das wollte ich aber gar nicht, die kenne ich doch nicht. Die Frau hat dann ganz viele Spielsachen geholt und mit mir gesprochen. Ich glaube, sie wollte mich von Mamas Arm locken. Aber ich bin bei Mama geblieben, obwohl ich gerne mit den bunten Holzklötzen gespielt hätte.
Dann hat die Frau zu meiner Mama gesagt sie solle mich nun ihr auf den Arm geben und kurz den Raum verlassen. Ich habe gespürt, dass meine Mama mich nicht der Frau geben wollte, aber die Frau wollte mich unbedingt halten. Da hat meine Mama mich der Frau in den Arm gedrückt und ist einfach gegangen.
Ich habe dann ganz laut geschrien, damit meine Mama wieder zurückkommt. Zum Glück hat sie mich gehört und ist wieder zurückgekommen. Danach habe ich mich wieder beruhigt und aufgehört zu weinen. Aber morgen möchte ich nicht mehr zu dieser komischen Frau. Ich bleibe lieber bei Mama, wo ich mich sicher fühle.»
Solche Empfindungen und Erlebnisse hat vielleicht ein Kleinkind, wenn es bereits am ersten oder zweiten Tag in einer Krippe von seiner Mutter getrennt wird.
Schauen wir uns einmal alle Beispiele genauer an, können wir sehr schnell ablesen, dass Bindung und Beziehung bei der Eingewöhnung im Kleinkindbereich eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Genauso wie Zeit, Geduld, Achtsamkeit, Ruhe und ganz viel Empathie und Fingerspitzengefühl. Werden diese Dinge missachtet und nicht in einen Eingewöhnungsprozess eingebettet, werden schnell Erfahrungen gemacht, wie wir sie eben in den Beispielen gesehen haben.
Was können wir also tun, damit solche Erlebnisse in Zukunft nicht mehr so häufig vorkommen und eine Eingewöhnung zu einer positiven Erfahrung für Eltern, Pädagogen und Kinder wird?
Ich werde Sie in diesem Buch auf eine kleine Reise mitnehmen. Sie lernen ein von mir entwickeltes, bindungsorientiertes Eingewöhnungskonzept kennen, das nach den Grundlagen der Waldorfpädagogik arbeitet.1 Wir werden einen kleinen Ausflug in die Bindungstheorie machen, um zu verstehen, was sie bedeutet und welche Rolle sie bei der Eingewöhnung spielt. Wir beleuchten die Rolle der Pädagogen und der Eltern bei der Eingewöhnung. Und wir wollen versuchen, uns vorzustellen, was eine Eingewöhnung wohl für ein Baby oder ein Kleinkind bedeutet.
Da ich im Folgenden die verschiedenen Aspekte der Eingewöhnung sowohl von der Rolle der Bezugserzieherin her betrachte – und hier vor allem die Erzieherinnen, aber auch die Tagesmütter anspreche – als auch aus Sicht der Eltern, den Hauptbezugspersonen des Kindes, und dabei besonders deren Fragen im Blick habe, schildere ich das Konzept der «sicheren Eingewöhnung» von zwei Blickwinkeln her. Es liegt in der Natur der Sache, dass es bei Aspekten, die für beide Lesergruppen relevant sind, zu einigen Wiederholungen kommt. Kapitel 3 wendet sich an Erzieherinnen und Tagesmütter, Kapitel 4 dagegen ist für Sie, liebe Mütter und Väter, geschrieben. Wenn Sie möchten, können Sie sich also, je nach Ihrer Rolle im Prozess der Eingewöhnung, hauptsächlich mit Kapitel 3 oder mit Kapitel 4 beschäftigen. Lesen Sie Kapitel 3 und Kapitel 4, dann werden Sie im Laufe der Lektüre auf bereits geschilderte Gesichtspunkte stoßen – was aber für ein festes Einprägen des Konzepts und seiner Grundlagen durchaus auch von Vorteil sein kann.
Wir begeben uns also gemeinsam auf den Weg, um am Ende des Buches so viel Wissen und Verständnis zu haben, dass wir sicher eingewöhnen können. Wir vereinen Kopf und Herz und geben der Theorie und unserem eigenen Bauchgefühl so viel Platz, wie notwendig ist, um ein ausgewogenes Gleichgewicht herzustellen.
Wir machen uns nun auf die Reise, um zu lernen, was «sicheres Eingewöhnen» heißt und wie es gelingen kann. Nur durch Ihre Hilfe und Ihr Mitwirken können wir dazu beitragen, die Qualität der Eingewöhnung für unsere Kinder in den Krippen zu verbessern.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, dieses Buch zu lesen und sich mit dem Thema zu beschäftigen!
*Die in diesem Buch verwendeten Beispiele dienen der Verdeutlichung und Veranschaulichung der Thematik sowie der Darstellung einer möglichen Umsetzung in der Praxis und stammen aus den Erfahrungen meines beruflichen Alltags. Alle beschriebenen Personen und Namen in den Beispielen sind frei erfunden.