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2.4 Genese des Christusglaubens

Die Wunder Jesu sind historisch nicht beweisbar. Die Evangelien sind keine Tatsachenberichte, sondern stellen die Bedeutung Jesu mithilfe authentischer Erinnerungen und passender sprachlicher Mittel heraus. Fakt und Fiktion sind nicht zu trennen. Klar erkennbar ist lediglich der Christusglaube der Evangelisten. Als dessen historisch plausible Grundlage sind freilich reale Erfahrungen und Begegnungen mit Jesus anzunehmen. Diese setzten nicht nur den den Christusglauben, sondern auch die Bildung christlicher Gemeinschaft und die Verschriftlichung der Jesuserinnerung in Gang.1 Anders gesagt: Der Wunderglaube ist die kausale Folge historisch plausibler Ursachen, die im Folgenden entfaltet werden.2

2.4.1 Das Charisma des erinnerten Jesus

Der Weg in die Jüngerschaft mit allen sozialen Konsequenzen setzt eine Erfahrung voraus, die so überzeugend, einschneidend und nachhaltig war, dass der neue Glaube selbst mit Jesu Tod nicht abriss, sondern weiterlebte und zu einer Weltreligion wurde. Diese Erfahrung hat mit dem überwältigenden Charisma Jesu zu tun.

a) Überzeugende Erstbegegnungen

Jesus, so die Texte, begeistert viele Menschen mit seiner basileía-Botschaft. Er transportiert eine essenzielle Hoffnung, ist authentisch, deckt seine Botschaft durch seine Persönlichkeit und seinen Lebensstil ab. Mitreißende Überzeugungskraft, überzeugende Vision, persönliche Integrität, wertschätzender, aber auch autoritativer Führungsstil, Konfliktbereitschaft, Durchsetzungskraft und konsequente Parteinahme für die ‚Verlorenen‘ zeichnen sein Charisma aus.

b) Eine faszinierende Vision

Jesu Vision gründet im Glauben an den Gott Israels, der sogar unumstößlich scheinende natürliche, soziale und religiös-moralische Ordnungen auf den Kopf stellen kann (Magnificat, Lk 1,46–55). Er wird in Kürze eine Herrschaft des Friedens und umfassender Gerechtigkeit aufrichten, so die Botschaft. Diese Ansage deckt Jesus durch seinen integren, authentischen Lebensstil und durch wunderhafte Zeichen ab. Jesus, so die Texte, ist absolut unbestechlich. Gesellschaftliches Renommée und politische Macht bedeuten ihm nichts. Stattdessen orientiert er sich konsequent am Ersten Gebot (vgl. Mt 4,1–11parr.: Versuchung Jesu).

c) Konsequente Lebenshingabe

Jesus verzichtet auf äußeren Ruhm und vitale Interessen wie finanzielle Sicherheit, ein Dach über dem Kopf und Partnerschaft. Er stellt sein Leben in den Dienst der Notleidenden und Randständigen, deren Not sein Erbarmen auslöst. Mit seinen Taten setzt Jesus Zeichen der eschatologischen Zuwendung Gottes. Vorbehalte gegenüber Sündern oder Nichtjuden sind ihm fremd, ebenso Berührungsängste gegenüber Kranken und Unreinen. Toragebote deutet er im Sinne des umfassenden Liebesgebots um. Für diese Haltung scheut Jesus keinen Konflikt (Streitgespräche Mk 2f. u.a.). Lediglich zum Krafttanken im Gebet zieht er sich zurück.1 Jesu Lebenshingabe findet ihren konsequenten Abschluss im Kreuzestod. Den Texten zufolge verzichtet er auf äußeren Widerstand, widersteht selbst der letzten Versuchung (Mt 27,39–44parr.) und bleibt bis zuletzt barmherzig und vergebungsbereit (Lk 22,51; 23,34.42f.). Selbst für den röm. Hauptmann unter dem Kreuz wird er dadurch glaubwürdig (Mk 15,39parr.).

d) Faszinierende, befreiende Lehre

Jesus transportiert seine Botschaft ansprechend, begeisternd, überzeugend und provokant. Seine Gleichnisse öffnen Fenster zur heilvoll-befreienden Wirklichkeit Gottes und stellen traditionelle Gottesbilder, Moralvorstellungen, Verhaltensmuster und soziale Zustände auf den Kopf.1 Damit werden Jesu Vision und Gottes befreiende Nähe schlaglichtartig konkret. Dazu passt Jesu Toraauslegung. Deren Fluchtpunkt ist das Wohl des Menschen, nicht die penible Einhaltung einzelner Paragraphen. Jesus agiert in Synagogen und im Tempel. Er zeigt sich im Schlagabtausch mit seinen Gegnern als bibelfester Schriftgelehrter. Die Gegner müssen sich ein ums andere Mal geschlagen geben (vgl. Mk 12,34b).

e) Staunen erregende (Wunder-)Taten

Staunenswerte Wundertaten sind eine weitere, historisch plausible Facette des Charismas Jesu. Die Texte stellen ihn als exklusiven Träger des Leben schaffenden Geistes Gottes (Mk 1,9–11parr.) bzw. als inkarnierten Schöpfungs-Logos Gottes dar (Joh 1,1–18), der Menschen heilt und sogar wiedererweckt, ihnen Überfluss schenkt und Naturmächte überwindet. Man durfte von Jesus Wunder erwarten und konnte sie, in welchem Umfang auch immer, auch real erleben.

2.4.2 Begegnungen mit dem Auferstandenen

Jesu Tod stürzte den Jüngerkreis in eine Krise. Der Kreuzestod passte weder zur messianischen Erwartung noch zur vorösterlichen Glaubensüberzeugung. Die Diskrepanz wurde erst durch den Osterglauben überwunden. Wissenschaftlich-rationale Erklärungen wie Beweis oder Widerlegung des leeren Grabes, Grabraub-Hypothese und projektive Massenhysterie können das Ostergeschehen nicht hinreichend erklären. Dessen Wahrheit liegt auf einer anderen Ebene, ist aber historisch plausibel erklärbar. Die entscheidende Erfahrung der Osterzeugen lautet: ‚Er ist wieder da!‘ Die Emmausgeschichte Lk 24,13–35 gestaltet sie narrativ aus. Die Trauer des Jüngerkreises wandelt sich in Freude: Jesus ist wieder da – mitten in der Trauergemeinschaft! Im Vollzug des Brotbrechens erfahren die Versammelten Jesu österliche Präsenz geradezu körperlich. Sie erkennen: Der Gekreuzigte ist auferstanden und: Der Auferstandene hat eine verwandelte Leiblichkeit, die ihn physikalische Grenzen überschreiten lässt. Für den Jüngerkreis ist Jesus ‚leibhaftig‘ erlebbar und dennoch unverfügbar (Lk 24,30f.; vgl. das noli me tangere von Joh 20,17). Der ungläubige Thomas darf sich von der physischen Identität des Auferstandenen überzeugen. Ein Glaube, der ohne solches Sehen auskommt, gilt als ungleich schwieriger und wird seliggepriesen (Joh 20,24–29).

Diese intensive Ostererfahrung zieht folgerichtig den Glauben an Jesu leibliche Auferstehung nach sich. Jesus ist zurück im Leben; deshalb muss sein Grab leer sein! Diese Argumentation stellt die rationale Beweisführung auf den Kopf: Nicht entscheidet das leere Grab über die Wahrheit des Osterglaubens, sondern umgekehrt begründet die historisch plausible Erfahrung der Osterzeugen den Osterglauben und die Rede vom leeren Grab!

2.4.3 Konsequenzen für den Wunderglauben

Die beschriebenen Begegnungen begründen den nachösterlichen Christus- und Wunderglauben. Dieser besteht im Kern aus folgenden Erkenntnissen:

a) Jesus war der Gottessohn!

Jesus erfüllte durch sein charismatisches Auftreten die messianischen Hoffnungen seiner Zeit, daher musste er der angekündigte davidische Messias sein! Jesus war, so die Erinnerung der Evangelien, Gott nah wie kein anderer, hatte göttliche Vollmacht, verkündigte authentisch den Gott Israels und dessen nahe basileía, brachte umfassende Hoffnung und starb einen für die Menschen heilbringenden Tod. Aus diesem wurde er von Gott erweckt und zu seiner Rechten erhöht.

b) Jesus hatte Schöpfervollmacht!

Als Gottes Sohn hatte Jesus göttliche Schöpfervollmacht. Seine Verkündigung war inspiriert und autorisiert; er war der einzig legitime Exeget Gottes (so Joh 1,18). Seine Toraauslegung und sein Umgang mit Menschen waren autoritativ und richtungsweisend. Die Schöpfervollmacht befähigte Jesus zu machtvollen Wunderzeichen. Sie zeigten punktuell Gottes Willen und Herrschaft, in ihnen manifestierte sich die Vision eines Lebens in Fülle. Die Historizität der Wundertaten kann nicht, muss aber auch nicht bewiesen werden. An ihnen hängt nicht die Glaubwürdigkeit des Ganzen, sondern umgekehrt gilt: Wer die Glaubenserfahrungen der ersten Jüngerinnen und Jünger teilen kann, der hält auch Wunder für möglich!

2.4.4 Fazit: Von Begegnungen zum Glauben

Der plausible historische Haftgrund für den nachösterlichen Christus- und Wunderglauben liegt in Begegnungen und Erfahrungen der Menschen mit dem umfassenden Charisma Jesu und mit seiner selbst nach Ostern noch leibhaftig spürbaren Präsenz.1 Die Erinnerungen der Evangelien vermitteln ein historisch kohärentes und glaubwürdiges Bild, auch wenn manche Details nachösterlicher Stilisierung geschuldet sein mögen.2 Ohne die Begegnungen mit Jesus und seinem Charisma, ohne die Erfahrung der Emmausjünger ist die christliche Glaubensgeschichte nicht schlüssig zu erklären. Ob man das in den Wundertexten Erzählte für historisch möglich hält oder nicht, entscheidet sich einzig und allein daran, ob man sich die Ersterfahrungen der Jüngerinnen und Jünger zueigen macht oder nicht. Welche Wunder historisch sind und welche nicht, ist letztlich unerheblich.

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