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3.1 Wunderdeutung bis zur Neuzeit

Das antike Deutungsspektrum zu Wundern und Wundertexten reicht von naiver Volksfrömmigkeit über rationale, mythische, allegorische Deutung, bis hin zu grundsätzlicher Skepsis, Spott, Unterscheidung zwischen adýnata und parádoxa sowie intellektueller Polemik. Die intellektuelle Wunderkritik spricht gegen die Annahme einer allgemeinen Wundergläubigkeit. Bernd Kollmann resümiert:

„Jenseits gezielter Reflexion über eine bestimmte naturgesetzliche Ordnung und deren Durchbrechung stellt ein Wunder im antiken Denken ein Aufsehen erregendes Geschehen dar, das außerhalb des Gewohnten liegt und Hinweischarakter auf eine höhere Macht hat.“1

3.1.1 Biblische und altkirchliche Deutung

Das biblische Wunderzeugnis setzt Gottes Allmacht und die seines Sohnes glaubend voraus; grundsätzliche Wunderkritik findet sich nicht. Die Reaktion der Betroffenen reicht von Erstaunen und Entsetzen bis hin zu ekstatischer Begeisterung und Lobpreis. Selbst Jesu Gegner stellen seine Wunderkraft nicht in Zweifel (Mk 3,22–27; vgl. Apg 4,7); stattdessen fragen sie nach der (göttlichen oder satanischen?) Herkunft seiner Wundervollmacht (Mt 12,22–30parr.).

Biblischer Wunderglaube und antike Wunderkritik hinterlassen ihre Spuren in der christlichen Wunderdeutung bis zur europäischen Aufklärung. Zur Verteidigung der christlichen Wahrheit und der biblischen Wundertexte verweist Justin der Märtyrer (ca. 100–165 n. Chr.) auf religionsgeschichtliche Analogien zwischen den Wundern Jesu und denen des Asklepios (Justin, Apologia I 22):

„Sagen wir endlich, er habe Lahme, Gichtbrüchige und von Geburt an Sieche gesund gemacht und Tote erweckt, so wird das dem gleich gehalten werden können, was von Asklepios erzählt wird.“

Johannes Chrysostomos (ca. 349–407 n. Chr.) äußert sich zu angeblichen Wundern seiner Epoche skeptisch; Wunder seien ausschließlich eine Erscheinung der christlichen Anfangszeit.1 Gregor von Nyssa (ca. 338–nach 394 n. Chr.) ist noch skeptischer: Wunderglaube sei ein Produkt mangelnder Kenntnis der Naturgesetze. Augustin von Hippo (354–430) sieht in den Wundern nicht notwendige Zeichen der Botschaft Gottes.2 Im Mittelalter gelten Wunder weithin als Beweise für Gottes Wirken in der Welt.3 Thomas von Aquin (1225–1275) argumentiert: Da Gott alleinige Wirkursache der Naturgesetze sei, könne er allein auch Wunder tun.4 Diese dienten der Bekräftigung der Wahrheit der Botschaft Christi; Gott als Wirkursache habe die Wunder an der Naturordnung vorbei gewirkt.5

Im Hochmittelalter lösen zahllose Wunderberichte im Kontext von Heiligen- und Reliquienverehrung Massenhysterien aus, die sich zu Wallfahrten verstetigen.6 Angesichts dieses Wildwuchses verstärkt sich die Wunderkritik. Johannes Gerson (1363–1429) plädiert für ein spirituelles Wunderverständnis; die biblischen Wunder seien in den kirchlichen Sakramenten bleibend aufgehoben. Gegenwärtigen Wunderphänomenen sei prinzipiell zu misstrauen; sie könnten auch satanischer Herkunft sein.7

Die rationale Wunderskepsis schlägt sich unterdessen in allegorischer Auslegung nieder. So steht etwa der blinde Bartimäus (Mk 10,46–52) sinnbildlich für das mit Blindheit geschlagene, unerlöste, heidnische Menschengeschlecht, das von Jesus zur Erkenntnis geführt wird (vgl. Mt 20,29–34).8 Grundlage allegorischer Deutung ist das metaphorische Verständnis von ‚Blindheit‘ im Sinne innerer Blindheit bzw. des Unglaubens. Die Blindenheilung steht für die Erleuchtung, die zum ‚Sehen‘, das heißt zum Glauben, führt.9

3.1.2 Wunder in der Reformationszeit

Martin Luther (1483–1546) wertet die Wunder als Wirkursache des Glaubens ab.1 Das größte Wunder sei Jesu rettendes Wort (WA 14,312). Wunder seien, in Weiterführung von Johannes Chrysostomos, ein frühchristliches Phänomen. Wunderhafte Heiligenlegenden stellt Luther nicht in Abrede, macht ihre Relevanz jedoch davon abhängig, ob sie den rechtfertigenden Glauben fördern oder nicht (WA 10/3,81; 14,379). Wunder, die gute Werke provozieren wollen, lehnt Luther als Blendwerke des Antichristen ab (WA 34/2,441; 45,262). – In nachreformatorischer Zeit ist die Wunderfrage ein kontroverstheologisches Thema.2

3.1.3 Fazit: Allegorisch-spirituelle Deutung

1600 Jahre Wunderauslegung zeigen ein ambivalentes Bild: Eine teils ausufernde Wunderfrömmigkeit steht einer großen Skepsis führender Theologen, was die historische Wahrheit der Wundertexte anbelangt, gegenüber. Die Skepsis zeigt sich an der allegorischen und spirituellen Auslegungstendenz1; die supranaturale Wunderdeutung erfuhr demnach reichlich skeptisch-rationalen Widerspruch.

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