Читать книгу Höhenangst - Kurt Flatz - Страница 3
PROLOG
ОглавлениеAn einem Sommertag Anfang August erreichte kurz nach Mittag eine androgyn anmutende Gestalt völlig erschöpft den trostlosen Gebäudekomplex der malerischen Stadt Krems. Weit weniger malerisch freilich der zweifelhafte Ruf eines ihrer bekanntesten Stadtteile. Selbiger erlangte in der öffentlichen Wahrnehmung traurige Berühmtheit, die er jenem berüchtigten Gemäuer verdankte, welchem die Gestalt wohl oder übel einen Besuch abzustatten hatte. Obwohl sich die zierliche Person weiblichen Geschlechts aufgrund ihrer Übermüdung nach absoluter Stille sehnte, hätte sie gerne die nahe gelegene Wachau samt gleichnamigen Stift oder das seitens eines namhaften Architektenteams – befreundete Landsleute von ihr – errichtete Kulturzentrum mit den unterirdisch verbundenen Museen erkundet. Aber sie konnte weder für den ersehnten Schlaf noch derlei Vergnügungen an schönen Donauauen Zeit erübrigen, denn es harrte eine wenig erfreuliche Angelegenheit ihrer Erledigung!
Nachdem sie die obligatorische „Sicherheitsschleuse“ passiert hatte, sowie das aufwändige Procedere zum Erhalt der zwingend benötigten „Sprecherlaubnis“ mitsamt Stempel und Ausweiskontrolle hinter sich brachte, bewegte sich dieselbe zielstrebig hocherhobenen Haupt auf ihr eigentliches Ziel – einer abgesicherten Metalltüre hinter dickem Panzerglas – zu. Sowohl das Sicherheitspersonal am Hauptportal, als auch die Vertragsbedienstete in der tristen Anstaltsdirektion blickten der ungewöhnlich eleganten Erscheinung von einiger Bekanntheit mit unverhohlener Neugierde nach. Die umwerfend schöne Fremde mit der beängstigend ernsten Ausstrahlung – welche in dem Gebäude jeder zu kennen glaubte – vermeinte, deren neidvoll bewundernden Blicke förmlich im Rücken zu spüren und erhöhte merklich das Tempo ihrer leichtfüßigen Schritte. Sie bewegte sich in anschmiegsamen „Mokassins“ aus weichem Schaftleder nahezu lautlos durch die mittels Neonröhren grell ausgeleuchteten Gänge des grauen Gebäudes, die eine deprimierende Wirkung entfalteten und sie bei jedem Besuch erneut traurig werden ließ. Man konnte ihrer Haltung und dem Gesichtsausdruck entnehmen, wie schwer ihr der anstehende Besuch fiel und wie oft sie selbigen schon hinter sich gebracht hatte. Während sie sich der durchsichtigen Trennwand näherte, griff sie mit ihren feingliedrigen Fingern zitternd in den an schmalen Schultern baumelnden cognacfarbenen Rucksack aus hochwertigen Materialien und entnahm ihm hastig eine Besuchserlaubnis, datiert auf den 2. August 2018:
„Soll ich es ihm heute sagen, ihn endlich vor vollendete Tatsachen stellen?“, fragte sie sich und machte dabei einen angespannten Eindruck, ganz so als sei sie auf der Hut. Man konnte ihrer Miene – einem Gemengelage aus Blasiertheit und Scham – entnehmen, wie entwürdigend sie diesen Umstand empfand. Sie musste ihre persönlichen Sachen bis hin zum sündhaft teuren Ohrgehänge in einem schlichten Spind deponieren und den Schlüssel während ihrer Aufenthaltsdauer notgedrungen fremden Menschen aushändigen. Je näher sie der Sicherheitszone kam, umso mehr hellten sich die strengen Gesichtszüge hinter dem leicht gebräunten Teint auf. Sie trug so gut wie kein Make-up, was ihrem Gesichtsausdruck zwangsläufig eine kritische Distanz verlieh. Ein angedeutetes Lächeln erschien auf ihrem dünnlippigen Mund, welchen ein farbloser „Lipgloss“ als einzige Kosmetika zierte. Die verschwommenen Gedanken unter ihren aschblonden Haaren arbeiteten angestrengt, der Zwiespalt löste sich allmählich auf und die Gedanken wurden klarer:
„Alles Unsinn“, sagte sie sich, „es besteht kein Grund verbittert und verzagt zu sein! Alles nur menschliche Schwäche“ und ihre Mundwinkel umspielte ein sarkastisches Lächeln. Als sie entschlossen den Knopf der Gegensprechanlage drückte, heiterte sich das edle Antlitz endgültig auf. Eine krächzende Stimme meldete sich undeutlich auf der anderen Seite und die Glastür glitt geräuschlos zur Seite. Kurze Zeit später vernahm sie vom durchsichtigen Zwischenraum aus schwere Schritte sowie einen ins Schloss gleitenden Schlüssel. Die dickwandige Metalltüre öffnete sich und ihr Blick erfasste die Besucherräume mit mehreren halboffenen oder angelehnten Türen. Von den zahlreichen Besuchen wusste sie das hinter jeder einzelnen Tür eine karge Einrichtung – bestehend aus einem Tisch, mehreren Stühlen, vor allem aber vergitterte Fenster – auf sie wartete. Als sich beim Betreten des Ganges der Blick ihrer blauen Augen mit jenen des Uniformierten kreuzte, der ihr eilfertig die massive Türe öffnete, erntete das Geschöpf von zierlicher Statur und respekteinflößender Aura vom gut aussehenden Wärter ein wohlwollendes Lächeln. Die an sich harmlose Geste schien ihr nach all den Strapazen ihres moralischen Dilemmas zu bekommen und sie lächelte zurück. Erschrocken musste die noble Erscheinung bei dieser Gelegenheit feststellen, wie rasch selbst tief gehende Lieben dem Vergessen anheimfallen können.