Читать книгу Höhenangst - Kurt Flatz - Страница 5
Körperliche und seelische Qualen
ОглавлениеDie kleine Lake zu seinen Füßen vergrößerte sich rasch. Sie rührte von Schweißperlen die von der Stirn in einem kleinen Rinnsal über die Wangen zu Boden tropften. Während Darius den fast mannshohen Sandsack, der an einem dicken Stahlseil von der Decke baumelte mit seinen an Hand- und Fingerknöcheln gepolsterten Fäustlingen bearbeitete, spürte er die Blicke seiner Vereinskollegen auf sich ruhen. Wenngleich an diese unverhohlenen Blicke, seit er vor einem Jahrzehnt mit dem Sport begonnen hatte, mittlerweile gewohnt, genoss er diese doch immer wieder. Bestätigten sie ihm doch ungeachtet nagender Zweifel und den zwangsläufig mit dieser harten Sportart verbundenen Schindereien die Richtigkeit seines schweißtreibenden Tuns. Aber da vernahm er die energischen Zurufe des Bundestrainers.
„Nicht einschlafen mein Freund! Tempo, Tempo, nur noch halbe Minute! Gib Gas, du musst jetzt alles und noch mehr aus deinem Körper rausholen! Wir bereiten uns hier nicht auf Schönheitswettbewerb, sondern auf größtes Turnier auf europäischen Boden vor. Du willst doch deinen großen Traum erfüllen und so wird das nichts!“ Der junge Athlet spürte einen Anflug von Gereiztheit: Kommandos jeglicher Art, insbesondere überflüssige Kommentare wie diese, waren ihm grundsätzlich zuwider. Gleichzeitig war ihm aber bewusst, dass der Trainer – mit dem Diplom der Moskauer Sporthochschule und einem Europameistertitel ausgestattet – lediglich der ihm vom Verband auferlegten Pflicht nachzukommen hatte.
Wie alle Sportpädagogen dieser Welt nahm auch der seine Aufgabe außerordentlich ernst und forderte seinen Schützlingen alles was dieselben zu leisten imstande waren, ab. Und das war in seinem Fall nicht wenig. Ungeachtet seines im Steigen begriffenen Widerwillens benötigte er Anfeuerungen dieser Art, da nur dieselben ihn in die Lage versetzten, seinen Leistungsplafond immer weiter nach oben zu schrauben. Ihm war bewusst, dass angesichts der kommenden Aufgaben eine Steigerung seiner Leistung unumgänglich war, wollte er seine hoch gesteckten Ziele wirklich erreichen. Obwohl auch Edy, sein Trainervater, ihn im heimischen Stammverein des Öfteren in derselben rüden Weise antrieb, er mit dieser Art der Motivation bestens vertraut war, so konnte er sich nach all den Jahren nie wirklich an die in diesem Metier vorherrschenden Umgangsformen gewöhnen. Im Bewusstsein dieser Notwendigkeit erhöhte er das ohnehin schon atemberaubende Tempo seiner Schlagserien noch einmal spürbar. Für seine Trainingspartner waren die knallenden Aufschlaggeräusche der Einzelschläge kaum mehr voneinander zu unterscheiden und schien dieses Stakkato, welches sich mit dem pfeifenden Atem des blutjungen Boxers vermischte, in eine einzige Melodie höchster körperlicher Anstrengung überzugehen. Die für unbeteiligte Beobachter furchterregende Geräuschkulisse hinterließ aber auch bei den übrigen Sportlern gehörigen Eindruck und erhöhte den Respekt vor dem anstehenden Sparring, welches den Abschluss in der Halle bildete, merklich. Dies war dem fanatischen Georgier immer noch nicht genug. Er hatte sich unmittelbar neben ihm aufgepflanzt um ihn im radebrechenden Deutsch erneut anzufeuern, dabei dem jugendlichen Sportler beinahe ins Ohr schreiend.
„Härter, musst viel mehr Schulterpartie mitnehmen, aus der schlagen, wenn du Schlagkraft erhöhen willst. Vor allem: Hüfte mehr eindrehen!“ Gerade in diesem Moment beendete der neben Darius aufgestellte Wecker mit schrillen Tönen die Übung was es ihm ermöglichte dem Schinder in Diensten des österreichischen Boxverbandes noch völlig außer Atem zu erwidern.
„Bin ja Gott sei Dank Amateur und kein Profi, bei dem es mehr auf Schlagkraft, denn auf Technik ankommt. Ich jedenfalls bevorzuge eine höhere Schlagzahl um zu punkten“ fügte er trotzig hinzu. Sofort replizierte der Diplomierte unwirsch. „Wirst aber beides brauchen, wenn Du auf der Ebene bestehen willst. Du weißt: es ist Profis noch nicht erlaubt bei Olympia anzutreten, was aber nicht ewig bleiben muss. Müsste Dir vom Tennis her bekannt sein. Aber du musst hier arbeiten und nicht klugscheißen, dass schließlich meine Aufgabe ist und auch bleiben wird! Solange du redest kannst du nicht zuhören und wenn du nicht zuhörst kannst Du nichts lernen. Willst doch sicher nicht, dass ich Dich mit einem entsprechenden Bericht versehen nach Hause schicke?“ fügte der „Söldner“ noch mit drohendem Unterton an, was Darius mit eisigem Schweigen und kalter Wut in den Augen quittierte. Aufgrund des ihm zugeschriebenen Ausnahmetalents galt er in diesem kleinen Land, welches aufgrund seiner beschränkten Möglichkeiten bei den Sommerspielen seit geraumer Zeit kein olympisches Edelmetall mehr erringen konnte, als die große nationale Medaillenhoffnung. Deshalb war der Druck auf ihn entsprechend hoch. Beruhigend jedoch, dass es in dieser bedeutenden Sportart auch für die anderen zentraleuropäischen Staaten – wie auch dem benachbarten großen Bruder – nichts zu holen gab. Warum Österreich zu Deutschland in einem so unsinnigen Konkurrenzverhältnis stand war für den Jungsportler in keiner Weise nachvollziehbar. Unerklärlich deshalb, da die Nachbarn in den jeweiligen Nationalsportarten wie Fußball und Schilauf dem Anderen haushoch überlegen waren. Benötigt der Fußball- oder Skisport etwa mehr Einsatz denn Talent als Boxen oder die Leichtathletik? Die Animositäten waren wohl aus der gemeinsamen Historie erklärbar, was sich ihm und seinen Kameraden nicht erschloss. Olympisches Boxen wird in erdrückender Weise von den osteuropäischen Staaten, den USA, im besonderen Maße den Kubanern beherrscht, welche regelmäßig die Verteilung der Edelmetalle unter sich auszumachen pflegten. Dies war dem jeweiligen Gesellschaftssystem und dem hohen Lebensstandart westlicher Staaten geschuldet. In Mitteleuropa waren kaum Jugendliche für eine derart zeitraubende und trainingsintensive Sportart zu gewinnen. Zudem der auch nicht das beste Image in der Öffentlichkeit genoss. Auch Darius bekam all dies aus seinem engsten Umfeld zu spüren und er wurde von der Schinderei oft bis an die Grenzen der körperlichen und mentalen Belastbarkeit, manchmal sogar darüber hinaus getrieben. Der permanente Leistungsgedanke - welche diese Sportart beherrschte – verlangte den Sportlern ein ungeheures Maß an Askese und Disziplin ab, deren Überwindung immer wieder erhebliche Energie abverlangte. Dafür entschädigte die Vielseitigkeit des Trainings sowie der Facettenreichtum der Bewegungsabläufe für all die Mühsal. Selbige schienen geradezu auf seinen regen Bewegungsdrang zugeschnitten. Er liebte diese komplizierten Schritt- und Schlagfolgen, denen eine unbeschreibliche Ästhetik innewohnte und die zu erkennen nur jener in der Lage war, der ein hohes Maß an technischem Niveau erreicht hatte. Diese Erkenntnis traf allerdings nur in seltensten Fällen zu. Aber er zählte trotz seines geringen Alters zweifellos zu den hierfür Auserwählten und war ihm dieser Umstand bewusst. Seine körperlichen Voraussetzungen waren geradezu ideal für diesen Sport, betrug doch sein derzeitiges Trainingsgewicht bei einer Körpergröße von einem Meter achtundsiebzig trotz bereits ausgebildeter Muskulatur und ausladender Schulterpartie lediglich 68 kg. Da er aber, um seine Siegesschance bei größeren Turnieren zu wahren, im Halbweltergewicht – der Gewichtsklasse bis 63 kg – antrat, hatte er vor jedem sportlich wertvollen Turnier „Gewicht zu machen“, was in seinem Fall bedeutete fünf Kilo an Körpergewicht zu verlieren. Dieser Gewichtsverlust bedeutet jedoch für Akteure auf diesem Niveau nichts Ungewöhnliches, sondern stellt für olympische Athleten alltägliche Normalität dar. Bezeichnenderweise wird das Procedere in Kampfsportkreisen auch als „abkochen“ tituliert. Die für Außenstehende eigenartige Begriffsbestimmung rührt daher, da Sportler von seinem Schlage ohnehin so gut wie keinen Eigenfettanteil besitzen und anstatt Fett zu verbrennen, denselben Anteil an Wasser verlieren. Im Falle des jungen Athleten betrug der Anteil zu diesem Zeitpunkt zwölf Prozent. Die vertretbare Untergrenze bei lag acht. Darunter waren zu große Leistungseinbußen, vielleicht gar irreparable Entwicklungsschäden zu befürchten. Fünf Liter werden in diesen Kreisen jedoch als nicht sonderlich dramatisch angesehen. Der Großteil der Konkurrenten des Ausnahmetalents hatte vor großen internationalen Turnieren bis zu neun Kilo abzukochen, da sie aufgrund fehlender Reichweite ansonsten keine Möglichkeit besaßen in Schlagdistanz ihres Gegners und somit zu zählbaren Treffern zu gelangen. Diese waren außerdem im Schnitt um drei bis vier Jahre älter als er, dessen biologisches nicht seinem kalendarischen Alter entsprach. Die Entwicklung war bei ihm eben um diese Zeitspanne fortgeschritten. Wiederum vorteilhaft sein höheres Trainingsalter. Da er bereits mit 4 Jahren begonnen hatte, betrug es respektable zwölf Jahre, was einen ausgleichenden Faktor für sein eigentlich zu geringes Kalendarisches darstellte. Sollte er die Qualifikation tatsächlich schaffen, wäre er einer der jüngsten Starter in der Geschichte des olympischen Boxens. Auch besaß Darius körperliche Vorzüge anderer Art, wie beispielsweise einen außerordentlich beweglichen Oberkörper, der ihn durch geschicktes Auspendeln in die Lage versetzte, den Luftraum zwischen sich und dem Gegner blitzartig zu überbrücken. In der Halb- und Nahdistanz brachte er dann mit schwindelerregender Schnelligkeit seine ausgeklügelten Schlagkombinationen an und verließ anschließend das „Hoheitsgebiet“ des Gegners bevor dieser wirkungsvoll reagieren konnte. Zudem besaß er im Verhältnis zur Körpergröße ungewöhnlich lange Arme, welche seinen Aktionsradius erhöhten. Deshalb konnte er sich eine maßvolle Gewichtsreduktion erlauben. Um diesen „Luxus“ wurde der solcherart Privilegierte von seinen Mitbewerbern beneidet. Für jeden Kampfsportler – wie Ringer und Boxer – stellen die Gewichtsverluste immer wieder die mit Abstand grausamste Tortur ihres Sportlerdaseins dar. Die unsinnigen Auswüchse sind vermeintlichen Wettbewerbsvorteilen geschuldet und sind – ähnlich dem Doping – vielen olympischen Sportarten gemein. Diese werden von allen Akteuren als systemimmanentes Übel billigend in Kauf genommen. Die Spirale dreht sich dabei unaufhörlich nach oben. Die unmenschliche Schinderei gilt es für alle im Kampfsportbereich tätige Athleten vor ihrem eigentlichen Antreten regelmäßig zu bewältigen, was ihnen eine Menge an Kraft abverlangt. Kraft und Energie, die ihnen in der Folge bei den zahlreich zu absolvierenden Ausscheidungskämpfen fehlt, da die zwischen den Turnieren liegende Regenerationsphase zu kurz bemessen ist. Darius besaß das Glück dieses Procedere lediglich drei bis vier Male im Jahr über sich ergehen lassen zu müssen. Bei den übrigen Kämpfen konnte er auch eine, bei nationalen Titelkämpfen gar zwei Gewichtsklassen darüber antreten und trotzdem die schwereren Athleten nach Belieben beherrschen. Diese Überlegenheit relativierte sich allerdings außerhalb Mitteleuropas. Wenn er auf die Aushängeschilder der maßgeblichen Kampfsportnationen traf, begegnete er diesen bestenfalls auf Augenhöhe. Dies hatte er bei seiner bislang einzigen Teilnahme an einem Turnier mit Weltklassebesetzung leidvoll erfahren müssen. Beim anstehenden Turnier traf er wieder auf die „Besten der Besten“, wie ihm sein Trainer einzubläuen versuchte. Trotz seiner knappen Punktniederlage erhob ihn die Zugehörigkeit zu diesem elitären Kreis an perfekt ausgebildeten Kämpfern weit über die meisten anderen Amateurboxer der westlichen Staaten. Sie ermöglichte ihm theoretisch sogar ungeachtet seines eigentlich zu geringen Alters eine Olympiateilnahme. Bei den „Westboxern“ handelte es sich überwiegend um leidlich talentierte Straßenschläger mit in jeder Hinsicht äußerst limitierten Fähigkeiten. Ihre „Kampfeskünste“ wurde von windigen Veranstaltern zumeist vor einem sensationslüsternen Publikum in veralteten Sporthallen und zugigen Festzelten für ein Trinkgeld dargeboten. Bei diesen „Kirmeskämpfen“ stieg er vor grölenden Dilettanten, eingehüllt im Duft fettiger Bratwürste, abgestandenem Bier und Rauchschwaden engagiert in den Ring. Angesichts des primitiven Umfeldes verspürte er, dass sein vorhandenes Potential noch lange nicht ausgeschöpft war. Dies auszuschöpfen war Aufgabe des georgischen „Tieres“ samt Anhang. Aber wie in vielen Fällen überreichlich vorhandenen Talents so neigte auch der aufstrebende Sportler zu einer gewissen Nachlässigkeit. Diese Disziplinlosigkeit wurde vom Trainerstab sofort registriert, was nicht selten zu negativen Gefühlsausbrüchen ihrerseits führte. Die Reaktion des Pubertierenden auf den erfolgten Tadel war die denkbar schlechteste: Er ignorierte einfach die Wutanfälle seiner Betreuer. Das schlechte Gewissen im Außenverhältnis permanent mit Ignoranz zu kaschieren wurde ihm jedoch von jenen als Arroganz ausgelegt, was er als Ungerechtigkeit empfand, denn er versuchte immer das Beste zu geben. Seine in ihren Augen abgehobene Art wurde von denselben – gleich vielen Leistungsträgern hierarchischen Denkstrukturen – keineswegs akzeptiert, was nicht selten zu Unstimmigkeiten zwischen Betreuer und ihrem Schützling führte. Lediglich sein Entdecker und Trainer schien ihn zu verstehen und duldete sein Verhalten bis zu einem gewissen Grad, da ihn mit Darius ein besonders inniges Band der Hochachtung, ja gegenseitigen Zuneigung verband. Diese Grundregel und das war auch Darius klar, durfte bei Edy – wie er Eduard liebevoll nannte – keinesfalls überschritten werden. Dessen Maxime befolgte er in aller Regel beinahe sklavisch, sie von Edy, seinem Vaterersatz geradezu erwartet wurde und umgekehrt auch von ihm erwarten durfte. Aber er befand sich hier auf einem Trainingslager des Verbandes und nicht zu Hause im Verein. Diese duldeten keinerlei Eskapaden eines in ihren Augen noch nicht mal sechzehnjährigen Bürschchens, mochte er noch so talentiert sein. Nach deren einfach gestricktem Naturell war auch ihr Denkmuster zumeist eindimensional, ausschließlich auf Erfolg ausgelegt und widersprach sein aufmüpfiges Verhalten ihren schlichten Vorstellungen. Bei Alphatieren ihres Zuschnitts genossen Primärtugenden wie Disziplin und Gehorsam absolute Priorität. Weiterführende Gedanken ihrer Schützlinge waren keinesfalls erwünscht, was bei Darius häufig heftigen Widerwillen auslöste. Dies ließ er sie in seiner direkten Art durch passiven Widerstand spüren. Er führte ihnen ihre eigenen Grenzen öfter als ihnen lieb war durch sein hervorragendes Können im Ring vor Augen. Nachdem die Arbeit am Sandsack und im improvisierten Ring absolviert war, atmete Darius erleichtert auf. Für heute war das Training in geschlossenen Räumen, in denen es intensiv nach einer Mischung aus Schweiß und Chemikalien roch, beendet. Die Tage im Olympiastützpunkt waren in verschiedene Trainingseinheiten strukturiert: Sie begannen bereits nach dem Frühstück um neun Uhr in der Früh und umfassten insgesamt drei Einheiten zu jeweils einer Stunde. Zwischen den einzelnen Einheiten betrugen die Pausen jeweils zehn Minuten, die jeder individuell zur Regeneration nutzte, meist aber aus Fußballspielen improvisierter Mannschaften bestand. Der Auftakt bildete dabei permanentes Laufen im Kreise, welches immer wieder von kurzen Zwischensprints sowie in den Lauf integrierter Übungen wie Rumpfbeugen, Armkreisen und dergleichen unterbrochen wurde. Dieses Aufwärmen war dem strukturellen Aufbau folgend überwiegend der Ausdauer und Schnellkraft geschuldet. Nach der zweiten Einheit, dem sogenannten Zirkeltraining in denen Liegestütze, Training mit Kurz- und Langhantel, Medizinball und Sit-ups – im Wesentlichen dem Aufbau der Muskulatur dienlicher Übungen – ging es zum Mittagessen in die Gemeinschaftskantine. Beim Essen trafen die Vertreter verschiedenster Sportarten, aktuell Boxer, Kunstturner und Gewichtheber aufeinander, was für alle eine willkommene Abwechslung im oft eintönigen Trainingsbetrieb darstellte. Der Umstand, dass sich unter den Kunstturnern auch einige Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts befanden, verlieh den Zusammenkünften der jugendlichen Teilnehmer eine besondere Würze. Besonders für Darius, da dieselben ihn mit ihren zierlichen Gestalten und grazilen Bewegungen stets an seinen heimlichen Schwarm in der Schule erinnerten. Aufgrund unüberbrückbarer gesellschaftlicher Differenzen würde die junge Dame lediglich für ihn ein unerreichbares Traumbild im Kopf bleiben. Aber selbst die ihr zugrundeliegenden Träumereien verliehen dem jungen Faustkämpfer ungeahnte Motivationsschübe, welche ihn die unmenschlichen Strapazen seines Sportes besser zu überstehen halfen. Nach der mittäglichen Ruhephase, die exakt zwei Stunden dauerte, begann der Nachmittag mit den technischen Disziplinen an diversen Geräten. Die bestanden aus der schweißtreibenden Arbeit an Sandsäcken verschiedener Größen, Boxbirne, Beinarbeit mit und ohne Springseil, Schattenboxen vor dem Spiegel und der sogenannten „Pratzenarbeit“ mit einem speziell ausgebildeten Techniktrainer. Bei der wurde den Sportlern mannigfaltige Schlagtechniken beigebracht, welche mit kontinuierlich wachsender Intensität und Geschwindigkeit auszuführen waren. Durch den Zeitfaktor konnte aber die seitens der Trainer eingeforderte Perfektion von den Boxern naturgemäß nie auch nur annähernd erreichen werden, was Darius einen zusätzlichen Anreiz bot. Überdies wurden die einzelnen Intervalle einem stetigen Wechsel unterworfen, sodass sich die Athleten unter Belastung immer wieder unterschiedlichen Gegebenheiten anzupassen hatten. Den Abschluss in der Halle bildete die Königsdisziplin im Trainingsplan jedes Boxers, das von allen gefürchtete Sparring, welches in seinem Falle sechs mal drei Minuten mit sich wechselnden Partnern bedeutete. Zwischen den einzelnen Runden wurde exakt eine Minute pausiert, die er anstatt im Sitzen tänzelnd im Stehen absolvierte. Im Gegensatz zu den meisten seiner Leidenskollegen wurde die Simulation eines realen Kampfes von ihm geschätzt, konnte er dabei doch seine drückende Überlegenheit in kämpferischer Hinsicht gefahrlos ausspielen. Er genoss es bei dieser Gelegenheit seine ihn kritisierenden Betreuer Lügen zu strafen, stellte das Sparren doch die Kerndisziplin seines Sports dar. Im Gegensatz zu ihm waren seine drei Sparringspartner, obwohl diese sich nach jeder Runde abwechselten, in der Regel nach absolvierten zwei Runden erschöpft. Seine technischen Qualitäten, denen sie in der Regel nichts annähernd Adäquates entgegenzusetzen hatten, ließ sie sprachlos zurück. Nachdem der „Überflieger“ seine drei Partner wieder einmal mehr „verschlissen“ hatte, war für ihn die Mühsal des heutigen Trainings vorüber. Jetzt begann die eigentliche Belohnung, die er nicht nur deshalb genoss, da sie gleichzeitig das Ende der Qualen bedeutete. Im Rahmen des abschließenden „Regenerationstrainings“ galt es für ihn einen rund sieben Kilometer langen Lauf in der freien Natur zu absolvieren, auf welchen er sich schon freute, weil der es erlaubte, sich in der freien Natur und nicht in der stickigen Halle zu bewegen. Er sah diese lockeren Lauf mehr als Erholung denn als Anstrengung, da ihm dieser den in der Sporthalle vermissten Freiraum einräumte nebenbei seinen Tagträumen nachzuhängen. Als Darius ins Freie trat atmete er gierig die frische Luft des kühlen Spätherbsttages ein, welche in dieser Höhenlage schon spürbar dünner als im Flachland war. Auch liebte er es, wie sich sein Bewegungsapparat locker und ohne jede Anstrengung in Bewegung setzte und in einen flotten Trab überging. Ein angenehmer Wind fuhr ihm durch die Haare und die Aussicht auf den Saunagang erfreute gleichermaßen sein Gemüt. Eine kleine Einschränkung bei diesem war allerdings, dass er den Gang nicht wie andere im Adamskostüm, sondern in einem luftundurchlässigen Schwitzanzug zu absolvieren hatte. Zurückzuführen auf das alles entscheidende Qualifikationsturnier in Halle an der Saale, bis zu dem es noch fünf Kilo abzukochen galt. Nur im Halbweltergewicht konnte er beim „Chemie Pokal“ antreten, wollte er seine reelle Chance auf olympische Teilhabe wahren. In den darüber liegenden Gewichtsklassen war es ihm aufgrund der physischen Stärke der dort antretenden Sportler noch verwehrt auf dem anstehenden Wettkampf zu reüssieren. Bis dahin waren es jedoch noch über zwei Monate, sodass die anstehende Gewichtsreduzierung relativ leicht zu bewerkstelligen war. Auch während seines Laufes wurde er von den wenigen Hobbyläufern, welche bei den kühlen Temperaturen sowie der einbrechenden Dunkelheit noch unterwegs waren, mit bewundernden Blicken bedacht, wie er mit einiger Genugtuung registrierte. Sein anmutiger Laufstil glich im lockeren Trab dem einer Gazelle, derselbe jedoch bei den kurzen Zwischensprints, die er einlegte, blitzschnell in jenen einer Raubkatze überging, bei denen sich Sehnen und Muskeln trotz der sie verhüllenden Stoffbahnen sichtbar an- und entspannten. Unterstrichen wurde diese animalisch kraftvolle Anmutung noch durch die auffällige Beschriftung auf seinem Lauftrikot, welche ihn als Angehöriger des Olympiateams auswies und bei den ihm begegnenden Freizeitsportlern durch die fünf verschlungenen Ringe mächtigen Eindruck hinterließ. Die Ehrfurcht erzeugende Sportbekleidung zu tragen erfüllte ihn mit Stolz und war dem Sponsoring diverser Geldgeber, wie der „Sporthilfe“, den „österreichischen Lotterien“, in erster Linie jedoch dem olympischen Komitee, welches die Aufwendungen zu tragen hatte, geschuldet. Die Firmen und Institutionen erwarteten seine Qualifikation, denn nur dann generierte ihre finanzielle Unterstützung einen Mehrwert für jene, welcher ihr Investment rechtfertigte. Da ihm der Waldlauf aufgrund seiner Konstitution relativ wenig abverlangte, hatte er genügend Zeit die herrliche Berglandschaft durch die er sich bewegte, zu betrachten. Er ergötzte sich unter gleichmäßig ruhigen Atemstößen an den herbstlich eingefärbten Blättern der Bäume, dem kristallin glitzernden Bergsee sowie den frisch gemähten Bergwiesen, welche sich auf den kommenden Winter einstellten. Ein beinahe so anmutiger Anblick wie Fräulein Blum aus der Schule, sinnierte er verträumt. Der Untergrund auf dem er sich bewegte bestand aus feuchtem Humus, war sehr weich und vermischte sich dessen erdiger Duft mit dem harzigen Atem, den die Tannen verströmten. Ob sich Fräulein Blum ebenso weich anfühlt und wie sie wohl duften mag, assoziierte er weiter. Während des Laufes lauschte er über seinen neuartigen „Walkmann“ Musik der Band „Velved Underground“ mit dem charismatischen Lou Reed, dessen Hymne „Walk on the wide side“ er aufgrund ihres psychedelisch anmutenden Charakters liebte. Nachdem er nach seinem Empfinden viel zu schnell wieder den Olympiastützpunkt erreicht hatte, begab er sich sofort zur Blutabnahme in die sportmedizinische Abteilung, wo ihn der Arzt bereits erwartete. Der Sportmediziner wunderte sich immer wieder, wie wenig die absolvierten Trainingseinheiten, die auch für die Begriffe eines erfahrenen Wissenschaftlers doch sehr umfangreich und anstrengend waren, dem Probanden körperlich und mental abverlangten. Er gab die entsprechenden Daten in seine Datenbank ein. Vergleichbare Werte hatte selbst seine umfangreiche Datenbank aus allen möglichen Sportarten – selbst jene der Schifahrer – nicht annähernd aufzuweisen. Dieser Jugendliche war angesichts vorliegender Parameter bei normalem Verlauf seiner Karriere von Nichts und Niemanden aufzuhalten, dachte er sich kopfschüttelnd. Als Darius den Wellnessbereich betrat nahm er den lieblichen Duft von Rosmarin wahr. Ein untrügliches Zeichen, dass die weibliche Turnriege hier sauniert hatte, da die Männer den herben Geruch von Eukalyptusöl bevorzugten. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, war sich der Wirkung des vor kurzem stattgefundenen Aufgusses nicht im Klaren. Einerseits war ihm der Duft zu süßlich, andererseits erleichterte ihm derselbe die damit verbundenen Assoziationen samt den aufregend prickelnden Gefühlen. Rasch zog er die verschwitzte Laufbekleidung aus, duschte kurz kalt und streifte sich den unangenehm riechenden, aus spezieller Kunstfaser hergestellten Saunaanzug über, der absolut luftdichte Eigenschaften besaß. Mit gemischten Gefühlen betrat er die heimelig anmutende Kabine, die aufgrund ihrer diffusen Lichtverhältnisse eine beruhigende Ausstrahlung auf ihn hatte. Der junge Mann genoss die Saunabesuche auch deshalb, da sie ihm aufgrund seines straff organisierten Zeitplanes eine der wenigen Möglichkeiten boten sich passiv zu entspannen. In dieser Stunde konnte er den abgelaufenen Tag Revue passieren lassen und den beim Lauf begonnenen Tagträumen nachhängen. Diese drängten sich ihm angesichts der in der Luft hängenden Duftwolke geradezu auf. Und diese trugen einen weiblichen Vornamen: Bei der Schule, die er besuchte handelte es sich um das einzige Sportgymnasium des kleinen österreichischen Bundeslandes in der sämtliche Sporttalente des „Ländles“ – wie von den Einwohnern oft verniedlichend bezeichnet – zusammengezogen waren. Diese bot seinen Absolventen bei entsprechend geistigen Voraussetzungen die Möglichkeit neben der von ihnen ausgeübten Sportart zusätzlich die Universitätsreife zu erlangen. Die Klassen waren gemischt, wobei sich der Anteil an Burschen und Mädchen die Waage hielt. Sämtliche galten als hoffnungsvolle Talente ihrer jeweiligen Sportart und er ragte aufgrund seiner Erfolge aus sämtlichen Schülern hervor, war das unumstrittene Aushängeschild der Schule. Aufgrund seines Status sowie der positiven Ausstrahlung besaß er eine beachtliche Anzahl von Anhängern beiderseitigen Geschlechtes. Die Einen bewunderten seine Stärke, die Anderen dessen Aussehen, insgesamt also seine körperlichen und mentalen Vorzüge. Diese Einschätzung behagte ihm jedoch aufgrund deren reduzierenden Charakters nicht besonders, da seine Zensuren nicht immer ein Quell reiner Freude waren, dieselben ein Gefühl der Unvollkommenheit erzeugte. Keine schöne Vorstellung für einen Perfektionisten wie ihn, aber er konnte sich mit der verflixten Mathematik einfach nicht anfreunden, stand mit derselben permanent auf Kriegsfuß. Zu seiner Beruhigung war er nicht der Einzige, der unter diesem Fach zu leiden hatte, war nur einer von Vielen und das wiederum gefiel ihm erstaunlicherweise ebenso wenig. Jedenfalls nahm er für Erstere die Rolle des Beschützers ein, da der Schulweg an einer größeren Wohnsiedlung mit älteren rauflustigen Burschen vorbeiführte, die das Schikanieren der männlichen Schüler offenbar als Bestandteil ihrer Freizeitgestaltung betrachteten. Und über Freizeit im Überfluss schienen die „Herrschaften“ zum Leidwesen der Angehörigen der Schule reichlich zu verfügen, sodass die ausgeübte Schikane allgegenwärtig schien. Allerdings nur bis zu jenem für die Gang denkwürdigen Zusammentreffen mit der Olympiahoffnung der Schule. Seit diesem für sie desaströsen Tag verzogen sie sich tunlichst, sobald sie der Gestalt des Athleten auch nur im Entferntesten ansichtig wurden. Letztere wiederum himmelten ihn in Gestalt weiblicher Teenager offen an und standen deshalb permanent untereinander in einem Konkurrenzverhältnis. Und bei pubertierenden Teenagern weiblichen Geschlechts vermochte dieser Umstand unschöne Züge annehmen. Er hatte den Vorzug nicht zuletzt seinem offenen, einnehmenden Wesen zu verdanken, der für jeden und alles Verständnis aufzubringen schien, solange man ihn nicht provozierte. Dies zu unterlassen, hatte bereits die berüchtigte „Sozialsiedlungsgang“ – wie man diese schulintern nannte – am eigenen Leib mit für sie schmerzhaftem Ausgang erfahren müssen. Aber die Schule verfügte eben auch über ein weibliches Pendant zu ihm und ausgerechnet die war dem Kreis der Ausnahmen zuzurechnen, die keinerlei Interesse an seiner Person zeigte, was ihre Anziehungskraft auf den schwärmerischen Jüngling naturgemäß verstärkte. Deren Verhalten war nicht im eigentlichen Sinne als unfreundlich zu bezeichnen, ganz im Gegenteil: Nur verstand sie es ausgezeichnet stets eine natürliche Distanz zu ihm zu wahren, welche sich im Übrigen auch auf die Mitschüler, ja selbst auf das Lehrpersonal erstreckte. Aber gerade diese ganz selbstverständlich anmutende Ignoranz, welche sich bei ihr in Form ausgesuchter Höflichkeit offenbarte, war eine Kategorie, die für ihn ungewohnt war. Er war es gewohnt stets im Mittelpunkt zu stehen, sei es im Verein, Zuhause oder eben auch in der Schule. Die Rolle der Missachtung hatte er stets anderen zugedacht. Ihr anmutiges Äußeres und deren liebreizend bescheidenes Wesen trugen das ihrige bei seine Zuneigung noch zu verstärken. Ebenso angetan war er von der ihrerseits ausgeübten Sportart, der rhythmischen Sportgymnastik: Sie hatte entgegen dem äußeren Anschein eine Menge Gemeinsamkeiten zu seiner eigenen aufzuweisen. Zum einen zählte sie genauso zu einer der trainingsintensivsten Sportarten, zum anderen besaß sie aufgrund eleganter Bewegungsabläufe dieselbe Ästhetik. Allerdings in Verbindung mit musikalischen Klängen statt hämmernder Faustschläge, die einen integrativen Bestandteil dieser Sports bildeten. Ebenfalls imponierte dem Ausnahmetalent an dem Frauensport das hohe Ausmaß an Körperbeherrschung, Koordination sowie gestalterische Können in der Handhabung der einzelnen Geräte ohne jedoch dabei die elegante Ausstrahlung zu vernachlässigen. So wie er die Ringfläche in einer vorgegeben Zeit optimal zu nutzen verstand, verhielt es sich mit der ihnen zur Verfügung stehenden Wettkampffläche: Ein hellgraues Quadrat, welches mit seinen 13 x 13 m gut doppelt so groß wie seine eigene war. Umgekehrt verhielt es sich mit der für die Athletinnen zu absolvierenden Zeitspanne, welche genau die Hälfte einer seiner Rundenzeiten betrug. Unabdingbare Voraussetzung seitens der Kunstturnerinnen war ein erstklassiges Raum- und Zeitgefühl für die präzise auszuführenden Übungen, die einer strengen Choreographie zu folgen hatten. Obwohl erst seit einer Periode olympische Disziplin, so stellte sie für den allmächtigen Präsidenten des IOC Samaranch schon jetzt die charmanteste und fraulichste Sportart weltweit dar, wie derselbe erst kürzlich in einer öffentlichen Aussendung kundtat. Für Darius war der geschlechtsspezifische Gegensatz in besonderen Maße anziehend, galt seine eigene doch als die Männlichste und Härteste. Ihm als Musikliebhaber imponierte das seitens der Turnerinnen verinnerlichte Gleichgewichts- und Rhythmusgefühl, da die stringent vorgeschriebenen Übungen im Einklang mit der sie begleitenden Musik auszuführen waren. Den Gymnastinnen wurde hierbei ein hohes Maß an Musikalität abgefordert, da die Palette beim Mehrkampf und Gerätefinali denkbar breit gestreut, zudem interessant aufgefächert war. Mit Klassik, Pop und Rock waren nahezu alle Musikgattungen vertreten. Im Falle seiner heimlich Angebeteten von Gershwin über Strauß bis hin zu Frank Sinatra und Michael Jackson. Die entstandene Harmonie übertrugen sie in Form graziler Darbietungen – welche anspruchsvolle tänzerische Elemente beinhaltete – gekonnt auf ihr Publikum. Und über Eleganz, Anmut sowie die nötige Ausstrahlung verfügte das anbetungswürdige Wesen überreichlich, wie er wieder und wieder staunend feststellte. Ein weiteres verbindendes Element ihrer Sportarten bildete der Umstand, dass die Elite hier wie dort aus Angehörigen der Oststaaten bestand, welche es gewohnt waren permanent sportliche Höchstleistungen zu erbringen. Besuche diverser Veranstaltungen durch die Mitschüler galten an der Schule traditionell als Gepflogenheit und wurden schon aus reiner Kollegialität erwartet. Besonders wenn es sich wie bei ihrer ausgeübten Tätigkeit um eine Randsportart handelte, welche hierzulande kein größeres Publikumsinteresse verzeichnen konnte und so froh über jeden Besucher war. Der Umstand, dass ihre Sportart im Schatten anderer – insbesondere auch seiner lag – störte ihn nicht weiter, sondern kam ihm im Sinne einer „ausgleichenden Gerechtigkeit“ ganz gelegen. Daher besuchte er, wann immer es ihm sein Turnierkalender erlaubte, fleißig ihre sportlichen Darbietungen um auch offiziell einer Angehörigen der Schule bei deren Wettkämpfen die Anerkennung zukommen zu lassen, die sie verdiente. Angenehmer – für ihn jedoch bedeutsamer – Nebenaspekt an dieser Art der spärlichen Freizeitgestaltung war überdies der Umstand, dass ihn diese nichts kostete, da ihm sein Schülerausweis freien Eintritt gewährte. Was ihm allerdings nicht entgangen und weit weniger gefiel war die Anwesenheit überraschend vieler junger männlicher Besucher. Verhohlen beobachtete er bei ihren Auftritten vor Ort die oft begehrlichen Blicke derselben, die wohl nicht nur der glänzenden Performance, sondern auch der nahezu perfekten Darstellung ihrer sportlich straffen Körper galten. Bei dieser femininen Sportart mit frauenspezifischer Musikbegleitung ging es den männlichen Jugendlichen sicher nicht ausschließlich um die korrekte Ausführung der einzelnen Übungen mit den verschiedenen Geräten, wie Band, Ball, Keule und Reifen. Die oft aufmunternden Zurufe, manchmal sogar anerkennenden Pfiffe galten sicher auch dem appetitlichen Anblick der Protagonistinnen und ihren Outfits, welche ähnlich den Eiskunstläuferinnen knapp bemessen waren. Auch er selber – das musste er sich offen eingestehen – sah einem Tennismatch mit weiblicher Beteiligung lieber als einem mit männlicher Besetzung zu, obwohl der sportliche Wert bei beiden gleichermaßen einzuschätzen war. Und die Sportart wurde im Gegensatz zu den beiden Vorgenannten nicht ohne Grund ausschließlich von Teenagern ausgeübt, wie Darius mutmaßte und diese Tatsache zwiespältige Gefühle auslösten. Unterstrichen wurden deren Darbietungen noch durch die dynamischen Bewegungsabläufe, die diese herausragenden Athletinnen auszuführen imstande waren. Mit dem linken Bein auf Zehenspitzen stehend, das rechte jedoch in einem exakten 180-Grad-Winkel zur Decke streckend sowie gleichzeitig mit den Keulen Pirouetten ausführend, erinnerte doch stark an akrobatische Vorführungen. An Leichtigkeit übertrafen diese aber die professionellen Akrobatinnen sogar an technischer Perfektion, fanden somit auch in seinem Kampfstil ihre Entsprechung. Da er bei seinen Auftritten öfters voyeuristischer Blicke anwesender Frauen ausgesetzt war, welche seiner freizügigen Sportbekleidung geschuldet waren, konnte er Gedanken und Gefühle des anderen Geschlechts aus eigenem bestens nachvollziehen. Die Sicherstellung der menschlichen Rasse erforderte eben seinen Tribut, auch wenn es im Fall der jungen Dame dem Verehrer unpässlich erschien. Ob sie wohl diese Art der Selbstdarstellung und die damit verbundenen begehrlichen Blicke ihres Publikums im gleichen Ausmaße wie er genoss? Obwohl ihn diese Begleiterscheinungen ärgerten und er so manch jugendlichen Rabauken durch einen strafenden Blick zum Schweigen gebracht hatte, so musste er sich eingestehen, dass die Atmosphäre auch ihn in eine prickelnde Stimmung versetzte. Wenn er die „Exzesse“ anlässlich Fräulein Blums Vorführung wahrnahm, verflog das Prickeln aber schlagartig. Vielmehr ärgerte er sich maßlos über so viel Dummheit und Respektlosigkeit gegenüber ihrer sportlichen Höchstleistung. War diesen Banausen denn nicht bewusst, dass diese zierlichen Persönchen bis zu sechs Stunden täglich trainierten ohne je im Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses zu stehen? Welcher Idealismus vonnöten war, da alleine das Aufwärmen für ihre weichen und fließenden Bewegungen eine Stunde in Anspruch nahm! Er musste es daher regelmäßig vermeiden sich die Gedanken der männlichen Besucher auszumalen, wollte ihn nicht die kalte Wut packen, was ihm jedoch nicht immer gelang. Schwer nachvollziehbar war weiters der Umstand, dass er mit seinem Schwarm bislang noch kein einziges Wort gewechselt hatte. Es handelte sich um eine einseitige „Beziehung“ rein platonischer Natur, die das Wort „Beziehung“ eigentlich nicht verdiente. Ihre Ignoranz war für ihn schmerzlich, da er es ansonsten genoss stets mit dem anderen Geschlecht zu flirten. Der Grund lag – wie er vermeinte – in ihren persönlichen Umständen, besonders den gesellschaftlichen Verhältnissen, die für ihn ein wohl kaum zu überwindendes Hindernis darstellte. Seine Angebetete entstammte einer angesehenen Industriellenfamilie, er aber bescheidenen Verhältnissen mit aus ihrer Sicht zwielichtigem Background. Obwohl von Natur aus nicht eigentlich scheu, hätte er es nie gewagt die junge Dame anzusprechen. Vielmehr genoss er ihre grazile Gestalt, welche eine Aura der Unnahbarkeit umgab, lediglich aus sicherer Entfernung. Auf den seltenen Begegnungen am Schulkorridor oder Pausenhof, kreuzten sich zuweilen ihre scheuen Blicke. Diese kurzen Blickkontakte genügten um ihn in einen inneren Erregungszustand zu versetzen. Der Puls seines Herzschlages erhöhte sich schlagartig, wann immer sie ihn mit ihren blauen Augen anblickte, aus denen ihm – wie er vermeinte – eine arge Geringschätzung entgegenschlug. Entgegen seiner Gewohnheit vermochte er ihrem vermeintlich spöttisch abschätzigen Blick nie standzuhalten, was ihn maßlos ärgerte, da sein fester aufrechter Blick – ansonsten eine seiner Stärken – ausgerechnet bei ihr versagte! Was konnte er dafür, dass seine Familie nicht zu den Ersten des Landes zählte, sein Vater ein Tunichtgut – der sich feige „bei Nacht und Nebel“ davongemacht hatte – war? Vielleicht liegt ihre magische Anziehung gerade an ihrer Unnahbarkeit, sinnierte er gedankenverloren ein wenig verärgert. Verärgert über die Dummheit seine Zeit an einen unerreichbaren Traum zu vergeuden und er nicht die Kraft besaß sich demselben zu verweigern. Am liebsten hing er den Tagträumen kurz vor dem Einschlafen, beim Laufen oder in der ruhigen Atmosphäre der Sauna nach, wo ihn niemand zu stören vermochte. Nach einer Stunde waren auch die beiden Saunagänge absolviert und er verließ ermattet die kleine Kabine, duschte, stieg auf die Waage und notierte anschließend sein aktuelles Gewicht in seinem persönlichen Turnierkalender, welcher an der eigens dafür errichteten Pinnwand aushing. Zu seiner Befriedigung stellte er fest, dass er seit dem Vortag wieder 31 Dekagramm verloren hatte; er sich im Hinblick auf seine angestrebte Gewichtsklasse vollends im Fahrplan befand. Beruhigend, dass die bisherigen Eintragungen eine stetige Entwicklung aufwiesen, was ihm die Tortur des gefürchteten „Abkochens“ ersparte. Den erfreulichen Verlauf hatte er unter anderem dem speziell auf ihn abgestimmten Ernährungsplan zu verdanken, der kaum Kohlehydrate, eher eiweißreiche Kost, wie Fisch, Eier und dergleichen mehr enthielt und den er auch zu Hause geradezu pedantisch einhielt. Mutter unterstützte ihn bei dem ambitionierten Unterfangen ungeachtet des erheblichen Mehraufwandes an Zeit und Kosten großartig, wie der junge Athlet dankbar vermerkte. Nachdem die Eintragungen erledigt waren, begann für ihn der gesellige Teil des Trainingslagers, der einige Kurzweil versprach. Erwartungsfroh begab er sich nach dem Abendessen in den Aufenthaltsraum wo zumeist sämtliche Kaderangehörige versammelt waren, da es anderen Zeitvertreib schlicht nicht gab. Der Olympiastützpunkt befand sich in einer abgelegenen Bergregion und die Einsamkeit war vom NOK bewusst gewählt. Der Aufenthaltsraum bot Zeit zur Muse und Unterhaltung, musste jedoch pünktlich um 23.30 Uhr von den Sportlern geräumt werden. Kaum hatte er diesen betreten, wurde er unter großem Hallo begrüßt und von den Turnern sogleich zu einem der Billardtische gerufen. Einladungen mit Wettbewerbscharakter nahm er liebend gerne an, da er dieses Spiel aufgrund seines guten Auges und der benötigten „ruhigen Hand“ bestens beherrschte. Außerdem ging es bei diesen Partien aufgrund der flapsigen Konversation und geselligen Charakters immer sehr unterhaltsam zu. Nachdem er die Partie beendet hatte, sah er sich im Fernsehen ein Fußballmatch an. Kurz vor der „Sperrstunde“ verabschiedete er sich lachend von der Meute und begab sich auf sein spartanisch eingerichtetes Zimmer das er mit einem Gewichtheber teilte und dessen ruhige und besonnene Art er zu schätzen wusste. Der introvertierte Jungathlet lag mit mächtigen Kreuz und Extremitäten in der Größenordnung mittlerer Baumstämme – einem Grizzly ähnlich – bereits im unteren Teil ihres gemeinsamen Stockbettes, da es der Brummbär regelmäßig vorzog seine Freizeit lesend zu verbringen. Nicht aber, wie man beim Anblick des Kraftprotzes vermuten möchte Trivialliteratur, nein vorwiegend Bücher philosophischer Provenienz. Literatur von Nietzsche und Kant erschlossen sich Darius jedoch in keiner Weise und waren deren Inhalte für ihn unverständlich, nötigten ihm deshalb gehörigen Respekt vor seinem Zimmergenossen ab. Vielleicht benötigte dieser als Ausgleich geistige Nahrung, nachdem er allwöchentlich nahezu einhundert Tonnen zu bewegen hatte, was an Monotonie wohl kaum zu überbieten war, dachte er sich schaudernd beim Anblick Peters Nachtlektüre. Nachdem sie sich noch über den Verlauf des heutigen Tages sowie die Vor- und Nachteile ihrer jeweiligen Sportart ausgetauscht hatten, knipsten sie das Licht aus. Beide in dem Bewusstsein, am nächsten Morgen wie immer während der zweiwöchigen Lehrgänge zwecks Absolvierung zahlreicher medizinischer Abschlussuntersuchungen wie auch einschlägiger Tests schon um sechs Uhr in der Früh geweckt zu werden. Weit erfreulicher die Aussicht, dass der Lehrgang schon in zwei Tagen beendet war, sodass die angehenden Olympioniken wieder in ihre Bundesländer, Universitäten, Schulen, oder angestammten Vereine zurückkehren konnten. Die Meisten wurden von Angehörigen, Mitschülern und Trainern aus unterschiedlichsten Beweggründen sehnsüchtig erwartet, was auch für Darius galt, welcher der Rückkehr in die Schule erwartungsfroh entgegenblickte; ungeachtet, dass es sich bei ihm leider um keinen herausragenden Schüler handelte.