Читать книгу Höhenangst - Kurt Flatz - Страница 8
Vorurteile
ОглавлениеTibor saß auf einer der spartanischen Holzbänke, welcher sich im düsteren Gang des Landesgerichtes befanden. Selbiger wurde durch kalte unpersönliche Neonleuchten erhellt. Er wartete ungeduldig vor dem VS 59 – einem der kleineren Verhandlungssäle – auf den Beginn der Verhandlung. Der Prozess bot ihm die Gelegenheit sich in der Eigenschaft als Zeuge seine Person ins rechte Licht zu rücken. Als er nach Gerichtssaalreportern Ausschau hielt, erblickte er die Beschuldigten die mit ihrem Rechtsvertreter den Gang herunterkamen. Selbst aus einiger Entfernung erkannte er die Erstangeklagte Elena Radu – treibende Kraft gegenständlicher Straftat – an deren derben Gesichtszügen und dem verschlagenen Blick sofort wieder. Bei ihrem Anblick wurde ihm ins Gedächtnis gerufen, wie sehr er diesen Menschenschlag verabscheute. Die Diebin plapperte unaufhörlich und wild mit ihren Armen gestikulierend auf ihren „Rechtsverdreher“ ein, der einen gequälten Ausdruck im Gesicht hatte. Aber auch die Zweitangeklagte – Mitläuferin klassischen Zuschnitts – kam mit ihrer dümmlichen und immer zum Losheulen bereiten Miene nicht viel besser weg. Einfach „das Letzte“ dachte er sich angesichts dieses Anblicks angewidert. Sobald Radu seiner ansichtig wurde, warf ihm diese mit ihren dunklen Augen einen so grimmigen Blick zu, dass er sich genötigt sah, sich unverzüglich abzuwenden. Während sein Blick in die entgegengesetzte Richtung ging, schob sich ihm der amtshandelnde Polizeibeamte, den er vom Kraftraum des Polizeisportvereins bestens kannte, in sein Blickfeld. Erleichtert registrierte er, dass dieser ebenfalls als Zeuge geladen war. Erfreut begrüßte er Inspektor Maier per kräftigen Handschlag und erkundigte sich nach dem Ergebnis der Nachschau in der Wohnung der Angeklagten, welche von der Polizei bei Verdacht auf „Gewerbsmäßigkeit“ vorgenommen wird. Als dieser ihm von der erfolglosen Durchsuchung berichtete, war Tibor verwundert und machte sich Enttäuschung in ihm breit. Das war doch unwahrscheinlich, da dieses Gesindel nach allgemeiner Lebenserfahrung deren Lebensunterhalt ausschließlich mit Diebstählen und diversen „Haustürbetrügereien“ bestritt. Eine andere Möglichkeit des Broterwerbs bestand bei diesem „Ausländerpack“ aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und fehlender Berufsqualifikation gar nicht. Als der Polizist seine Enttäuschung bemerkte, stellte er ihm gleichsam als Trost eine erfreuliche Nachricht in Aussicht, die – wie er wusste – als Ausgleich sicher geeignet war und das Interesse des Detektivs zu wecken vermochte:
„Wir sind zwar in der heute zu verhandelnden Angelegenheit nicht fündig geworden, dafür in einer anderen, die dich ungleich mehr interessieren dürfte“ und fuhr beschwichtigend fort. „Heute spielt doch das Ergebnis unserer Negativnachschau ohnehin keine große Rolle, da die Angelegenheit so gut wie gegessen ist.“ Als er Tibors zweifelnden Blick gewärtigte, beruhigte er ihn mit den Worten: „Ich weiß um die Unwägbarkeiten vor Gericht, aber die Beiden wurden ja von dir auf frischer Tat mit einer erklecklichen Beute ertappt, was Du dem Richter bestimmt überzeugend darzulegen vermagst. Was soll denn da noch groß schief laufen? Bist ja fürwahr nicht auf den Mund gefallen!“
Der in bedrohlichem schwarz Gekleidete bestätigte dem Uniformierten nur zu gerne dessen realistische Einschätzung und insistierte sogleich neugierig in der anderen Angelegenheit, woraufhin dieser mit verschmitzter Miene fragte.
„Kannst Du dich noch an diesen überheblichen alten Fatzke mit dem Schraubenzieher erinnern, den Du vor ungefähr drei Monaten im „Messepark“ geschnappt hast?“ Als Tibor bejahte, berichtete er eilfertig.
„Meine Kollegen baten mich, dir schöne Grüße von der gesamten Mannschaft auszurichten und mich an dieser Stelle für deinen wertvollen Hinweis zu bedanken.“
„Na schieß schon endlich los“ verlangte Tibor ungeduldig.
„Der Betreffende – übrigens ein ehemaliger Oberfinanzrat bei der Finanzverwaltung – war während seiner aktiven Zeit Abteilungsleiter des Ressorts Betriebsprüfung und bei den Gewerbetreibenden als sprichwörtlicher Spürhund gefürchtet. Aber nicht einmal bei seinen Kollegen sei er beliebt gewesen, wie sie in Erfahrung bringen konnten“ wurde genüsslich angemerkt. „Jedenfalls hat er für erhebliche Unruhe auf dem Wachposten gesorgt“ meinte er vielsagend. „Als sie ihn bei Dir abholten, haben sie ihn in einem so erbärmlichen Zustand vorgefunden, dass sie den Bedauernswerten am liebsten gleich wieder laufen gelassen hätten, was aber aufgrund deiner bedrohlich formulierten Anzeige nicht möglich war.“ „Jetzt übertreib mal nicht“ schmunzelte Tibor selbstgefällig, woraufhin der Beamte eifrig fortfuhr.
„Zum Glück, wie sich später herausstellen sollte. Der Alte hat sich nämlich zum Erstaunen der amtshandelnden Beamten sehr schnell erholt, und sich schon auf dem Weg zum Revier über dein Verhalten auf das Heftigste beschwert. Er habe sogar eine Anzeige gegen dich wegen Nötigung und Freiheitsberaubung in Erwägung gezogen und die Kollegen vor Wut schnaubend mit Fragen nach möglichen Erfolgsaussichten gelöchert. Diese konnten ihn während der Fahrt nur unter Anstrengungen beschwichtigen. Bei der Einvernahme in der Wachstube sei er zur Verblüffung seiner Kollegen zunehmend aggressiver, ignoranter und in seiner Wortwahl immer ausfallender geworden. Und dies, obwohl sie die Vernehmung angesichts seines Alters und erkennbar cholerischen Charakters besonders taktvoll und behutsam vorgenommen hätten. Sein ekelhaftes Verhalten gipfelte schließlich in seiner Verweigerung das Vernehmungsprotokoll zu unterzeichnen, obwohl sie dieses mit ihm öfter durchgegangen und – seinem Wunsch entsprechend – endlose Korrekturen vorgenommen hätten. Mit diesem unerträglichen Verhalten habe er aber die Schmerzgrenze der Kollegen eindeutig überschritten. Entgegen der ursprünglichen Absicht haben sie sich dann enerviert entschlossen, deinem Ratschlag zu folgen und eine Hausdurchsuchung durchzuführen. Als sie ihm – nach vorausgehend ausführlicher Belehrung – ihr Vorhaben förmlich eröffneten, habe sich sein Verhalten wiederum schlagartig geändert. Dankenswerterweise bereits von Dir vorgewarnt, haben sich die Kollegen nicht mehr von diesem Ehrenmann samt dessen Winselei erweichen lassen.“
„Na wie verhielt er sich denn unser lieber Freund auf dem Weg zu seinem trauten Heim?“ erkundigte sich Tibor amüsiert.
„Seelenruhig, kein einziges Wort mehr. Allerdings habe im Einsatzfahrzeug auf der Hinfahrt eine frostige, ja eisige Atmosphäre geherrscht“ war Maiers wenig überraschende Antwort. Augenzwinkernd fuhr „Kollege“ Maier fort. „Schon bei ihrer Ankunft habe seine Gattin – eine besonnene Frau – bei Betreten der guten Stube fast einen Schwächeanfall erlitten“, um in gespieltem Entsetzen und mit Schalk in den Augen weiter zu berichten: „Dem noch nicht genug, das Beste kommt erst! Der zufällig auf Besuch weilende Sohn – ein aufstrebender Kommunalpolitiker des konservativen Lagers – sei aus allen Wolken gefallen. Kaum hätten Sie ihr Anliegen vorgetragen, habe der windschlüpfrige Karrierist mit hoch gezogenen Brauen und gewichtiger Stimme nach einem Durchsuchungsbefehl verlangt.“ Tibor starrte seinen Kollegen entgeistert an und mutmaßte in ungläubigen Erstaunen. „Aber doch nicht etwa Dr. Hoeneß, unser allwissende Verwaltungsjurist von der Strafabteilung der hiesigen Bezirkshauptmannschaft?“
„Doch genau der!“ nickte der Sportsfreund fassungslos. „Stell Dir nur vor, verlangte von den Kollegen einen Durchsuchungsbefehl, ganz wie in einem schlechten Fernsehkrimi! Bevor sie tätig werden konnten, mussten sie dem Besserwisser gar noch die geltende Rechtslage erklären. Unser Gott sei bei uns!“ plusterte Maier mit triumphierender Grimasse und vor Begeisterung überschlagender Stimme los um sogleich mit hochrotem Kopf und gesenkter Stimme fortzufahren. „Nach erteilter Rechtsbelehrung hat dieser Wendehals diplomatisch der anstehenden Hausdurchsuchung in der vermeintlich festen Überzeugung, dass sein Vater ohnehin nichts zu verbergen habe, zugestimmt. In seinem Eifer habe der gute Mann sogar das für die Kollegen gut vernehmbare Räuspern seines Vaters überhört, sowie dessen flehenden Blick – der „Dottore“ fast zu durchbohren schien – übersehen. Der doch sonst selbst das Gras wachsen hört. Blind wie eine Nachteule! Als die Kollegen dann das Arbeitszimmer inspizierten – das übrigens außer dem Alten nie jemand betreten durfte – fanden sie erwartungsgemäß eine Unmenge gestohlener Artikel an denen bei einigen noch das Preisetikett hing.“ Dabei vernahmen sie, wie seine Frau ihrem akademisch gebildeten, sowie dem Recht verpflichteten Sohn zuflüsterte. „Jetzt wissen wir, warum er es während seiner Abwesenheit immer verschlossen hielt und ich es nur nach vorheriger Anmeldung reinigen durfte.“
„Gratuliere, da ist Dir wahrhaftig ein fürstlicher Fang gelungen! Ein lupenreiner Kleptomane, unser Finanzoberinspektor, dem zur stattlichen Pension zusätzlich eine Verurteilung wegen gewerbsmäßigen Diebstahls droht. Welche Blamage, dieser Auftritt vor dem Landesgericht mit einem Strafrahmen bis zu fünf Jahren! Bei der anschließenden Sicherstellung des Diebesguts sei der Sohn verstummt und hätte den Alten – der zur Litfaßsäule erstarrt sei – nur noch kopfschüttelnd mit offenem Mund angestarrt. Ganz so, als sei er ein Fremder, kenne den eigenen Vater nicht. Sowohl bei Ankunft, als auch Verlassen des Grundstückes hätten die Kollegen zu ihrer heimlichen Freude unverhohlene Blicke der Nachbarn über den Gartenzaun und zwischen leicht zurückgeschobenen Vorhängen verschlossener Fenster wahrgenommen“, beendete Inspektor Maier triumphierend seine Ausführungen. Die Info war der Stimmung Tibors zuträglich, als er diese als gutes Omen für den anstehenden Prozess wertete, in dem das Ergebnis aufgrund des Sachverhaltes ohnehin feststehen müsste. Alles andere als ein Schuldspruch war aufgrund der klaren Rechts- und Sachlage für die beiden diebischen Elstern schlicht undenkbar. Bei der nunmehr anstehenden Verhandlung würde er mit Sicherheit vom Richter als Zeuge aufgerufen werden. Schon ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher, welche die weiblichen Beschuldigten in nüchternen Tonfall in den Verhandlungssaal beorderte. Die Beiden erhoben sich samt ihrem Rechtsvertreter rasch von der Wartebank. Sowohl Tibor, als auch Zeuge Maier belächelten den sie begleitenden „Linksanwalt“ und sein hoffnungsloses Bemühen um einen Freispruch seiner Mandantschaft. Was diese Typen doch alles für Geld zu tun bereit waren. Den armen Teufeln in ihrer Lage das „letzte Hemd auszuziehen“. Einfach skrupellos! Besaßen zu Recht den miserablen Ruf einer geldgierig arroganten Kaste, die alles besser zu wissen vorgab, ereiferten sich die „Uniformierten“ unisono. Wo die wohl das nötige „Kleingeld“ für ihren Winkeladvokaten zusammengestohlen hatten? Der kostete nach seinem Äußeren wohl ein Vielfaches der zu erwartenden Strafe. Dafür gibt es sicher keine Rechtsschutzversicherung rätselten Maier und Orban kopfschüttelnd. „Wahrscheinlich haben die Beiden ein langes Vorstrafenregister und befürchten nun für einige Zeit hinter schwedischen Gardinen zu verschwinden“ höhnte Tibor. „Besser noch sie werden abgeschoben, wohin auch immer. Belasten im Fall der Verbüßung einer allfälligen Haftstrafe nur unnötig das ohnehin schon angeschlagene Budget der Republik“ ergänzte Inspektor Maier als besorgter Staatsdiener. Die „glorreichen Musketiere“ verschwanden – ohne die beiden Autoritäten auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen – hinter der Tür des Verhandlungssaales 59. Aufgrund der vom Verteidiger demonstrativ zur Schau getragenen Sicherheit, welche die Diebinnen wie ein unsichtbarer Schutzwall zu umgeben schien, erkundigte sich Tibor – durch dessen Attitüde verunsichert – noch einmal nach dem Ergebnis der durchgeführten Nachschau. Als der Inspektor das Negativergebnis erneut bestätigte, wechselte Tibor enttäuscht das Thema. So unterhielten sie sich bis zum Aufruf Maiers angeregt über Einzelheiten des Muskelaufbaus im Rahmen ihres Krafttrainings, welches Tibor im Polizeisportverein für eine Gruppe Körperkultur begeisterter Exekutivbeamten leitete. Als dann der Zeuge nach knapp einer halben Stunde wieder erschien, verabschiedete er sich jedoch auffallend rasch von Tibor mit dem Zuruf, „er habe einen dringenden Einsatz bei einem Verkehrsunfall zu leiten.“ Tibor konnte sich nicht einmal nach dem Ergebnis seiner Befragung erkundigen, so schnell verschwand Maier beinahe in militärischen Laufschritt, einen irritierten Ladendetektiv zurücklassend. So wanderte Zeuge Orban vor dem VS 59 den düsteren Gang auf und ab, einigermaßen verunsichert über das seltsame Verhalten seines Sportkameraden. Er schrak augenblicklich zusammen, als er seinen Namen aus dem Lautsprecher vernahm und eine sonore Stimme ihn mit den dürren Worten:
„Zeuge Orban, bitte in den Verhandlungssaal“ aufforderte in den „Neunundfünfziger“ zu kommen. Als Tibor den Verhandlungssaal noch immer geistesabwesend betrat, erblickte er als erstes einen älteren Herrn mit schütterem Haar und einem dicken Schnauzbart, welcher an den Spitzen nach oben gezwirbelt war, hinter dem breiten Pult der erhöhten Richterbank thronen.
„Würden Sie bitte die Türe schließen“ stieß der Vorsitzende anstelle einer Begrüßung und ohne von seinen Akten aufzublicken, hervor. Der Zirkus fängt ja schon gut an, dachte Tibor verärgert. Auch der weitere Blick in die Runde war nicht dazu angetan, seine Laune zu verbessern. Links vom Richter an einem seitlichen Tisch saß der Verteidiger, der arrogante junge Schnösel in feinstem Zwirn, der ihn durch seine modische Hornbrille schon neugierig von oben bis unten in freudiger Erwartung taxierte. Auf der gegenüberliegenden Seite eine dünnlippige Staatsanwältin mit streng nach hinten gekämmten Haaren samt altmodischer Hornbrille und dazwischen direkt vor dem Richterpult die beiden Angeklagten. Der Richter hieß ihn scheinbar anteilslos vortreten und erteilte in sperriger Juristenprosa nüchtern die obligate Rechtsbelehrung, eine Leerformel, die der sicher schon tausende Male kundgetan hatte.
„Ich habe Sie zu ermahnen, die an Sie gerichteten Fragen richtig, vollständig, und in der Art zu beantworten, dass diese erforderlichenfalls sogleich beeidet werden könnten“ vernahm Zeuge Orban von oben. „Eine Falschaussage ist strafbar und kann mit bis zu drei Jahren, unter Eid sogar mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden“ wurde als Konsequenz tonlos angedroht. Wohl im Ansatz das formelhafte an diesen abgedroschenen Worthülsen erkennend, erfasste Tibor bei Ausspruch derselben ein unerklärlicher Schauer, den Ernst der Lage erahnend. Obwohl die angedrohte Rechtsfolge aufgrund verschiedener Umstände so gut wie nie realisiert, die Gesetzesstelle in der Praxis kaum Anwendung fand, schwebte doch immer wieder das Damoklesschwert der Norm in jedem Verfahren erneut über den Häuptern der Adressaten. Die Strafe konnte jederzeit auf einen unbeteiligten, am Verfahrensausgang desinteressierten Zeugen niedersausen, was allerdings selten vorkam: deren abschreckende Wirkung eher im Präventivcharakter für rechtstreue, brave Mitbürger lag. Die weniger Braven und Obrigkeitsgläubigen nutzten diesen Umstand allerdings schon immer zu ihrem Vorteil, somit zum Nachteil der Rechtsgemeinschaft weidlich aus. So wie diese Personengruppe generell eine begünstigende Norm sofort für sich reklamierte, eine nachteilige ignorierte oder gar bestritt und eine nicht existente lautstark als bestehende „Gesetzeslücke“ beklagte. Interessant, dass genannte Gruppe häufig aus Selbstständigen oder Transferleistungsempfängern bestand; Lohn- oder Gehaltsempfänger kaum darunter zu finden waren. „Haben Sie die ihnen erteilte Rechtsbelehrung verstanden?“ riss ihn der Richter unsanft aus seinen „rechtsphilosophischen“ Überlegungen. Nachdem der Riese die Frage bejahte, wurden seine Personalien erhoben und mit folgender Frage abgeschlossen:
„Besteht zu einer der beiden Angeklagten ein Verwandtschaftsverhältnis oder sind Sie mit diesen verheiratet oder verschwägert?“ was Zeuge Orban nur allzu gerne, leider aber auch übertrieben laut verneinte, womit er sich einen missbilligenden Blick des Schnauzbärtigen einhandelte. Daraufhin wurde er befragt, „ob er wisse um was es in gegenständlicher causa gehe?“ Nachdem er auch diese Frage mit einem Anflug von Schärfe in der Stimme und an den Hosentaschen fummelnd bejaht hatte, forderte ihn selbiger auf, den Geschehensablauf noch einmal aus seiner Sicht „soweit erinnerlich“ wie sich der Amtsinhaber auszudrücken pflegte, darzulegen. Als er die Antwort auf die allgemein gehaltene Frage – deren präzise Beantwortung ihm am Herzen lag – und er sich im Vorhinein eigens eine entsprechende Formulierung zurechtgelegt hatte: „dass er von der Polizei zu den Vorkommnissen zwar befragt, aber entgegen seinem ausdrücklichen Ersuchen kein Protokoll verfasst wurde…“ einleitete, fuhr ihm der Richter sichtlich gelangweilt ins Wort:
„Herr Orban, Sie dürfen mir glauben, dass mir diese „Unterlassung“ nicht entgangen ist, da aus dem Akt ersichtlich, und ich daher ersuche, zur Sache zu kommen. Dies bedeutet aber auch ausschließlich auf meine Fragen zu antworten, da ich heute Nachmittag noch eine Vielzahl anderer Fälle zu verhandeln habe. Der scharfe Klang in seiner Zurechtweisung war für Tibor ein untrügliches Zeichen, dass der Mann es gewohnt war, die Zügel in der Hand zu halten und wurde seine Einschätzung postwendend bestätigt. „Sie haben sich an dieser Stelle über die materiellrechtliche Seite dieser causa in keiner Weise zu äußern, auch die Beurteilung prozessualer Aspekte ist nicht ihre Aufgabe. Dafür erscheinen Sie mir bei allem Respekt für ihren ehrenwerten Berufsstand doch nicht ausreichend qualifiziert.“, um sogleich in vermittelnder Tonlage zu versichern. „Sie dürfen darauf vertrauen, dass ich die fehlende Protokollierung seitens der Exekutive hinreichend bei der Beurteilung des Falles berücksichtigen werde. Ihr eben aus dem Zeugenstand entlassener „Kollege“ wird ihnen – wovon ich überzeugt bin – bei gegebenem Anlass mit Sicherheit „ein Lied davon singen“!“ fügte er sarkastisch an. Jetzt dämmerte es ihm allmählich, warum dieser fluchtartig das Gerichtsgebäude mit verstörtem Gesicht verlassen hatte. Hatte der praxiserprobte Kollege von der täterfreundlichen Justiz einmal mehr sein Fett abbekommen. Schon vernahm er die Stimme erneut, scharf und beherrscht gleichermaßen:
„Prozessleitung, Wertung der Beweisergebnisse sowie die rechtliche Beurteilung obliegen zumindest in dieser Instanz immer noch meiner Wenigkeit! Und jetzt kommen Sie endlich zur Sache und schildern den Ablauf der Ereignisse“ wies er Tibor – mit einem kurzen Blick auf die Uhr an der gegenüberliegende Wand – an. Der wiederum unterdrückte ohnmächtig vor solcherart rhetorischer Überlegenheit seine Empörung und versuchte der Stimme einen betont sachlichen Ton zu verleihen, was ihm allerdings nur leidlich gelang.
„Also mir sind die beiden Angeklagten aufgrund ihres auffälligen Verhaltens sofort negativ aufgefallen. Die Zweitbeschuldigte schob einen Kinderwagen, worin sich ein Baby befand. Unter dem Sitz des Kinderwagens befand sich eine Art Abstellfläche. Auf dieser lag eine Decke. Die Erstbeschuldigte blickte sich immer wieder nach einem etwa zehnjährigen Buben um und unterhielt sich aufgeregt mit diesem. Besonders zu denken gab mir aber bei dem Anblick, dass die Decke im unteren Teil des Kinderwagens verdächtig gewölbt war. Ich dachte mir daher, dass ich, nachdem die Frauen den Kassenbereich passiert haben, deren Kinderwagen mal näher in Augenschein nehmen, und einen kurzen Blick unter diese Decke werfen sollte. Man kennt ja aus Erfahrung diverse Tricks der Kunden. Nachdem die Beiden mit ihrem Buben an der Kasse durch waren, wies ich mich mit meiner Dienstplakette aus und forderte sie auf, die Decke mal kurz beiseite zu schieben, wobei die Erstbeschuldigte dieses Ansinnen ohne jegliches Zögern barsch zurückwies. Bestärkt wurde ich in meinem Anliegen durch die Zweitbeschuldigte und deren weinerlichen Ausdruck im Gesicht. Als ich nach der unmissverständlichen Weigerung von meinem Hausrecht Gebrauch machte und die Decke beiseiteschob, fand ich erwartungsgemäß zwei Flaschen eines teuren Parfüms darunter. Daraufhin verpasste die Erstbeschuldgte dem Buben eine schallende Ohrfeige und ich verbat sofort weitere Tätlichkeiten gegenüber dem Jungen. Mir war sofort klar, dass dies eine besonders perfide Form der Ausflucht war, und forderte die Frauen auf, mir doch bitte ins Büro zu folgen, woraufhin die Erstbeschuldigte antwortete, dass sie dies sicher nicht täte, ich das Parfüm nehmen, und sie gefälligst in Ruhe lassen sollte. Als sie mir dann androhte, bei der geringsten Berührung lauthals um Hilfe zu schreien, habe ich umgehend die Polizei gerufen. Diesen erklärte ich dann bei deren Eintreffen, dass es sich natürlich um einen von den Frauen im Zusammenwirken begangenen Diebstahl handeln würde.“
„Worin bestand denn konkret das auffällige Verhalten“ fügte der Richter eine weitere Frage an. „Das habe ich doch eben ausführlich geschildert“ erwiderte Tibor leicht genervt. Dabei entging ihm nicht, wie sich Richter und Verteidiger an dieser Stelle einen vielsagenden Blick zuwarfen, der ihn irritierte. Das wachsende Unbehagen rührte vom Umstand, dass er die sich kreuzenden Blicke der Rechtskundigen nicht zu deuten wusste, verhießen aber für ihn intuitiv nichts Gutes! Er beendete seine Aussage ein wenig verunsichert, bekräftigte jedoch trotzig:
„Meine Einvernahme war kurz und wurde – wie bereits erwähnt – von den einschreitenden Beamten nicht protokolliert…“
„Was hiermit geschehen ist“ unterbrach ihn der Richter lakonisch. „Haben Sie unmittelbar beobachtet, wie eine der Beschuldigten oder der Junge die inkriminierten Gegenstände – also die zwei Flaschen Parfüm – aus dem Regal genommen und unter die Decke gelegt haben?“, was von ihm verneint werden musste. Er hatte keine Wegnahmehandlung seitens der Erst- noch der Zweitbeschuldigten oder des Jungen beobachtet, da ihm lediglich die gewölbte Decke des Kinderwagens aufgefallen war, er die Durchsuchung daher auf reinen Verdacht hin vorgenommen hatte.
„Die Fakten sprechen für sich, wie man an den meinerseits sichergestellten Parfümflaschen unschwer erkennen kann“ gab er voller Häme barsch zurück. „Und zwar nach Passieren der Kasse!“ wie der Detektiv mit fester Stimme bedeutungsvoll hinzufügte.
„Irrelevant! Hinsichtlich Abgrenzung „Versuch oder Vollendung“ von keinerlei Bedeutung. Im Übrigen völlig unstrittig!“ berichtigte der Richter in knappen – für den nun völlig Verwirrten – unverständlichen Worten mit einer Stimme, die keinerlei Widerspruch duldete. Tibor hatte doch die entsprechende Gesetzesstelle, nachdem er die Ladung erhielt im „StGB“ eigens noch einmal genau studiert, sich bestens für die Verhandlung vorbereitet. Und der war zu entnehmen, dass für das in der Anklageschrift aufgeführte Delikt das Überschreiten des Kassabereichs ohne entsprechende Bezahlung sehr wohl von erheblicher Bedeutung sei. Zeuge Orban war perplex. Was er übersehen, oder in dem vom Detektiv verwendeten Exemplar nicht kommentiert wurde, war eine weitere Differenzierung nach Warengruppen. Über weitere Nachfrage, ob sich die beiden Frauen denn sonst irgendwie auffällig verhalten hätten, musste er widerwillig eingestehen, dass dies nicht wirklich der Fall gewesen wäre. Der Vorsitzende bedankte sich bei ihm, erkundigte sich bei der Staatsanwältin, ob sie noch Fragen an den Zeugen hätte, was diese verneinte. Danach wurde dem Verteidiger das Fragerecht erteilt, der mit teilnahmslosen Gesicht und scheinbar desinteressiert seinen Ausführungen zugehört hatte. Dieser griff sofort das ihm vom Vorsitzenden eingeräumte Fragerecht auf, sodass Tibor von oben eine überraschend sympathische Stimme vernahm:
„Sehr geehrter Zeuge, geschätzter Ladenhüter! Woher nehmen Sie ihre offenkundig durch nichts zu erschütternde Gewissheit, dass anstelle der Erstbeschuldigten nicht doch der Junge das Parfüm unter die Decke gelegt haben könnte?“
Wie „Ladenhüter“? Tibor erwiderte – um seinem Missfallen über diese Art der Fragestellung offen Ausdruck zu verleihen – bewusst beiläufig, „dass dies ein allseits bekannter und unter Dieben beliebter Trick sei. Seinem geübten Blick sei aber nicht entgangen, dass die Beiden bei Verlassen des Kassabereiches einen etwas unsteten, ja ängstlichen Blick in die Runde geworfen und irgendwie kriminell ausgesehen hätten.“ Woraufhin Verteidiger und Richter wiederum für einen Moment ungläubige Blicke austauschten, deren wissender Ausdruck für Tibor ein unerklärliches Einvernehmen der beiden Herren der Rechtspflege signalisierte. Auch, dass sich die Anspannung in den Gesichtszügen des Anwalts zusehends löste, trug ebenfalls nicht zwingend zu seiner Beruhigung bei. Was ihn aber wirklich erboste, war die Art der respektlosen Fragestellung. Der Advokat erkundigte sich bei ihm mit ausgesuchter Höflichkeit, die man gewöhnlich nur Kleinkindern und dementen Greisen angedeihen ließ:
„Zeuge Orban! Mich würde interessieren, wie denn in ihren Augen eine Person beschaffen sein muss um für Sie eine kriminelle Optik auszustrahlen. Denn das, was sie eben von sich gegeben haben, kann doch wohl nicht ihr Ernst sein?“
„Sehr wohl Herr Anwalt! Ich habe dafür halt einen speziellen Blick, was ihnen jeder der mich kennt gerne bestätigen wird“ gab Zeuge Orban pikiert zurück.
„Ein „Jeder“ ist leider nicht im Gerichtssaal anwesend. Könnten Sie uns „das Spezielle an ihrem Blick“ trotzdem ein wenig konkreter erläutern?“ replizierte spöttisch der Advokat.
„Das ist nicht einfach, dafür braucht man seine Erfahrungen, die nicht jeder hat“ schnaubte der geübte Ladendetektiv verächtlich.
„Dann lassen Sie uns doch bitte an ihren Erfahrungen teilhaben! Also was zeichnet in ihrer Einschätzung eine kriminelle Optik aus?“ insistierte der Anwalt ungerührt und mit schärfer werdender Stimme.
Tibor war dermaßen verblüfft, dass er in Richtung des Verteidigertisches lediglich noch ein empörtes „Ich verwahre mich gegen ihre Art der Fragestellung“ zu schleudern vermochte um sogleich dem Richterpult zugewandt einzuwerfen.
„Herr Rat, muss ich diese Frage wirklich beantworten, das tut doch hier nichts zur Sache? Das von mir sichergestellte Diebesgut spricht ja wohl für sich!“
Des Riesen Frage wurde vom Richter barsch mit einem abgewandelten Sokrateschen Zitat beantwortet: „Wenn Sie es nicht wissen oder ihr Wissen nicht in allgemein verständliche Worte zu kleiden vermögen, dann sagen sie doch einfach, dass Sie absolut nichts wissen!“
Zeuge Orban war ob dieser richterlichen Abfuhr tief beschämt, aber auch erleichtert, der sich zuziehenden Schlinge dieses Winkeladvokaten gerade noch knapp entgangen zu sein. Die beiden hielten Menschen seiner Art wohl für eine niedere Lebensform. Er erwiderte kleinlaut, jedoch im Versuch die sperrige Juristenprosa des Rechtskundigen übernehmend:
„Wie eine kriminelle Optik aussieht vermag ich nicht mit Worten zu beschreiben, da diese Erscheinungsform für mich mehr ein Bauchgefühl, denn ein Faktum darstellt.“
Der Richter besprach daraufhin kopfschüttelnd und fast flüsternd sein Diktiergerät mit den für Tibor – der sensibilisiert seine Ohren spitzte – geradezu vernichtenden Worten:
„Zeuge Orban antwortet über Frage des Verteidigers, wie denn eine kriminelle Optik beschaffen sein müsse: Diebsaugen, vermag aber im Übrigen nicht verbal auszudrücken, wie jemand mit einer kriminellen Optik auszusehen hat, da mir dafür die Worte fehlen. Dies entspringt bei mir mehr einem Bauchgefühl, als rein rationalen Überlegungen.“
Daraufhin ergänzte der Anwalt das Tonbandprotokoll ohne Zögern sichtlich zufrieden:
„Womit die Antwort auf meine Frage protokolliert wäre!“
Der Richter beendete endlich die für den Bedauernswerten „peinliche Befragung“ mit einem knappen „Noch weitere Fragen?“
„Nein, lediglich eine für den Zeugen gutgemeinte Empfehlung: Hinkünftig Ausführungen anthropologischer Art, sowie Schlussfolgerungen generell zu vermeiden. Besser noch: der Besuch einschlägiger Abendkurse auf der hiesigen Volkshochschule, sollen ja wirklich sehr lehrreich sein…“ setzte der Advokat ohne wirkliches Interesse witzelnd hinzu. Tibor, solch massive Angriffe auf seine Person nicht gewohnt, geriet in Panik. Er schnappte sichtlich nach Luft und starrte den Verteidiger wie den „Leibhaftigen“ mit offenem Mund an. Nach einem hilfesuchenden Blick zur Anklagevertreterin, die jedoch eine entsprechende Reaktion vermissen ließ, spürte Tibor, wie er angesichts der kafkaesken Situation die Selbstkontrolle allmählich verlor. „So eine Frech…“ und erschrak, als er trotz aller Anstrengung seine Aufregung zu verbergen, das Zittern in der Stimme vernahm. Ausgerechnet jene Tugend, die er ansonsten bei jeder Gelegenheit vor Kollegen und häufig wechselnden weiblichen Begleiterinnen nicht immer zu deren Vergnügen hervorzuheben pflegte. Denn seine „Männlichkeit“ stets wie ein Banner vor sich hertragend, zeichnete ihn nicht zwingend als ausgewiesenen Sympathieträger aus. Dazu verrieten seine äußeren Merkmale in ihrer Gesamtheit seine Wesensart. Über diese nunmehr ausgerechnet vor Gericht offenbarte emotionale Schwäche – die er für typisch weibisch hielt – und dem damit verbundenen Gesichtsverlust äußerst erbost, schnaubte er entgegen seiner Gewohnheit auch schon unbeherrscht los:
“Euer Ehren! Muss ich mich von diesem Besserwisser so blöd fragen und auf demütigende Art belehren lassen. Nur weil dieser das einschlägige Fachchinesisch studiert hat. Und was soll denn das überhaupt , das ganze Schmierentheater hier?“ dabei mit seinen Armen eine theatralische Geste die den gesamten Gerichtssaal umfasste, vollziehend. „Stehe ich hier unter Anklage oder diese „Zigeuner“? Schließlich habe nicht ich die Sachen entwendet, sondern die Beiden da“, wobei er „die Beiden“ verächtlich dehnte. „Ich habe sie lediglich bei einem die Allgemeinheit schädigenden Handeln erwischt. Ist es verboten, das Eigentum anderer zu schützen? Das ist schließlich mein Beruf für den ich mehr schlecht als recht bezahlt werde“, dabei einen anklagenden Blick über die anwesenden Herrschaften der Rechtspflege gleiten zu lassen. „Um als Dank von dem da in aller Öffentlichkeit als „Schießbudenfigur“ dargestellt zu werden“ fuhr Tibor hitzig fort, wobei sich die riesenhafte Gestalt gleichzeitig mit finsterem Blick und gespreizten Beinen vorlehnte und wutentbrannt den Verteidiger mit demselben durchbohrte. Der blickte nur kurz von seinen Akten auf, um abgeschirmt hinter den blitzenden Brillengläsern gleichmütig durch ihn hindurch zu starren, so, als wäre er unsichtbar. Dann senkte er gelassen sein Haupt und widmete sich wieder selbstgefällig seinem Aktenstudium. Der Vorsitzende sah Zeugen Orban missbilligend an, wagte es aber nicht ihn zu unterbrechen.
„Verkehrte Welt!“ rang Tibor aufgebracht nach Worten. Er hatte sich so in Rage geredet, dass der Schnauzer genötigt war beschwichtigend einzugreifen, indem er Einhalt gebietend den Zeigefinger hob und in neutralem Tonfall vernehmen ließ „dass der Zeuge sich in der Wortwahl mäßigen solle und er im Übrigen die Befragung nunmehr auf sich beruhen lasse.“
Dann wandte sich der Vorsitzende mit verhaltenem Nicken dem Verteidiger zu: „Haben Sie aufgrund des erneuten „Vorbringens“ noch weitere Fragen an den Zeugen?“ Als dieser mit feinem kalten Lächeln verneinte, wurde Tibor seitens des Richters aus dem Zeugenstand mit der abschließenden Frage „ob er Zeugengebühren geltend mache“, entlassen.
„Nein!“ war die lapidare Antwort und er sah sich nicht mehr in der Lage den Sarkasmus von seiner Stimme fernzuhalten, insbesondere er der Antwort bewusst ein frostiges Schweigen folgen ließ, was jedoch keinerlei Eindruck bei den Herrschaften zu hinterlassen schien. Der gerichtserfahrene Detektiv dachte kochend vor Wut, dass er auf die paar Kröten liebend gerne verzichten könne. Dann setzte er sich und warf einen kurzen, feindseligen Blick auf die studierten Herrn der Rechtspflege. Als ihn der Schnauzer mit beschwichigenden Worten verabschieden wollte, erkundigte sich Tibor argwöhnisch, „ob er noch im Verhandlungssaal bleiben, und der Urteilsverkündigung beiwohnen könne?“ was dieser lakonisch „dass die Verhandlung öffentlich sei“ bejahte. Daraufhin wurde ihm vom Richter mit der stoischen Maske aller vor Selbstbewusstsein strotzenden Gebildeten ein freier Stuhl zugewiesen. Gleichzeitig betonte er nebenbei zur Freude Tibors, „dass gegenständliche Verhandlung aufgrund der klaren Rechts- und Sachlage in Kürze beendet sei.“ Anschließend fragte er sowohl Staatsanwältin als auch Verteidiger, „ob der Akteninhalt einvernehmlich als verlesen gelten könne“, woraufhin ein zustimmendes Murmeln in der Runde folgte. Dann erkundigte er sich bei den Beiden weiter, ob noch zusätzliche, weitere Beweisanträge gestellt würden, was ihrerseits mit Schweigen quittiert wurde. Staatsanwältin und Verteidiger blickten sich siegesgewiss an. Der Vorsitzende erklärte damit das Beweisverfahren als geschlossen und erteilte nach einem kurzen Blick auf die Uhr der Anklage das Abschlussplädoyer. Selbige beantragte ohne erkennbar innere Anteilnahme „den obligatorischen Schuldspruch im Sinne des Strafantrages und forderte eine schuld- und tatangemessene Bestrafung beide Angeklagte betreffend. Das Diebesgut sei eindeutig den Angeklagten zuzurechnen, da es unwahrscheinlich sei, dass ein Elfjähriger zwei Flakons ohne deren Zutun unter die Decke ihres Kinderwagens hätte platzieren können.“
Dann ergriff der Verteidiger mit erkennbarer Freude und fester Stimme das Wort:
„Hohes Gericht! Ich beantrage für meine Mandantinnen einen Freispruch und begründe den Antrag wie folgt: Das Beweisverfahren hat zweifelsfrei ergeben, dass den Angeklagten die ihnen vorgehaltene Wegnahmehandlung angesichts gegebener Konstellation in keiner wie immer gearteten Weise zugerechnet werden kann. Deshalb liegt im vorliegenden Fall die für einen Schuldspruch im Strafverfahren zwingend erforderliche Klarheit nicht mit hinreichender Sicherheit vor. Selbst wenn die erwiesen wäre – was ausdrücklich bestritten wird – kann in gegenständlicher causa keinesfalls von Gewerbsmäßigkeit ausgegangen werden. Von einer einmaligen Handlung kann sowohl denklogischen Gesetzen, als auch allgemeiner Lebenserfahrung folgend, nicht auf die Absicht, sich durch wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, geschlossen werden. Denn weder Nachschau noch Befragung der in die Amtshandlung involvierten Zeugen deutet auch nur im Geringsten auf ein gewerbsmäßiges Vorgehen meiner Mandantschaft hin. Ganz im Gegenteil: werden diese durch die aufgenommenen Beweise weitestgehend entlastet! Warum der § 130 StGB als eigener Anklagepunkt von der Staatsanwaltschaft in deren Strafantrag vom 14.9.1992 aufgenommen wurde, bleibt daher für mich angesichts der klaren Sachlage ein Rätsel und wird – denke ich zumindest – auch vom hohen Gericht in seiner Entscheidungsfindung nicht schlüssig nachvollzogen werden können. Aber dies sei nur am Rande, exemplarisch für die Fehlerhaftigkeit des gesamten Ermittlungserfahrens erwähnt!“
Hierauf legte der Verteidiger eine Kunstpause ein, wohl in der Absicht, das Gesagte durch das plötzlich eingetretene Schweigen ein wenig auf die Anwesenden wirken zu lassen, um daraufhin weiter in beharrender Tonlage fortzufahren.
„Bei der Gelegenheit erlaube ich mir, selbst auf die Gefahr hin mir sowohl den Unmut der ermittelnden Behörde als auch der Zeugen zuzuziehen, meiner Verwunderung über das Vorgehen der ansonsten geschätzten Anklagebehörde Ausdruck zu verleihen“, nicht ohne dem gegenüberliegenden Pult einen vorwurfsvoll anklagenden Blick zuzuwerfen. „Sowohl das Tatbestandsprotokoll, als auch die Vernehmung der beiden Zeugen muss aufgrund deren Unergiebigkeit für diese eine große Enttäuschung gewesen sein. Ich wäre an Stelle der Staatsanwaltschaft aufgrund des gegenständlichenen Einvernahmeprotokolls und den haarsträubenden Aussagen der Zeugen vor Gericht, von der Anklage zurückgetreten, hätte keineswegs die wider meiner Mandantschaft erhobenen Vorwürfe aufrecht erhalten. Denn die Suppe war – um das zutreffende Zitat unseres ehemaligen Justizministers zu bemühen – wahrlich für eine Anklageerhebung zu dünn!“
Auf das Unheil verkündende Stirnerunzeln des Vorsitzenden wendig reagierend, fuhr der sogleich hastig fort. „Auf gegenständliche Strafsache umgelegt, muss dezidiert festgehalten werden, dass die beiden Zeugen – von der Anklagebehörde wohl als Belastungszeugen aufgeboten – auf keine einzige Frage unseres verehrten Vorsitzenden eine einigermaßen plausible Antwort zu geben imstande waren. Den praktischen Beweis für meine These lieferte wohl die Anklagebehörde selbst, welche in weiser Voraussicht auf eine Vernehmung der Beiden zur Gänze verzichtete. Des einen Pech, des anderen Glück! Über meine Befragung – insbesondere jene des Zeugen Orban – hülle ich durchaus im Interesse des Vorgenannten den Mantel des Schweigens“ versicherte er spitz und fuhr abwechselnd Herrn Rat und Frau Staatsanwältin fixierend fort. „Im Sinne der Anklage substantiell Verwertbares war deren Aussagen – ich glaube, da sind sich wohl sämtliche Anwesende einig – gerade in Hinblick auf einen haltbaren Schuldspruch bei bestem Willen nicht zu entnehmen. Im Gegenteil: aufgrund der äußerst lückenhaften Beweismittelkette melde ich entgegen den Vorschriften der StPO im Falle eines Schuldspruches schon jetzt Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde an und danke im Übrigen für ihre geschätzte Aufmerksamkeit“ schloss der Verteidiger mit gewinnenden Lächeln routiniert seine Ausführungen.
Als der Richter Frau Radu fragte, ob sie vor der Urteilsverkündung noch etwas zu sagen habe, antwortete diese leise, aber bestimmt und ohne jegliches Zögern, „dass sie es nicht gewesen sei. Die Zweijährige im Kinderwagen habe nämlich ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert, sodass sie leider gar nicht mitbekommen habe, wie ihr kleiner Mirka die kleinen Flaschen unter die Decke gelegt habe.“ Bei der identen Frage an Frau Popescu schluchzte diese lediglich gut vernehmbar auf, was der Vorsitzende als Bejahung der Worte des Verteidigers interpretierte.
Tibor vom Gehörten noch völlig perplex, dachte sich verdrossen, welch unglaubliche Posse die beiden mit ihrem spitzfindigen Advokaten, der sie in seiner Kanzlei für diesen Auftritt sicherlich entsprechend präpariert hatte, aufzuführen imstande waren. Er mutmaßte, dass derselbe mit seinem Plädoyer einerseits das übergroße Ego füttern und andererseits das eingestrichene Honorar legitimieren wollte. Aber all die Taschenspielertricks würde-, konnte ihnen letztlich angesichts des sichergestellten Parfüms wohl nichts helfen, da auch er die entsprechenden Gesetzesstellen während seiner Ausbildung penibel studiert und diesen Fall mit den Kollegen aus dem Polizeidienst nach dem Training bei einem „Weizen“ eifrig durchdiskutiert hatte. Und waren sich allesamt einig wieder einen klassischen Fall an Ausländerkriminalität in der Kriminalstatistik verzeichnen zu können. Die beiden diebischen Elstern mussten einfach verknackt werden! Selbst der liberalste Richter konnte angesichts vorliegenden Sachstandes gar nicht anders. Trotz seines – da musste er dem Anwalt leider zustimmen – total verunglückten Auftritts! Von seiner anfänglichen Sicherheit war jedenfalls nicht mehr viel übrig und so erwartete er nervös und mit sichtlich angespannter Miene das Urteil. Als der Richter sich erhob und die Anwesenden aufforderte, es ihm gleichzutun, sprang auch Zeuge Orban beflissen auf um zu seiner grenzenlosen Verblüffung folgenden Urteilstenor zu vernehmen:
„Vernehmen Sie das Urteil im Namen der Republik! Sowohl die Erstangeklagte Elena Radu, als auch die Zweitangeklagte Maria Popescu werden von dem gegen sie mit Anklageschrift vom 3.4.1991 erhobenen Vorwurf, sie hätten im „Messepark“ in Dornbirn gewerbsmäßig fremde bewegliche Sachen in einem ATS 25.000,-- nicht übersteigenden Wert gem. §§ 127, 130 StGB dem „Interspar“ mit dem Vorsatz weggenommen, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmässig zu bereichern, gem. § 259 Z 3 StPO freigesprochen.“
Danach nahm er wieder Platz, ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, bei seinem Tun eine innere Ruhe und Gelassenheit ausstrahlend. Tibor wurde beim Hinsetzen leicht schwindlig und dachte, dass dies alles nicht wahr sein könne, er sich in einem schlechten Film befinden müsse. Seine ursprüngliche Skepsis war einer tiefen inneren Zerrissenheit gewichen. Er verspürte einen stechenden Schmerz in der Brust und eine starke Errötung im Gesicht, die sich unglücklicherweise rasend schnell verstärkte, bevor er den ausdruckslos neutralen Tonfall des Richters mit der Urteilsbegründung vernahm:
„Ich hege doch erhebliche Zweifel an der Schuld der beiden Angeklagten, da der elfjährige Junge der Erstangeklagten in der Vernehmung vor der Gendarmerie laut Zeugenaussage Maier tatsächlich unter Tränen angegeben hat, strafgegenständliche Parfümflaschen ohne Wissen und Zutun seiner Mutter und deren Freundin unter die Decke des Kinderwagens gesteckt zu haben. Über Nachfrage des Vorgenannten habe der heulend „für meine beste Freundin“ angegeben. Des Weiteren hat die polizeiliche Nachschau, sowie die in diesem Zusammenhang klare Aussage Inspektor Maiers nichts Belastendes hinsichtlich einer allfällig „gewerbsmäßigen Begehung“ zu Tage gefördert. Auch Zeuge Orban vermochte mit seiner Aussage die Verantwortung der beiden Angeklagten in keiner Weise zu erhellen, geschweige denn zu bekräftigen. Ganz im Gegenteil: entlastete gerade dessen Aussage sowohl Erst-, als auch Zweitbeschuldigte, da von ihm keine aktuelle Wegnahmehandlung beobachtet werden konnte, sein diesbezüglicher Vorwurf daher lediglich auf unbewiesenen Vermutungen beruht. Den Ausführungen des Verfahrenshelfers wird daher seitens des Gerichtes vorbehaltlos beigepflichtet, dass die vorgeworfene Tat nicht mit hinreichender Sicherheit als erwiesen gelten kann. Ein für einen Schuldspruch zwingend ausreichender Beweis konnte seitens der Anklagebehörde nicht erbracht werden. Zugegebenermaßen ungewöhnlich, aber nicht vollkommen denkunmöglich, das die seitens des Zeugen Orban sichergestellten inkriminierten Gegenstände in einem unbeaufsichtigten Moment auch vom strafunmündigen Sohn der Erstbeschuldigten Radu unter der Decke des Kinderwagens deponiert worden sein könnte.“
Nachdem die Staatsanwältin keine Erklärung mehr abgegeben hatte, war – dies erkannte auch Tibor in all seiner Verwirrtheit – wohl davon auszugehen, dass sie das Urteil – diesen ominösen Freispruch – zu akzeptieren gedachte und aller Wahrscheinlichkeit nach kein Rechtsmittel mehr dagegen ergreifen würde. Augenblicklich wurde ihm klar, warum sie ihn nicht vernommen, ja nicht einmal mehr eines Blickes gewürdigt hatte. Das Auftreten ihres „Kronzeugen“ vor Gericht war für sie wohl allzu enttäuschend gewesen. Welche Blamage! Während sie sich allseits erhoben, nahm er noch im Hinausgehen wahr, wie sich Richter und Staatsanwältin gemeinsam schon wieder über neue Akten, die wahrscheinlich sofort im Anschluss zu verhandeln waren, beugten. Desillusioniert verließ er ungläubig seinen Kopf schüttelnd den Verhandlungssaal, da zwängten sich schon wieder neue „Kandidaten“ samt ihren Rechtsvertretern an ihm vorbei in den Verhandlungssaal. Als er niedergeschlagen hastig den langen tristen Korridor entlang auf den Eingang zusteuerte um nach seinem persönlichen Desaster endlich wieder an die frische Luft zu kommen, klopfte ihm plötzlich jemand von hinten beinahe freundschaftlich auf die Schultern. Zu seinem großen Erstaunen war ihm – offensichtlich in Kenntnis seines derzeitigen Seelenzustandes – der jugendlich wirkende Advokat nachgeeilt, um ihn mit den lapidaren Worten „Sieh´s doch sportlich“ zu beruhigen. Als er ihn jedoch mitleidheischend um dessen Einschätzung zum Ausgang des Verfahrens bat, erwiderte der Anwalt ruhig. „Entschuldige bitte, aber ich habe jetzt absolut keine Zeit, bin dank dieser Lappalie ohnehin schon reichlich in Verzug-, in Wirklichkeit eigentlich schon zu spät dran. Die Verhandlungsdauer wurde von Dr. Klagian lediglich auf eine Stunde anberaumt, hat aber dank unseres kleinen Scharmützels beinahe deren Zwei gedauert. Ich sollte mich eigentlich bereits seit 14.30 Uhr in einer wichtigen Besprechung in den Räumlichkeiten der Landesdirektion der „Interunfall“ befinden. Muss mich aufgrund der Terminkollision jetzt jedoch sputen. Es wartet eine tragische Angelegenheit, eine Schadenersatzgeschichte, bei der es um nichts weniger, als die zukünftige Existenz meines Mandanten geht. Besitzt gleich „Kapitän Ahab“ nach einer Kollision mit einem unachtsamen Autofahrer nur noch eineinhalb Beine, der arme Teufel. Humpelt wohl für den Rest seines irdischen Daseins gleich dem Romanhelden Melvilles auf Krücken durchs Leben. Diese Geschichte hier war lediglich pro bono, sozusagen meine täglich gute Tat, wohltuend für ein ruhiges Gewissen! Jetzt geht’s wirklich zur Sache, für meinen Mandanten in finanzieller Hinsicht ans Eingemachte. Die gegnerische Partei wartet schon. Wünsche im Übrigen noch zahlreiche erfolgreiche „Abschüsse“ mit zur heutigen „Partie“ umgekehrten Ergebnissen. Aber die Kopfprämie für die Beiden hast Du ohnehin sicher bereits von deinen Auftraggebern kassiert!“ Nachdem er ihm ein wenig nachlässig die Hand geschüttelt hatte, überreichte er ihm lachend seine Visitenkarte „für den Notfall“ und eilte hurtig von dannen.
Den da muss ich mir merken, vielleicht brauche ich ihn ja wirklich irgendwann einmal. Ein guter Mann, trotz seiner Jugend schon so professionell, musste der Geschlagene neidlos seine bittere Niederlage gegen den von ihm anfänglich so verächtlich apostrophierten „Winkeladvokaten“ eingestehen und steckte die Karte in seine Brieftasche. Erleichtert trat er durch das Eingangstor ins Freie und atmete tief die frische Luft ein. Zu seinem Erstaunen schmerzte die anfänglich so verheerend empfundene Niederlage nicht mehr. Die tröstende Geste des Advokaten war Balsam für seine Wunden, hatte sein angekratztes Ego befriedet. „Wieder etwas dazu gelernt“ dachte er sich mittlerweile gar ein wenig amüsiert. Allerdings nur bis zum Zeitpunkt, als sich sein vermeintliches „Opfer“ Radu und deren Helfershelferin Popescu wieder in sein Blickfeld schoben, die ebenfalls einträchtig durch das breite Tor traten. Radu umarmte zum Abschied ihre Busenfreundin Popescu herzlich, der vor lauter Erleichterung über den Freispruch Freudentränen über das wettergegerbte Gesicht liefen. Als die rumänische Landsfrau jedoch den verhinderten Waidmann erblickte, näherte sie sich ihm unverfroren und bedachte ihn mit einem triumphierenden Blick. Er vermeinte kaum hörbar in gebrochenem Deutsch und gesenkter Stimme „Du elender Trottel, ich verachte euch alle ob eurer Dummheit!“ zu vernehmen, was den Bedauernswerten tief schlucken und seine kalten Augen stieren ließ. Äußerlich blieb er in der Befürchtung dieser alten Wetterhexe wohl nicht gewachsen zu sein, jedoch gelassen. Mit diesem freundlichen Akt verlies auch er – ganz wie sein am Verfahren als Zeuge beteiligter „Kollege“ – frustriert mit dem Gedanken, dass man doch eine Bürgerwehr gegen dieses Gesindel gründen sollte, „Hals über Kopf“ das weitläufige Gerichtsgelände, diesen staatlich verordneten Hort der Gerechtigkeit. Als er in sein elf Jahre altes Fahrzeug japanischer Herkunft in der Gewissheit, dass in dieser Gesellschaft etwas gewaltig schief lief – bei dem kleinen „Gfraster“ zum Nachteil der Allgemeinheit die Verbrecherlaufbahn schon vorgezeichnet sei – einstieg, sah er den jungen bebrillten Schnösel gerade im neuesten Modell des „911ers“ vertraut grüßend mit verhalten röhrendem Motor an ihm vorbeirauschen. Tibor, der immer noch mit seiner Restwut rang, warf diesem zum Abschied eine versöhnliche Geste, nicht ohne bitteren Beigeschmack bei ihm hinterlassend, zu.