Читать книгу Höhenangst - Kurt Flatz - Страница 7
Trautes Heim
ОглавлениеDas Trainingslager heil überstanden befand sich Darius bereits seit zwei Wochen zuhause. Froh wieder in seiner vertrauten Umgebung zu sein, hatte er sich rasch in die heimische Atmosphäre eingelebt. Obwohl mit Mutter und seinen beiden Halbschwestern in beengten Verhältnissen wohnend, genoss er die blitzsaubere Dreizimmerwohnung. Die Fünfjährigen verehrten ihren großen Halbbruder wegen seiner sportlichen Erfolge und liebten ihn wegen dessen fürsorglicher Art. Auch deren leiblicher Vater hatte Mutter bereits vor der Geburt der Zwillinge verlassen woran auch Darius erheblichen Anteil hatte. Er hatte sich nie richtig mit ihm verstanden. Da aber zwischen seiner Mutter und dem Erzeuger der Kleinen schon seit Anbeginn Auffassungsunterschiede der gemeinsamen Lebensgestaltung bestanden, war der Auszug seines Stiefvaters lediglich eine Frage der Zeit. Seine offene Abneigung für ihn nicht weiter schlimm. In Darius Augen hatte der durch sein unleidliches Verhalten Mutter gegenüber lediglich in ihrem Bemühen sich von dessen Tyrannei zu befreien unterstützt, diese einer zentnerschweren Last enthoben. Als die Zeit dieses Tunichtguts abgelaufen war, stellte er nun das einzige männliche Mitglied in der Familie dar. Von Schuldgefühlen befreit, fühlte er sich von seinen drei Mädels – wie er sie ein wenig salopp bezeichnete – behütet und umsorgt. Umgekehrt war sein Verantwortungsgefühl für die Kleinen besonders ausgeprägt, da sie das Schicksal einer vaterlosen Existenz teilten. Dass dieser Umstand in bestimmten Momenten schmerzhaft sein konnte wusste er, und sie würden es noch leidvoll erfahren. Er gefiel sich in der Rolle des Beschützers und fühlte sich für die drei Mädels verantwortlich. Mutter ging diesen Weg ein Stück weit mit, hatte sie sich doch seit diesen enttäuschenden Erfahrungen – obwohl erst Ende dreißig und durchaus attraktiv – von der „Männerwelt“, wie sie Beziehungen heterosexueller Art fortan verächtlich zu bezeichnen pflegte, verabschiedet. Ihr Fokus lag nunmehr einzig auf der Aufzucht und Erziehung ihres Nachwuchses sowie dem von ihr ausgeübten Beruf einer Krankenpflegerin, dem sie mit Leidenschaft nachging. Geschlechtliche Aktivitäten wurden aus ihrem Bewusstsein zur Gänze verbannt, ihre diesbezüglichen Defizite von Darius in seiner Unerfahrenheit gar nicht registriert. Er erfreute sich in erster Linie nach der Rückkehr von seinen „Heldentaten“, welche aus Meisterschaften, Turnieren und Kämpfen mit Volksfestcharakter bestanden, auf seine Familie, als dessen Oberhaupt er sich verstand. Die Turniere bescherten ihm Pokale und Medaillen, die Volksbelustigungen ein wenig Geld. Diesen Haushaltszuschuss pflegte er in Anwesenheit der beiden Kleinen mit stolzgeschwellter Brust und gönnerhafter Miene Mutter auszuhändigen. In Wirklichkeit handelte es sich bei der kleinen Familie jedoch um ein Matriarchat klassischen Zuschnitts. Selbiges wurde von Mutter liebevoll und mit aller Umsicht, aber nicht gänzlich frei von Bitterkeit ausgeübt, denn ihr Unterbewusstsein hatte die Abwesenheit jeglicher Sexualität sehr wohl abgespeichert, der Geschlechtstrieb dieses Manko naturgemäß registriert. Mutter – mit diplomatischen Gespür ausgestattet – überließ Darius im Außenverhältnis nur zu gerne die Rolle des „Familienoberhauptes“, dirigierte aber im Innenverhältnis nahezu uneingeschränkt die Geschicke ihrer Familie. Solcherart gestärkt stand Darius im Kreise seiner Familie im Gegensatz zur Schul- und Sportausübung unter keinem Erfolgsdruck. Er konnte mit ihnen herrlich herumalbern und in seiner kargen Freizeit gemeinsame Ausflüge in die nähere Umgebung unternehmen. Das Angebot an lohnenden Zielen war in der Region rund um den Bodensee sehr reichhaltig, durfte aber in ihrem Falle nicht mit allzu vielen Ausgaben verbunden sein. Mit dem kleinen betagten Auto befanden sie sich in kürzester Zeit inmitten der Bergwelt, der Schweiz oder Deutschland, wo sie genussvoll ihre Jause – als opulentes Picknick deklariert – verspeisten. Die kulturellen Angebote wurden ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des kostenfreien Zutritts genutzt. Einziger Streitpunkt zwischen ihr und ihm bildete regelmäßig seine von ihm ausgeübte Sportart, mit der sie sich partout nicht anfreunden konnte. Sie, die sich an der Genesung „ihrer Patienten“ erfreute, konnte in keiner Weise nachvollziehen, wie man in einem sportlichen Wettbewerb seinem Rivalen vorsätzlich ein Schädel-Hirntrauma herbeizuführen trachtete. Seine Erklärung, dass bei den Amateuren das Sammeln von Punkten und nicht das Herbeiführen eines Knockouts im Vordergrund stand, nahm sie mit einiger Skepsis zur Kenntnis. So war sie immer erleichtert, wenn er von diesen Kämpfen mehr oder minder unversehrt zurückkehrte. An die Blessuren hatte sie sich mittlerweile schon gewöhnt, aber an ihrer Distanz zu diesem Sport würde sich ungeachtet allen Stolzes auf ihren Sohn wohl nie etwas ändern. Denn die wenigen Kämpfe, die sie ihm zuliebe besuchte, bestätigten sie in ihrer Einstellung: wurde ihr durch die Nähe vor Augen geführt wie schnell und hart dieser Sport doch war, insbesondere sie von den Saalordnern ihren Platz unmittelbar am Ring zugewiesen bekam. Überdies missfiel ihr das anwesende Publikum, welches ihr aufgrund ihres dubiosen Äußeren und ihrer grölenden Art fremd war. Ebenso störend, dass der vom Sohn ausgeübte Sport aufgrund des anrüchigen Charakters nicht den besten Ruf in der Öffentlichkeit genoss. Vorteilhaft in ihren Augen, das diese Art der Sportausübung keine finanziellen Mehrausgaben verursachte. Da er aber kein schlechter Schüler war, der später auch studieren sollte, hoffte sie insgeheim, dass er die rohe Freizeitbeschäftigung in Kürze beenden würde, da bereits in zwei Jahren die Matura anstand. Die Tatsache, dass seine Sportausübung keine Mehrbelastung, im Gegenteil sogar ihr Scherflein zu ihrem schmalen Haushaltsbudget beisteuerte, erfüllte sie jedoch mit Dankbarkeit. Die Berichte der hiesigen Regionalzeitung, welche die Erfolge des Sohnes im Sportteil dokumentierten, wurden jedenfalls von ihr unverzüglich ausgeschnitten und in einem eigens zu diesem Zweck angeschafften Album fein säuberlich eingeklebt. Auch hatte sie in ihrer Wohnung eigens eine kleine Ecke für seine zahlreichen Auszeichnungen wie Medaillen, Urkunden und Pokale geschaffen, die einen Ehrenplatz erhielten, den peinlich sauber zu halten ihr ein stetes Anliegen war. Da Österreich innerhalb des Sozialsystems über ein breit ausgebautes Stipendienwesen verfügte, sah sie der studentischen Zukunft Darius voller Optimismus und Freude entgegen. Wie viele Mütter sah sie ihren einzigen Sohn in ihrer Vorstellung bereits als Rechtsanwalt oder Arzt, jedenfalls als „etwas Besseres“. Dabei tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass der durch den Sport geförderte Leistungsgedanke ihres Sohnes sich dann wunderbar auf eines dieser Berufsziele umlegen ließe. Deshalb hoffte sie inbrünstig, dass der Spuk in Bälde beendet sein- und ihr Sohn diese in ihren Augen gefährliche Zeitspanne ohne gröbere Verletzungen überstehen möge. Darius fühlte sich in seinem Stammverein nicht nur aufgrund seiner Erfolge, sondern in erster Linie wegen der Kameradschaft unter den Faustkämpfern und der familiären Atmosphäre wegen wohl. Er war sehr dankbar was der BC Dornbirn – ein kleiner Provinzverein mit beschränkten Mitteln – bereits für ihn getan hatte. Der Vereinsvorstand unterstützte seine sportlichen Ambitionen mit ganzer Kraft, förderte ihn wie und wo er nur konnte. Eine ganz besondere Rolle nahm für ihn sein Trainer ein, der ihm Berater nicht nur in sportlichen Belangen, sondern vielmehr Ratgeber in allen Lebenslagen war. Dies rührte daher, dass Darius seinen leiblichen Vater kaum kannte, da dieser Mutter bald nach seiner Geburt wegen einer anderen Frau mit unbekanntem Ziel verlassen hatte. Der vor Gericht erstrittene Unterhaltstitel war praktisch wertlos, da sich Vater durch häufig wechselnde Arbeitsstellen immer wieder der vom Gesetz auferlegten Verpflichtung geschickt entzog. Die vom Exekutor eingetriebenen Geldbeträge flossen nur spärlich, bildeten somit keine verlässliche Grundlage in Mutters Haushaltsplanung. Die Rolle des Ersatzvaters nahm aber sein Trainer nur allzu gerne an, da er von seinem leiblichen Sohn aufgrund dessen Drogenkonsums mit all seinen nachteiligen Folgen schwer enttäuscht wurde. Eduard erfreute sich als Leiter des städtischen Bauhofes allgemeiner Beliebtheit, aber die Suchterkrankung seines Sohnes bot in der kleinen Stadt natürlich reichlich Stoff für Klatsch und Tratsch. Er wurde im Laufe der Jahre durch die mit der Erkrankung zwangsläufig einhergehenden Eskapaden seines Sohnes allmählich zermürbt und hatte bezüglich seines Nachwuchses bereits resigniert. Umso mehr erfreute ihn Darius, den er als Fünfjähriger auf dem hiesigen Fußballfeld anlässlich eines Vorschulturnieres erspäht und mit geschultem Blick sofort das Ausnahmetalent des kleinen Steppke erkannt hatte. Die Weise wie der Knirps seine erheblich älteren Mitspieler nach allen Regeln der Kunst austrippelte, stellt in den Augen jedes ambitionierten Trainers – wie auch Eduard – ein Genuss dar. Solcherart herausragende motorische Fähigkeiten schon in diesem frühen Kindesalter anzutreffen war rar, obwohl er permanent Ausschau nach jungen Talenten hielt. Für seinen Sport, welchen er seit Jugendzeiten leidenschaftlich und auch mit einigem Erfolg ausübte, war dieser kaum dem Säuglingsalter entwachsene Junge ein seltener Glücksfall. Dessen Potential auszuschöpfen und zu einem kompletten Faustkämpfer zu formen eine geradezu traumhafte Vorstellung für ihn, den alten Kämpfer. Er selber war seinerzeit als Aktiver auch nicht erfolglos gewesen, immerhin mehrfacher nationaler Meister und sogar einmal als Einziger seines Landes für ein internationales Turnier im Ausland qualifiziert. Dort schied er allerdings erwartungsgemäß bereits in der Vorrunde ohne jede Chance aus. Eduard hatte allerdings die Rechnung ohne den Wirt in Gestalt der Mutter des kleinen dunkelhaarigen Jungen gemacht. Diese zu überreden zumindest ein Probetraining mit ihrem Jungen durchführen zu dürfen war, als sie erfuhr um welche Sportart es sich handelte, ein gehöriges Stück Schwerstarbeit. Nur dank seines ausgezeichneten Rufes sowie Beharrlichkeit seinerseits erschien sie nach zahllosen Interventionen mit dem Kleinen zu einem von ihm eigens abgehaltenen Schnuppertraining. Schon bei den Koordinations-, Reaktions- und Konzentrationsübungen, welche Eduard mit ihm durchführte übertraf der Bengel auf Anhieb die ohnehin hohen Erwartungen des Trainers. Auch in weiterer Folge entwickelte sich der Kleine ganz nach seinen Vorstellungen. In technischer Hinsicht erlernte der Knirps aufgrund seiner raschen Auffassungsgabe das nötige Schlagrepertoire fast von selbst. Wie viele hoffnungsvolle Talente waren schon durch die Hände Eduards gegangen und zu seiner Enttäuschung aus unzähligen Gründen wieder abgesprungen. Mangelnder Fleiß, charakterliche Mängel, pubertäre Erscheinungen sowie zahlreich andere Gründe. Bei dem Knaben jedoch schien ein ausgewogenes Verhältnis von Talent, Durchhaltevermögen sowie der nötigen Intelligenz vorhanden, um im Ring erfolgreich bestehen zu können. So entwickelte sich in kurzer Zeit zwischen den beiden eine Art Vater-Sohn Beziehung, was auch Mutter mit heimlicher Freude registrierte, da ihr der positive Einfluss des väterlichen Trainers nicht verborgen blieb. „Edy meint dies, Edy macht das…“ hörte sie ihren Kleinen plappern. Bereits nach wenigen Jahren Aufbauarbeit wurde der Heranwachsende vom Verein zu diversen Schülerturnieren geschickt, die dieser allesamt spielend gewann. Mit zwölf errang er die nationale Jugendmeisterschaft, mit vierzehn bereits die allgemeine Klasse, wo er als technisch bester Boxer des gesamten Turniers ausgezeichnet wurde. Da auf nationaler Ebene bald keine ernsthaften Gegner mehr vorhanden waren, wurde er vom Verband auf internationale Turniere entsandt, in denen er zumeist als Sieger das Seilgeviert verließ. Der größte Erfolg war der Gewinn der Kadetteneuropameisterschaft in Budapest, bei der er sämtliche Athleten aus dem Ostblock besiegen konnte. Der Titel verschaffte ihm in seinem Heimatland auch außerhalb der Boxszene einen gewissen Bekanntheitsgrad, da dieses Kunststück noch nie einem Boxer seines Landes gelungen war. Die baufällige alte Sporthalle in der Darius beinahe täglich zwei bis drei Stunden trainierte, war mittlerweile für ihn so etwas wie sein Wohnzimmer geworden. Hier fühlte er sich sicher und geborgen, da er hier fast so viel Zeit wie zu Hause und in der Schule verbrachte. Nachdem er einige Übungen an den Gewichten durchgeführt hatte, beorderte ihn Edy zu sich und lies ihn zum Ausgleich ein wenig Seilspringen, da ihn zu viel Krafttraining vor diesem entscheidenden Turnier zu langsam und träge machen würde. Zum Aufwärmen vor dem anstehenden Sparring mit Gegner verschiedener Gewichtsklassen – alle älter als er – ließ ihn sein Coach einige Dehn- und Streckübungen durchführen. Nachdem die Pflicht beendet war begab sich Darius voller Vorfreude auf die Kür in die Umkleidekabine um die Turnschuhe gegen seine Boxstiefel auszutauschen, da erstere für das anstehende Sparren ungeeignet waren. Als er den Spind öffnete vermeinte er seinen Augen nicht zu trauen, denn was er da sah oder besser nicht sah, war eigentlich nicht möglich: Nichts! Die aufbewahrte Straßenbekleidung, -schuhe und Geldbörse wurde von dem Jungen gar nicht registriert, denn sein Fokus war auf eine einzige Sache gerichtet: Anstelle der Boxstiefel nur ein leeres Loch! Er musste zu seinem grenzenlosen Erstaunen feststellen, dass sich die Stiefel nicht mehr an ihrem Platz befanden. Fieberhaft durchsuchte er den Spind von oben nach unten, aber sie waren und blieben verschwunden. Immer wieder fixierte er die gähnende Leere, wo er den Schuhsack hingelegt hatte. In seiner Verwirrung verstieg er sich in den Gedanken, dass er sie doch zu Hause vergessen haben musste. Aber leider unmöglich, weil er, da er die Schuhe sonst nur zu den Kämpfen überzog, Tatjana eigens gebeten hatte, sie aus dem Schrank zu holen und ihm zu bringen. Nachdem sie ihm den Sack in die Hand gedrückt hatte, wurde derselbe eigenhändig in die Sporttasche gepackt. Dann zog in Sekundenschnelle der gesamte Ablauf an seinem geistigen Auge vorbei: alptraumhaft, wie er hier vor zwei Stunden die Tasche ausgepackt und die Stiefel in das obere Ablagefach gelegt, und die sich jetzt in Nichts aufgelöst hatten. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte! Aufgelöst rannte er hinaus in die Halle und rief noch im Lauf lautstark in den Raum, ob jemand versehentlich seine Stiefel angezogen habe, was aber allgemein verneint und von ihm auch nicht wirklich erwartet wurde. Kein Sportler würde es wagen den Spind eines Kollegen zu öffnen, gar dessen Stiefel überzuziehen. Ein absolutes Unding! Sofort machte er auf dem Absatz kehrt und spurtete hurtig zurück in die Umkleidekabine, die er in Windeseile systematisch nach seinen Stiefeln zu durchsuchen begann, spürte aber intuitiv, dass diese wohl unauffindbar blieben. Seine Intuition hatte ihn nicht getäuscht, denn auch die Umkleide blieb leer. Es dauerte einige Minuten bis sein verwirrter Geist realisierte, dass diese wohl entwendet wurden. Dieser Tatsache stand er fassungslos gegenüber, wusste doch jeder seiner Sportkameraden wie wichtig ihm die Stiefel waren. Mit denselben hatte er seine bislang größten Erfolge im Ring gefeiert und es verband ihn eine Vielzahl schöner Erlebnisse mit denselben. Als der Trainer seinen sonst so ruhigen Zögling wie ein aufgescheuchtes Huhn in den Saal und wieder zurück in die Kabine eilen sah, etwas von Boxstiefeln vernahm, unterbrach er das „Pratzentraining“ mit einem anderen Boxer um unverzüglich seinem Rohdiamanten nachzueilen. Er fand ihn mit hängendem Kopf auf der Kabinenbank sitzend und fragte mit angespannter Miene:
„Was ist denn los mein Junge?“ Als ihm Darius resigniert vom Verlust der Stiefel berichtete versuchte ihn Edy zu beruhigen, was – wie er wusste – unmöglich war. Ebenso unmöglich, geradezu undenkbar war für Edy aber auch, dass aus „seinem Allerheiligsten“ persönliche Sachen der Jungs verschwinden konnten, denn damit war die Saat des Misstrauens gesät. Eine unbegreifliche und bestürzende Vorstellung für den Aufrechten, dass sich ein Dieb unter den Schützlingen befand. Unverzeihlich, seinen Kameraden, während die sich in der Halle abmühten, aus der frei zugänglichen Garderobe Gegenstände zu entwenden. Was musste das für ein charakterloser Geselle sein, der sich erdreistete, einen Kameraden während des Trainings zu bestehlen dachte sich Edy angewidert. Sollte sich der Verdacht bestätigen und Darius die Stiefel tatsächlich entwendet worden sein, würde er alles unternehmen diesen ehrlosen Halunken dingfest zu machen und dann Gnade ihm Gott! Er wusste nur zu genau, was die Stiefel für Darius bedeuteten, hatte er sie doch seinem Schützling letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Er erinnerte sich gut an den für ihn so berührenden Moment: den ungläubigen Blick von Darius, als er das Geschenk ausgepackt und der relativ teuren Stiefel ansichtig wurde. Die Augen des Jungen glänzten geradezu vor Freude, als die Hände vorsichtig, fast liebevoll über das hochwertige Känguruleder mit den verschweißten Sohlen strichen. Das Feinste vom Feinen! Darius entgingen selbst die in leuchtendem Orange eingestickten winzigen Initialen nicht und sein Gesicht leuchtete bei deren Anblick gleich seiner Lieblingsfarbe. Edy hatte sie eigens für ihn bei einem Kürschner einsticken lassen, um die Besitzverhältnisse klar zu dokumentieren, gleichermaßen ein Statussymbol für „seinen Jungen“. Und jetzt dieses Malheur! Es konnte sich bei diesem Kameradendiebstahl nur um einen Akt der Bosheit, welcher im Neid auf seine grandiosen Erfolge ihre Ursache hatte, handeln. Der Dieb konnte mit den Stiefeln gar nichts anfangen, sie weder anziehen noch verkaufen. Diese speziellen Schuhe besaßen außerhalb des Rings keinen Gebrauchswert und Jeder würde sie sofort Darius zuordnen. Edy begriff, welche Affinität den Jungen mit diesen Schuhen verband. Er half – innerlich empört und äußerlich mit hochrotem Kopf – Darius noch pro forma die Schuhe zu suchen, aber auch er ahnte, dass die Schuhe verschwunden waren. Nach erfolgloser Suche war für Edy gewiss, dass mit dem Jungen heute wohl nichts mehr anzufangen war und schickte diesen mit dem aufmunternden Zuspruch, dass er dieselben vielleicht doch zu Hause vergessen hatte, nach Hause. Ihm war allerdings klar, dass dies keinesfalls der Fall war, da sein Schützling zu jedem Zeitpunkt sicher genau wusste, wo sich dessen heilige Boxstiefel – des Jungen wertvollster Besitz – befanden. Als Darius niedergeschlagen durch die Türe trat, registrierte Mutter sofort an seiner Haltung und dem konsternierten Blick, dass etwas Unangenehmes vorgefallen sein musste und fragte mit sorgenvollem Blick:
„Du siehst ja aus wie ein geprügelter Hund. Was in Gottes Namen ist denn nur geschehen? Selbst die Kleinen erkannten sofort dass ihrem Bruder etwas Unangenehmes zugestoßen sein musste und bestürmten ihn ebenfalls mit Fragen. Nachdem er stockend „Meine Stiefel sind verschwunden“ hervorpresste, zeigte sich in den Mienen der Beiden Betroffenheit, denn selbst sie wussten um deren Bedeutung. Mutter nahm ihn in die Arme und tröstete ihn mit den Worten. „Ist doch nicht so schlimm, ich erhalte ohnehin bald das Weihnachtsgeld und werde dir die Stiefel ersetzen. Habe somit schon ein passendes Weihnachtsgeschenk für dich“ versuchte sie ihn mit ernster Miene aufzurichten. Darius hingegen wusste, dass dieses Geld schon längst verplant war und wies deren Ansinnen empört zurück. Durch ihre Selbstlosigkeit beschämt wurde er noch erregter und wollte sich partout nicht mehr beruhigen. Als die Zwillinge unisono zu weinen begannen, verzog er sich schließlich schuldbeladen in sein Zimmer. Je größer die Anstrengungen sich zu beruhigen umso weniger gelang dieses Unterfangen. Immer und immer wieder ging er im Geiste den Verlauf des Abends durch, suchte nach Entschuldigungen für das Verhalten eines allfälligen Diebes, kam aber erwartungsgemäß zu keinem befriedigenden Ergebnis. Den Gedanken, dass es keiner seiner Sportkameraden gewesen sein konnte, musste er wieder verwerfen, da sich die Tür zur Halle lediglich von innen öffnen ließ. In der Umkleidekabine sammelten sich manche Wertgegenstände wie Uhren, Brieftaschen und anderer Utensilien an, welche offen herumlagen, denn es war selbstverständlich, dass unter Sportlern nichts wegkam. Der Verein kam im Wissen um die Gefahrenträchtigkeit in vorbildlicher Weise seiner Fürsorgepflicht nach. Derselbe kümmerte sich nicht nur um die körperliche, sondern auch die moralische Ertüchtigung ihrer Zöglinge. Den jungen Athleten wurde eine Vielzahl an Schlagtechniken beigebracht, mit der eigentlichen Zielsetzung dem Gegner für mindestens zehn Sekunden das Bewusstsein zu rauben. Ein solch martialischer Sport bedurfte einer begleitenden charakterlichen Schulung, welcher allerdings nicht alle entsprachen und dann auf Geheiß Edys unverzüglich den Verein zu verlassen hatten. Für Raufbolde, welche sich hier nur das nötige Rüstzeug „für die Straße“ holen wollten, war kein Platz und wurden vom Trainer energisch zu anderen Vereinen geschickt, wo sie Hand-, Fußball oder was auch immer spielen und sich austoben konnten. „Boxen spielen“ kann man eben nicht, dazu war die Angelegenheit zu ernst. Was Darius irritierte, derselbe nicht zu verstehen vermochte, war der unglaubliche Umstand, dass ihn einer seiner Klubkameraden bestohlen habe sollte. Er war bei allen beliebt, für die meisten ein Vorbild, dem nachzueifern sie trachteten. Gerade in jüngster Zeit hatte der Verein einen beachtlichen Zuwachs an jungen Boxern zu verzeichnen, was nicht zuletzt sein Verdienst war. All dies und noch eine Menge mehr ging ihm durch den Kopf. Er wälzte sich unruhig im Bett, drehte sich mal links, mal rechts, bevor er endlich mit der Hoffnung, dass sich die Stiefel doch noch finden ließen wegdämmerte. Wirre Träume durchzogen den Schlaf. Nach einer Nacht, in der er kaum geschlafen hatte, wachte er schweißgebadet auf. Sofort war sein erster Gedanke wieder bei „seinen Boxstiefeln“. Der Schmerz über diesen Verlust saß so tief, dass er sich wiederum unruhig im Bett wälzte und ungeachtet der Träume am liebsten weiter vor sich hin gedöst, sich allen anstehenden Verpflichtungen entzogen hätte. Alleine der Gedanke, dass er nicht wusste, wo sich diese jetzt befanden, bereiteten ihm körperliche Schmerzen, die er als unerträglich empfand. An welchem Ort und in wessen unwürdigen Schrank sie sich wohl befanden? Unglaublich, das war doch nicht möglich, dass diese von einem zum anderen Moment so einfach aus seinem Leben verschwanden, sich nicht mehr in seinem sicheren Gewahrsam befanden! Wie oft hatte er die Fußbekleidung vor Kämpfen mit trockenem Mund und zitternden Händen übergezogen. So aufgeregt, dass er nicht mehr fähig war, sie eigenhändig zu schnüren. Edy oblag dann die Tätigkeit während er im Geiste bereits das vorstehende Gefecht mit geschlossenen Augen und wiegenden Kopf minutiös vorwegnahm, die Zeit des Bindens zum mentalen Training nutzte. Und wie euphorisiert und erleichtert hatte er diese nach seinen Triumphen im Ring wieder ausgezogen. Er konnte sich – bis auf eine schmerzliche Ausnahme – nicht erinnern einen Kampf in diesen verloren zu haben und so symbolisierten die Stiefel für ihn jenen Erfolg, den er über alles liebte. Und er hasste – wie die meisten Leistungssportler – nichts so sehr wie Verlieren! Er hatte die Stiefel mittlerweile in einem Ausmaße personalisiert, dass sie ihm in den knapp zwei Jahren indem sie sich in seinem Besitz befanden praktisch zu einem Freund und engen Vertrauten geworden waren; deren Verlust er sich nicht einmal im Traum hätte vorstellen können. Darius liebte es, wie das weiche Leder wie eine zweite Haut anschmiegsam seine Füße bis über die Knöchel hinauf umhüllten. Sie vermittelten ihm, während er unter aufmunternden Zurufen der Zuschauer in heimischen Ringen durch die Seile stieg, zumeist ein Gefühl der Sicherheit, ja geradezu körperlicher Unantastbarkeit. Bei auswärtigen Auftritten unter Pfiffen und Buhrufen jedoch ein Gefühl der Geborgenheit, da er wusste, dass die anfänglich feindselige Stimmung in fremden Revieren bald zu seinen Gunsten umschlagen würde. Nachdem er den Ring unter den Jubelrufen der Zuschauer wieder verließ, ein einzigartiges Gefühl der Erhabenheit, die ihm die siegreichen Ringschlachten in besagten Schuhen bescherten. Unvergleichlich der Geruch, den sie beim Verlassen des Rings ausströmten und er diesen regelmäßig wie ein Narkotikum in sich aufsog. Dieses Phänomen war aber in Wirklichkeit nicht auf besagte Sportschuhe, sondern vielmehr auf seinen einzigartigen Kampfstil zurückzuführen. Derselbe war durch eine für das menschliche Auge kaum wahrnehmbare Geschwindigkeit und einer traumwandlerischen Sicherheit der technischen Ausführung geprägt. Für die fachkundigen Besucher war es faszinierend, wie ein Junge so komplexe Schlagserien und Bewegungsabläufe auszuführen imstande war. Darbietungen in dieser Perfektion konnten sie ansonsten anlässlich großer Profikämpfe oder bei der alle vier Jahre stattfindenden Olympiaübertragung im Fernsehen bewundern. Unglaublich, ganz so, als wären ihm diese Fähigkeiten schon angeboren, er sie im Laufe der Zeit vollkommen verinnerlicht hatte. Ein Wahnsinn, über welch animalische Reflexe der Junge verfügte. Bei einem Beobachter musste sich zwangsläufig der Vergleich mit einem Tier aufdrängen. So schien er jede beabsichtigte Aktion seines Gegners schon im Ansatz zu erahnen, und es diesem durch sein Auge und der immensen Reaktionsschnelligkeit zu verunmöglichen zählbare Treffer bei ihm zu landen. Bei seinen Angriffen und Ausweichmanövern schienen die Füße den Ringboden kaum zu berühren, sondern die Figur da oben im Ring gleich einer Libelle zu schweben. Seine Kämpfe aus und um die Ringmitte glichen so mehr einer kraftvollen Tanz-, denn einer Kampfsportveranstaltung. Oft gingen seine Gegner zu Boden, ohne dass auch ein sachkundiger Beobachter den eigentlichen Grund hierin zu erblicken vermochte. Blitzschnell peitschten seine Schläge geradezu spielerisch aus Arm- und Schultergelenken um Sekundenbruchteile später die weiß gekennzeichneten Trefferflächen seiner Boxhandschuhe präzise wie ein Scharfschütze an verschiedenen Körperstellen des Gegners zu platzieren. Die fatale Wirkung für den Kontrahenten bestand in der sagenhaften Schnelligkeit der Attacken. Sie schienen einem Phantom gleich über den Bedauernswerten hereinzubrechen ohne jede Chance auszuweichen, da sie nicht mal im Ansatz zu erkennen waren. Die rasche Abfolge verschiedenster Treffer setzt eine perfekte Koordination aller Extremitäten voraus, wie man sie im von versierten Berufsboxern erwarten durfte. Ein im Amateurbereich tätiger Akteur wurde von diesem jungen Ausnahmekönner hoffnungslos überfordert. Erschwerend kam für jeden potentiellen Gegner hinzu, dass Darius dieses Alleinstellungsmerkmal sowohl im Angriff, als auch in der Verteidigung beherrschte, da er auch in der Lage war aus der Rückwärtsbewegung nahezu jeden beliebigen Schlag abzufeuern. Vorzugsweise auf die Leber, was aufgrund mangelnden Sauerstoffes, der nicht mehr in ausreichendem Maße zugeführt wurde, den verzögerten Knockout für seine Kontrahenten bedeutete. So konnte es zum Faszinosum des Publikums vorkommen, dass die Gegner, obwohl im Vormarsch befindlich, durch einen gefinkelten Schlag unvermittelt umfielen. Die Bemitleidenswerten realisierten den wahren Grund im Moment des Fallens viel zu selten, sondern konnten diesen lediglich erahnen. Sie erkundigten sich daher nach dem Niederschlag irritiert bei ihren Betreuern, was denn eigentlich passiert sei, warum sie denn hier auf dem Ring- oder Hosenboden lägen oder saßen? Aber nur allzu oft sahen sich dieselben außerstande ihren Schützlingen eine befriedigende Antwort zu liefern und ließen zumeist ratlose Kampfsportler zurück. Die Auftritte seines Schützlings im Ring ähnelten der einer Raubkatze beim Schlagen ihrer Beute und sorgten bei Edy, seinem biederen Trainer für ungläubiges Kopfschütteln. Was sollte aus diesem Jungen werden, konnte solch eine Fülle an Talent in seinem Alter überhaupt zu einem guten Ende führen? Der Vergleich mit einer Maschine, welche lediglich stupide ihr Schlagrepertoire abrief, verbat sich allerdings aufgrund seines ausgeklügelten Kampfstiles. Im Vergleich zu ihm reichte das Talent seiner übrigen Schützlinge bei aller Begabung, welche diese oft besaßen, nicht aus um auch nur die nationale Spitze zu erklimmen. Eben ein klassischer Defensivboxer. Sollte seine Mutter in seinem Falle in ihrer Skepsis gegenüber dieser Sportart letztlich doch Recht behalten? Als Vater eines problembehafteten Jungen konnte er ihre Befürchtungen nur allzu gut nachvollziehen. Schließlich hatte sie ihren Sohn zur Welt gebracht, ihn alleine groß gezogen und kannte Darius besser als jeder andere. Sie spürte wahrscheinlich intuitiv, was für ihren Sohn gut oder schlecht war. Edys gottesfürchtigen Ängste gebaren zu seinem eigenen Erschrecken oft so abwegige Gedanken, wie „Wenn Gott gewollt hätte, dass er ein Raubtier wäre, dann hätte er aus ihm auch eines gemacht“ oder führten gar zu allgemein philosophischen Betrachtungen über den von ihm so geliebten Sport. Nach Jahrzehnten unermüdlicher Trainertätigkeit war er zum Schluss gelangt, dass selbiger in all seiner morbiden Schönheit ein Zerrbild der Gesellschaft darstellte, also in überhöhter Form die menschliche Existenz an sich widerspiegle. Wenn er einige seiner Boxer während ihrer Kämpfe im Ring beobachtete, wie sie trotz aller Stümperei mit selbstzerstörerischem Mut in das Kampfgeschehen einstiegen, litt er mit jeder Faser seines Körpers mit. Ganz so wie der Ehemann bei der Entbindung des Nachwuchses im Kreißsaal mit seiner Frau. Häufig war aufgrund deren unkoordinierten Vorgehens das unvermeidliche Ende absehbar. Umgekehrt verhielt es sich mit Darius´ Kampfführung, die ihm in seiner spielerischen, aber dennoch machtvollen Art immer wieder den Atem verschlug. Es schien ganz so, als ob Darius diese gefahrenträchtige Sportart als einen Wettkampf wie jede beliebige verstand, welcher ihm keinen Schaden zufügen könne. Aber dem erfahrenen Trainer war bewusst, dass dem keineswegs so war und ein auf lange Sicht erfolgreicher Boxer ein egoistischer Eroberer zu sein hatte, der Niemanden und Nichts neben sich und seinem Sport duldete. War der sensible Junge aus solchem Holz geschnitzt? Die Liste der Personen, die an ihrem eigenen Genius kläglich gescheitert waren, war endlos. Boxen war nicht nur bloße Sportausübung, sondern eine archaisch anmutende Metapher der menschlichen Existenz an sich. Allzu spielerische Komponenten, wie eine winzige Unachtsamkeit konnten für einen Boxsportler von einem Moment zum anderen verheerende Auswirkungen zeitigen. Ein solch verspieltes Bewegungstalent wie „sein Junge“ war ihm nicht ganz geheuer. Er wusste, dass der Junge von jedem beliebigen „Primitivpuncher“ mit einem einzig glücklich geführten Schlag zu Fall gebracht werden konnte. Einmal ausgeknockte Boxer erholten sich nach seiner Erfahrung nur in den seltensten Fällen vom erlittenen Niederschlag. Beruhigend für ihn jedoch, dass Darius im Gegensatz zu manchen Vertretern dieses Sports nicht dumm war. Immerhin besuchte er ein Gymnasium und besaß zudem ein intaktes Familienleben. Keineswegs selbstverständlich in dieser Sportart! Jemanden wie diesen Jungen hatte er in seiner langen Trainerlaufbahn, die immerhin einige nationale Meister hervorgebracht hatte, nicht annähernd erlebt. Dieses absolute Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten barg gerade in diesem Metier eine große Gefahr. Glücklicherweise befand er sich mit seinem Schützling im Amateur- und nicht im Profibereich, welcher mit ungleich höherer Gefahr für Leib und Leben behaftet war. Das im Amateurboxen auf drei Runden und durch Schutzbekleidung limitierte Risiko konnte er gegenüber seiner Mutter gerade noch vertreten. Die Anzahl der Verletzungen war schließlich bei anderen Sportlern – selbst den Fußballern – höher als beim Amateurboxen beruhigte sich letztlich der gute Mann; das zahlenmäßige Verhältnis aktiver Fußballer zu Boxern allerdings ignorierend. Aber wie viele Spitzensportler oder generell Personen, die sich durch Leistungen ständig in Grenzbereichen bewegten, diese zuweilen überschritten, so war auch Darius ein wenig abergläubisch. Der Aberglaube bezog sich in seinem Falle eben auf seine Stiefel, die sein ganzer Stolz und auch Glücksbringer waren. Nach jedem Kampf wurde das weiche Leder, nachdem er es sorgfältig ausgebürstet hatte, mit einem teuren Pflegemittel üppig eingesprüht, welches allzu schnell zur Neige ging und ein schmerzliches Loch im schmalen Haushaltsbudget seiner Mutter, sowie einen penetranten Geruch in der kleinen Wohnung hinterließ. Niemand außer ihm durfte sich der Pflege dieser Stiefel widmen, obwohl er ansonsten zum Unmut von Mutter keinen großen Wert auf seine Kleidung legte. Dieses Procedere wurde von ihm so penibel, ja geradezu pedantisch ausgeführt, dass es im Verständnis seiner Mutter immer zu viel Zeit in Anspruch nahm, die er in ihren Augen lieber in seine schulischen Belange hätte investieren sollen. Und jetzt waren sie so „Mir nichts, Dir nichts“ einfach aus seinem Leben verschwunden. So musste es sich anfühlen einen geliebten Menschen zu verlieren, verstieg er sich gar im Halbschlaf in seinen diffusen Gedanken. Warum nur hatte er sie zum Training mitschleppen müssen, wo er sie ansonsten lediglich bei Kämpfen trug. Zu Trainingszwecken benutzte er seine ausrangierten alten Stiefel. Aber er wollte so kurz vor diesem alles entscheidenden Turnier die überlegene Leichtigkeit, die ihm seine Stiefel vermittelten bereits gegen seinen Sparringpartner aus der ehemaligen DDR spüren. Nur nichts dem Zufall überlassen und die Turnieratmosphäre schon in heimischen Gefilden simulieren. Das hatte er jetzt davon! Wie sollte er ohne seine Maskottchen, welche ihn schon bei vielen schweren Gängen begleitet hatten, seinen Angstgegner bezwingen können? In einem Länderkampf hatte er als Verstärkung der deutschen Nationalmannschaft seine bislang einzige Niederlagen gegen diesen Ostblockboxer bezogen. Noch jetzt schmerzte die Erinnerung an diese Demütigung, wo er unmittelbar danach bittere Tränen vergoss. Der Betreuer tröstete ihn anschließend in der Umkleidekabine mit den Worten, „dass er aufgrund seines geringen Alters nur mit einer Sondergenehmigung hatte starten dürfen, und er diesen beim nächsten Aufeinandertreffen wegputzen würde“. Das war vor gut einem Jahr und jetzt war es Zeit sich zu revanchieren, den hässlichen Flecken im Kampfpass zu tilgen. Da der Ukrainer in seiner Gewichtsklasse gemeldet war, konnte dieser nicht mehr in eine andere Gewichtsklasse wechseln, ihm nicht mehr ausweichen. Erschwerend, dass bei dem anstehenden Qalifikationsturnier ebenfalls Boxer aus einem kommunistischen Bruderstaat antraten, die zu bezwingen fast unmöglich war: Die Kubaner samt ihren legendären Fähigkeiten! Ungeachtet dieser unüberwindbaren Hürden erwartete der österreichische Boxverband, das nationale olympische Komitee und nicht zuletzt seine Schule, dass er das Ausscheidungsturnier gewann, zumindest aber ein achtbares Ergebnis erzielte. Achtbar wäre sich in den Medaillenrängen wiederzufinden, großartig den in Amateurboxkreisen prestigeträchtigen „Chemiepokal“ in Halle an der Saale zu holen. Die Interessenabwägungen waren hierbei vielfältig. Bei den einen ging es ums Geld, bei den anderen um die Anhebung ihres Renommee´s. Selbst das Ministerium für Kultur und Sport in Wien hatte ihren Obolus in Form eines namhaften Geldbetrages für dieses kühne Unterfangen entrichtet. Diesem war es zu verdanken, dass er während des zurückliegenden Wettkampfmarathons mit einem DDR Meister sparren konnte. Ganz zu schweigen vom persönlichen Traum: Qualifikation für „Barcelona“! Nur ausgerechnet seine geliebte Mutter war die Einzige, die sich über das Verfehlen seines großen Zieles freuen würde. Sie hatte die Niederlage völlig unbeeindruckt von der öffentlichen Meinung genutzt, um eindringlich die Beendigung seiner Boxlaufbahn zu fordern, was ihn noch mehr als die Niederlage an sich schmerzte. Er hasste das von ihr suggerierte Gefühl etwas falsch zu machen. Die sportinteressierte Öffentlichkeit war über die Niederlage und ihre Äußerungen entsetzt, was dieselbe nicht im Geringsten zu stören schien. Irgendwie imponierend, ihre couragierte Art: Ausdruck eines geradlinigen Charakters zollte er ihrem Mut trotz aller Seelenpein höchsten Respekt. Und dieser kollektive Traum sollte an einem Paar verlustig gegangener Sportschuhe scheitern? Mit diesem alptraumhaften Gedanken wollte Darius weiter im Halbschlaf vor sich hindämmern, doch Mutter lies dies natürlich nicht zu. Mit den Worten „He mein kleiner Kämpfer, auf zu neuen Taten“ hieß sie ihn mit energischer Stimme aufstehen. Müde und erschlagen kroch er lustlos aus seinem Bett und schlich unwillig Richtung Bad. Nachdem er das Frühstück verweigerte und missmutig seine Schultasche packen wollte, stellte er erfreut fest, dass diese ungeliebte Tätigkeit bereits von Mutter erledigt worden war. Lediglich das obligate Jausenbrot fehlte. Über Nachfrage kramte sie anstelle einer Antwort ihre alte abgenutzte Geldbörse aus ihrer Handtasche um ihm ein wenig Geld zuzustecken.
„Hier hol dir als kleinen Trost über die Mittagspause im angrenzenden Supermarkt deine Lieblingsspeise“ erwiderte sie bewusst beiläufig. Sie wusste, wie sehr er dieses neuartige, aus der Türkei stammende Fladenbrot mit würzig marinierter Fleischeinlage und Gemüse liebte. Als er registrierte, wie sie in der Börse umständlich nach ein paar Münzen kramte, verkrampfte sich aufgrund ihrer ärmlichen Situation wiederum sein Inneres und es überkam ihn angesichts ihres Großmutes das schlechte Gewissen. Da der Pubertierende nur zu gut wusste, welches Loch selbst diese geringe Summe in ihrem schmalen Haushaltsbudget hinterlassen würde, verhärtete sich sein bereits männlicher Gesichtsausdruck und seine dunklen Augen begannen verdächtig zu schimmern. Zum Verlust seiner geliebten Schuhe gesellte sich noch der Verlust Mutters Geld, das sie doch so dringend benötigte. Und das nur damit er sich über Mittag den Bauch mit diesem neuartigen Zeugs vollschlagen konnte. Anstatt jedoch das Geld anzunehmen oder eine kleine Dankesfloskel mit einer höflichen Ablehnung zu verbinden brach es im Überschwang negativer Gefühle selbstgerecht aus ihm hervor:
„Wie kannst Du nur glauben, dass so eine lächerliche „Anatolienjause“ mir meine Schuhe ersetzen könnte?“ schrie er vor außer sich vor Empörung. „Gerade Du müsstest wissen, wie wichtig mir diese sind, gerade Du!“ schluchzte er mit zornig funkelnden Augen. Wieder diese ambivalenten Gefühle! Einerseits von Mutter durchschaut, da sie wusste, wie sehr er Kompensationen jeglicher Art zu schätzen wusste, andererseits wegen der Stiefel komplett unverstanden. Sie, die eigentlich wissen müsste, welch hohen Stellenwert dieselben für ihn einnahmen, ihm geradezu heilig waren. Sah sie in dem Vorfall etwa eine Möglichkeit ihrer Aversion gegenüber seinem Sport einmal mehr Ausdruck zu verleihen? Er verkannte ja nicht, dass seine Leidenschaft grundsätzlich nichts Positives und Gefälliges an sich hatte, sondern in ihren zerstörerischen Momenten vielmehr ein destruktives Abbild des Lebens in all seiner Verletzlichkeit bot. Und gerade diesen Aspekt müsste sie aus eigener Erfahrung nachvollziehen können. Erkannte Sie denn nicht, welche Chancen dieser Sport ihm und ihr eröffnete? Musste sie ihn kurz vor der entscheidenden Qualifikation torpedieren, alles für das er seit einem Jahr so hart arbeitete, schlechtreden. Studieren konnte er wie tausende Andere noch lange genug, dachte er frustriert. Konnte sie sich denn nicht wenigstens ein Stück weit mit seinem großen Ziel identifizieren. Als Mutter lediglich resignierend mit den Achseln zuckte, und ihn entgeistert anstarrte, begannen wieder Selbstzweifel an ihm zu nagen. Wie ungerecht von ihm, tat er ihr mit seinem egoistischen Verhalten weh? Voller Schuldgefühle über den unkontrollierten Wutausbruch nahm er die Münzen schließlich unter schwachem Protest an. Sie hatte es mit dem Geld sicherlich nur gut gemeint. Zwei silbern glänzende Zehnschillingmünzen und drei bronzen schimmernde Einschillingstücke. Als er zögerlich die Hand nach den glänzenden Münzen ausstreckte, klang ihm ein ungeduldiges „Na nimm schon endlich“ entgegen. Eilig kam er der Aufforderung nach, da er sich dem Drängen der Halbschwestern nur schwer widersetzen konnte, insbesondere er spürte, dass die Kleinen ansonsten gleich wieder zu heulen begannen. Diese Heulerei wollte er sich, insbesondere jedoch Mutter, die sicher noch erschöpft vom aufreibenden Nachtdienst im Krankenhaus war, ersparen. Sie hatte es als alleinerziehende Mutter dreier minderjähriger Kinder, die darüber hinaus noch den Lebensunterhalt für ihre Familie ohne fremde Hilfe zu bestreiten hatte, ohnehin schwer genug. Zufrieden strahlten ihn die beiden kleinen Biester mit einem breiten Grinsen an, unmöglich erahnend, welchen Bärendienst sie ihm mit diesen Münzen erwiesen hatten.