Читать книгу Höhenangst - Kurt Flatz - Страница 9
Nur ein kleiner Diebstahl
ОглавлениеDarius brach früher als üblich zur Schule auf. Er wollte sich noch vor Schulbeginn beim städtischen Fundamt nach dem Verbleib der Stiefel erkundigen. Je näher er dem Fundamt kam, desto aufgeregter wurde er. Zwischen Hoffen und Bangen betrat er das Gebäude und fragte mit leichtem Zittern in der Stimme:
„Tschuldigung Fräulein! Hat man bei ihnen heute schwarze Sportstiefel mit orangefarbenen Initialen und weißen Längsstreifen abgegeben?“
Die freundliche Dame begrüßte ihn mit einem Lächeln und der Gegenfrage „Seit wann vermisst du denn die Stiefel?“ was er mit „seit gestern Abend“ beantwortete. Sie stand auf und begab sich auf die Suche nach den Boxstiefeln. Nach kurzer Zeit erschien sie wieder im Türrahmen und verneinte. „Ich finde keine, aber schau doch zur Sicherheit noch selber nach!“ Aber außer Turn- und Straßenschuhen befanden sich keine Boxstiefel in dem kleinen Aufbewahrungsdepot. Wie ungern sie ihm die Hiobsbotschaft mitteilte konnte er ihrem bedauernden Blick entnehmen. Als sie mitansehen musste, wie der Junge mit düsterer Miene, in der sich abgrundtiefe Enttäuschung widerspiegelte von dannen trottete konnte sie nicht anders als ihm tröstend nachzurufen:
„Schau doch morgen wieder vorbei, heute war es vermutlich zu früh. Hinterlasse mir deine Nummer. Sollten Sie auftauchen werde ich dich unverzüglich benachrichtigen!“ Darius nahm ihre Aufforderung ausdruckslos zur Kenntnis, da negative Gedanken seinen Geist erfüllten. Wir sind so arm, dass wir nicht mal über Selbstverständliches wie einen Anschluss verfügen schoss es ihm durch den Kopf. Hatte sich mit dem Verlust der Glücksbringer denn alles gegen ihn verschworen, war dies der Anfang einer beginnenden Pechsträhne? dachte er niedergeschlagen. Am liebsten wäre er umgekehrt und heim geradelt, um wieder unter die Bettdecke zu kriechen. Abgesehen davon, dass Mutter dies keinesfalls erlauben würde, so war er doch kein schwächliches Muttersöhnchen dessen Befinden von einem Paar Sportstiefel abhing. Einer dem die einzigartige Möglichkeit geboten wurde, für sein Land am wichtigsten Ereignis im Leben eines jeden Sportlers teilzunehmen. Ihm war bewusst, dass dies nur den Wenigsten vorbehalten, für die Mehrzahl der Sportler Zeit ihres Lebens ein unerreichbarer Traum blieb. So machte er sich schweren Herzens und dem festen Vorsatz, sich in der Schule nichts anmerken zu lassen mit seinem alten Vehikel auf zur Schule. Diese blöden Boxstiefel dachte er wütend und trat kräftig in die Pedale. Als er vom Fahrrad stieg und schnurstracks auf den Schuleingang zusteuerte, war der Schmerz über deren Verlust wieder allgegenwärtig. Sein letzter vor dem Einschlafen und sein erster Gedanke beim Aufwachen galt den Stiefeln. Den gesamten Vormittag über war er geistesabwesend und kaum in der Lage dem Unterricht mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu folgen. Der Lehrkörper der Schule, insbesondere Direktor und Sportlehrer – bekennende Boxfans – waren hinsichtlich seiner nicht unerheblichen Freistellungen vom Unterricht immer sehr großzügig. Ungeachtet der Konstruktion als der Förderung des Spitzensports verpflichtete Anstalt stellten die Freistellungen in diesem Ausmaß die Ausnahme dar. Trotz seines Qualifikationsmarathons war auch hier wie in jeder anderen Schule der vorgegebene Lehrplan zu erfüllen. Die Ablegung der Matura stand im Vordergrund, war das vorrangige Ziel, dass es anzustreben und zu erreichen galt. Aber auch bewusst war allen, dass diese Teilnahme eine noch nie dagewesene Chance für einen Sportler ihrer Schule darstellte. Der Junge war stets bemüht den schulischen Anforderungen zu genügen. Nur eben jetzt schweiften seine Gedanken permanent zu den verschwundenen Stiefeln ab. Er fühlte sich wie ein in diesen unsäglichen Fernsehschnulzen verlassener Liebhaber, was ihn erzürnte, da er sich ansonsten immer im Kreise seiner Kollegen über diese in seinen Augen lächerliche Figuren lustig zu machen pflegte. Ihm war zum Heulen zumute und froh als nach endlos empfundenen fünf Unterrichtsstunden die Mittagspause eingeläutet wurde. Schnurstracks verließ er die Schule und bewegte sich schweren Schrittes und ebensolchen Gemütes zum angrenzenden Supermarkt, wo sich Schüler ihr Mittagsmahl besorgten. Gott sei Dank nicht aus seiner Schule, sondern Haupt- und Berufsschüler, sodass er wenigstens für eine Stunde ohne kommunizieren zu müssen durchatmen konnte. Mutter hatte in weiser Voraussicht seinen angeschlagenen Gemütszustand bedacht! Ohne die Münzen in seiner Tasche hätte er die Mittagspause zwangsläufig in der Schule verbringen müssen, nervenden Fragen seiner Mitschüler ausgesetzt. Eine grauenhafte Vorstellung erinnerte er sich dankbar der häuslichen Szene zu Beginn des Tages. Fast mechanisch betrat er den Verkaufsraum und steuerte langsam den Imbissstand an, wo eine Verkäuferin an der heißen Theke die Speisen zubereitete. Es schien ihm, als ob sich auch sie mitleidig nach seinem Wunsch erkundigte, den er ihr desinteressiert mit kraftloser Stimme nannte. Dabei entging ihm ihr erstaunter Blick keineswegs, was ihn aber nicht weiter verwunderte. Er konnte sich ja nur selten den Luxus der exotischen Speise gönnen und war das Fehlen jeglicher Freude auf den bevorstehenden Genuss wohl auch für die Verkäuferin nicht zu übersehen und Anlass für die ihr ins Gesicht geschriebene Verwunderung. Der Dieb hat mich gar meiner Vorfreude auf die würzig leckere Köstlichkeit beraubt dachte er verbittert. Normalerweise brachte er seine Jause von zu Hause mit und Getränke, wie Kakao oder Saft gab es kostengünstig in der schuleigenen Kantine. Deshalb war er nur selten in dem Geschäft anzutreffen und doch schien der Blick der Verkäuferin irgendwie Mitgefühl, ja Vertrautheit zu signalisieren. Entgegen ihrer Gewohnheit wurden die Fleischstücke mit einem Tranchiermesser lustlos vom riesigen Spieß abgetrennt, dieselben samt Beilage in ein Fladenbrot eingelegt und in eine silbrige Warmhaltefolie eingepackt. Nachdem sie ihm selbige über die Theke gereicht hatte, verabschiedete sie sich entgegen dem fröhlich klingenden „Guten Appetit“ mit einem gegenseitigen Kopfnicken. War ihr stummes Einvernehmen ihrer oder seiner oder beider Stimmungslagen geschuldet? Anschließend begab er sich auf den Weg zur Kassa und musste zu allem Unglück feststellen, dass er keinerlei Hunger mehr verspürte. Ganz im Gegenteil: Er spürte eine leichte Übelkeit und ihm war, als ob er sich in Kürze übergeben müsste. Alleine die Vorstellung die intensiv duftende Speise auszupacken ließ seinen Magen rebellieren. Da aber diese eigens für ihn hergerichtet wurde, genierte er sich, sie zurückzubringen, zumal er sich nicht sicher war, ob dies überhaupt möglich sei. Immerhin war sie bereits zubereitet, portioniert, in Alu verpackt und mit einem Preisetikett versehen. Am stärksten wog aber die Scham vor der netten Verkäuferin: Selbige mit einer Rückgabe zu belästigen, obwohl die Ware nicht mehr weiterveräußert werden konnte. Aber es musste sein, der Kanossagang sich nicht verhindern ließe. Tapfer machte er auf dem Absatz kehrt, aber schon konnte er die Menschenansammlung am Stand erkennen, sah wie die Arme alleine ein Rudel hungriger Schüler zu bewältigen hatte, die allesamt ungeduldig auf ihre Mahlzeit warteten. Unmöglich sie jetzt zusätzlich mit seiner Dummheit zu behelligen! Die warme Ware einfach in eines der Verkaufsregale zu legen verbot ihm seine Kinderstube, denn Nahrungsmitteln gegenüber hatte man Respekt zu bezeugen, wie ihm Mutter stets von Kindesbeinen an eingetrichtert hatte. Diese konnte, nachdem ihn die Regalbetreuerin aus dem Regal entfernt hatte sicher nicht mehr weiter verwendet werden, fiel somit der Abfallverwertung anheim. Genauso könnte er die verderbliche Ware gleich mitnehmen und verfüttern, was aus der Perspektive des Geschäftes wohl einem Diebstahl gleichkäme. Angeschlagen trottete er auf die Kassen zu, um die Ware zu bezahlen und ärgerte sich maßlos über sich selbst. War er unfähig den Umstand der Appetitlosigkeit vor dem Kauf zu realisieren. Er hatte ja bereits zu Hause das Frühstück verweigert. Der Döner hatte immerhin neunzehn Schilling gekostet. Mutter hätte bei ihrer sprichwörtlichen Sparsamkeit für die stolze Summe wahrscheinlich ein komplettes Mittagsessen auf den Tisch zaubern können. Alternativ hätte er den Zwillingen Süßwaren, die beide so heiß liebten und leider nur zu selten erhielten, als Überraschung mitbringen können. Bei ihnen wäre sogar noch einiges an Geld übrig geblieben. Aber all diese „hätten und wären“ nutzten ihm jetzt wenig! Ach was war er für ein verzogenes Bürschchen. Sah so die große Olympiahoffnung seines Landes aus, die wegen einem Paar entwendeter Stiefel nicht mehr in der Lage war einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen? Wieder durchströmten ihn ambivalente Gefühle und kreisten wirre Gedanken in seinem Kopf. Wie bereitwillig allesamt seinetwegen zurückzustecken bereit waren! Aber eines Tages würde er ihnen ihren Großmut auf Heller und Pfenning vergelten und zwar gerade mit diesen Mutter verhassten Fäusten. Schon jetzt erhielt er als Gastboxer bei Publikumswettkämpfen für ein, zwei Auftritte fast die Hälfte dessen, was sie als Pflegehelferin im Krankenhaus pro Monat ins Verdienen brachte. Aber leider waren diese Kämpfe in der Provinz viel zu selten. Er würde aufgrund seines geringen Alters von den Ärzten ohnehin nicht mehr als fünf Startgenehmigungen außerhalb von Turnieren und Meisterschaften im Jahr erhalten. Für Letztere gab es allerdings außer Reise- und Unterbringungskosten in Jugendheimen kein Geld. So konnte er nur sehr wenig zum Haushaltsbudget beitragen, was Mutter aber egal zu sein schien. Erkannte sie denn nach über fünfzig absolvierten Kämpfen immer noch nicht, dass er kaum nennenswerte Blessuren davontrug und somit die Verletzungsgefahr bei seiner exzellenten Kampftechnik minimal war. Abgesehen davon, dass sein Trainer mit Argusaugen die Auswahl der Gegner genau überwachte. Edy hatte ihm schon öfters die Starterlaubnis bei diesen „entgeltlichen Bierzeltveranstaltungen“ zum Verdruss versagt. Der alte Herr konnte sehr zum Ärger der lokalen Veranstalter solcher Volksbelustigungen nicht ausgetrickst werden, schien einen sechsten Sinn für getürkte Kampfpässe entwickelt zu haben. Er roch die wahre Anzahl absolvierter Kämpfe förmlich. Obwohl dessen Argwohn sich im Nachhinein meistens als berechtigt herausstellte, ärgerte er sich maßlos über ein unmittelbar vor Ort verhängtes Startverbot, da er dann „mit leeren Händen“ zu seinen Lieben zurückkehren musste. Wenn dann überdies der an seiner Stelle zum Einsatz kommende Ersatzkämpfer – in aller Regel älter und mit mehr Kampferfahrung ausgestattet – auch noch furchtbare Prügel bezog, war er Edy bitterböse. Einerseits weil er Mitleid mit seinem Klubkameraden empfand, der zum Gaudium des sensationslüsternen Publikums „verheizt“ wurde. Andererseits, weil er sich sicher war, dass er jeden dieser „Schlegler“ – wie er brutale Ringschläger verächtlich zu bezeichnen pflegte – problemlos in ihre Schranken gewiesen hätte. Er war mit über fünfzig absolvierten Kämpfen kein Anfänger mehr und Edy war dies auch bewusst. Andererseits hatten die von ihm verachteten „Schlegler“ nicht selten mehrere hundert Kämpfe absolviert, was jedoch seinen Ärger nicht zu mindern vermochte. Deshalb wurde er zum Ausgleich vom Trainer häufig als Sekundant in den Kampf eingebunden. Darius war allerdings in der betreuenden Ecke kaum zu halten, wenn „sein Schützling“ aufgrund dessen limitierter Fähigkeiten seine Ratschläge nicht in die Tat umsetzen konnte; er miterleben musste, wie dieser aufgrund der ihm vorenthaltenen Starterlaubnis eine schmerzhafte Niederlage einsteckte. Edy hatte jedoch bereits zu Beginn seiner boxerischer Aktivitäten Mutter fest zugesichert der körperlichen Unversehrtheit ihres Sohnes absolute Priorität einzuräumen. An dieses Versprechen hatte er sich über all die Jahre auch eisern gehalten, mochte er noch so sehr mit dem Schicksal hadern. Als er sich niedergeschlagen dem Kassenbereich näherte, musste er zu allem Überdruss zur Kenntnis nehmen, welche Menschenschlange sich vor diesem gebildet hatte. Es war nur eine einzige von mehreren Kassen geöffnet und so staute sich dieselbe durch sämtliche Gänge. Und das zur Mittagszeit! In seinem Zustand unangenehm, zumal er nur einen einzigen Warenposten zu begleichen hatte. Dies bedeutete, dass er sich wohl oder übel in die lange Liste der Wartenden einzureihen hatte. So empfand er in der schlechten Verfassung das unmäßig lange Warten als gegen ihn persönlich gerichtet, als passiere heute alles um ihn unnötig zu schikanieren. Da sich die Schar der Kaufwütigen aber nur schleppend fortbewegte, betrachtete er missmutig die zu beiden Seiten aufgereihten Waren. Die Produktpalette umfasste in erster Linie Naschwerk und anderen überflüssigen Krimskrams. Je mehr er sich der Kasse näherte umso interessanter die Anordnung: Die ausgepriesenen Artikel waren zur Gänze in Augenhöhe von Kindern angebracht. Billige verkaufsfördernde Taschenspielertricks konstatierte er verärgert. Jetzt, da ihm all die Köstlichkeiten für Tatjana und Leonie anschaulich vor Augen geführt wurden, verdichtete sich der Ärger über den Fehlkauf. Vor seinem geistigen Auge erschienen plastisch Bilder der Naschkatzen samt ihrer Begehrlichkeiten. Die Beiden liebten das Naschwerk über alles, bekamen aber nur zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen, Weihnachten, also selten etwas davon ab. Warum nur hatte er statt der Süßigkeiten diese ausländische Speise erstanden, und seine Lieblinge wegen seiner unkontrollierbaren Wutausbrüche einmal mehr zum Weinen gebracht? Herrlich die Vorstellung, die Beiden „so mir nichts, dir nichts“ mit einer Überraschung zu erfreuen, zugleich als entschuldigende Geste charmant den Wutanfall kompensierend. Die nötigen Mittel dazu hatte er bis vor kurzem noch in der Tasche, aber durch seine Dummheit wieder verloren. Als er bei dem Gedanken die leuchtenden Augen seiner Halbschwestern visualisierte, verstärkte sich sein Ärger und die Übelkeit. Und da war natürlich auch schon das Objekt der Begierde direkt vor Augen: die von den Kleinen heiß geliebten „Bensdorp“ Schokoriegel mit Fruchtfüllung. Kein Wunder bei dieser herrlich bunten und verführerischen Verpackung. Schon die Aufmachung wie geschaffen zum Reinbeißen, vom Inhalt ganz zu schweigen. Banane und Beeren von leckerer dunkler Schokolade umhüllt. Jeder Riegel ein Genuss. Für Tatjana und Leonie der sprichwörtliche Himmel auf Erden. Im Verhältnis zu anderer Markenschokolade auch ausgesprochen preiswert. Provokant einladend, zudem griffbereit Zentimeter von der Jackentasche entfernt. Der hastig durchgeführte Kassasturz ergab einen Fehlbetrag von gerade mal drei Schillingen. So geschah in der Ansammlung unglücklicher Umstände das Unvermeidliche: Das, was nicht geschehen durfte, in der Ausnahmesituation in der sich der Bursche befand, indes beinahe zwangsläufig geschehen musste. Von Sentimentalität fehlgeleitet, griff der verfrühte Weihnachtsmann wie unter Zwang zu und steckte zwei Riegel mit pochendem Herzen und rasendem Puls in seine Jackentasche. Wie er den Döner aufs Laufband legte, bekam er gar nicht mehr richtig mit. Schon wurde er von der Kassiererin freundlich begrüßt. Sie nahm die silberne Folie an sich, führte sie über den Scanner und stellte mit abgewandtem Gesicht beiläufig, die für die weitere Zukunft Darius jedoch entscheidende Frage, welche aus einem Wort bestand: „Alles?“ was von ihm leise und zögerlich bejaht wurde. Ihm schien, als ob sein Gestammel von ihr gar nicht registriert wurde, denn schon nannte sie ihm routiniert den zu entrichtenden Geldbetrag: „Achtzehn Schilling bitte“ lediglich einen einzigen Warenposten, nämlich die warme Jause umfassend. Die zu diesem Zeitpunkt bereits inkriminierte Ware befand sich „sicher verstaut“ in seiner Jackentasche. Verschwommen und wie aus großer Entfernung nahm er wahr, wie er die geforderte Geldsumme vor Aufregung fiebernd beglich. Plötzlich beschlich ihn ein Gefühl, welches er von den Auftritten vom Ring her gut kannte: Objekt einer Beobachtung zu sein! Dieses ansonsten so angenehm prickelnde Gefühl hatte nun den gegenteiligen Effekt. Eine vage Furcht regte sich in ihm. Nervös ließ er den Blick in die Runde schweifen, dabei jedoch nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches ausmachend. Hatte er beim Regal für Toilettenartikel nicht schemenhaft eine riesige Gestalt wahrgenommen? Für einen Moment überlegte er, ob dieses Unwohlsein mit den verlorenen Schuhen oder den unrechtmäßig hinzugewonnenen Schokoriegeln oder aber beidem in Zusammenhang stand. Sollte er die Riegel nicht noch schnell auf den Kassentresen legen? Aber es fehlten ja drei Schilling zur Bezahlung. Trotzdem griff er intuitiv in die Seitentasche, brach dann aber aus Scham gegenüber der Kassiererin die ihn rettende Handlung ab, zog die Hand ohne Schokolade wieder heraus. Ein nachträgliches Einstecken unmittelbar an der Kassa ging wohl kaum mehr als bedauernswertes Missverständnis durch, würde von der Kassiererin wahrscheinlich zu seinen Ungunsten gewertet, insbesondere er die Ware nicht zu bezahlen vermochte. Mit siedend heißem Kopf verabschiedete er sich mit trockenem Mund und pelziger Zunge, auf den ihm automatisch zugeschobenen Kassabon verzichtend. Zu seinem Erstaunen nahm dieselbe von ihm keine weitere weitere Notiz, sondern hatte sich bereits dem nächsten Kunden zugewandt. Während er in einer Art Schwebezustand die Kassa verließ, schwirrte es in seinem Kopf und schwindelte ihm in einem Ausmaß, dass er befürchtete auf der Stelle ohnmächtig umzukippen. Sein kriminelles Verhalten ließ ihn staunen, konnte er in keiner Weise nachvollziehen. Er verfügte über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, wie ihm allseits attestiert, von Freunden gar als moralisierende Attitüde vorgehalten wurde. Also war derselbe auch bei ihm lediglich relativer Natur: der jeweiligen, vorteilhaften Situation angepasst, wie er sich nun zu seiner Beschämung eingestehen musste. Zugleich verspürte er fassungslos eine Befriedigung über die unrechtmäßig erstandene Schokolade und dem Gefühl der ausgleichenden Befreiung. Schuldbeladen und grenzenlos erleichtert, ja geradezu euphorisiert steuerte er auf den Ausgang zu, hinter dem nach einem Vorplatz eine breite Stiege hinauf zur rettenden Straße führte. Atemlos wurde die unsichtbare Schranke anstandslos passiert. Während der wenige Schritte dauernden Passage hatte jedoch eine Irritation von ihm Besitz ergriffen – dunkel und bedrohlich – wie ein unsichtbarer Schatten? Es als sein Gewissen auszumachen blieb ihm versagt, denn der Schatten war höchst realer Natur. Als er endlich den Stiegenaufgang erreicht hatte konnte er bereits von unten die Passanten, welche im geschäftigen Treiben die Fußgängerzone bevölkerten, erblicken. Bevor der Diebstahlsnovize in die Anonymität des wimmelnden Ameisenhaufens über ihm eintauchen konnte, versperrte ihm plötzlich an der untersten Stufe eine bedrohliche Erscheinung breitbeinig den Weg. Er hob – bereits schlimmes ahnend – den Kopf. Schlagartig erkannte der arme Sünder zu Tode erschrocken die wahre Ursache des verstörenden Gefühls sowie die Irritation auslösende Bedrohung an der Kasse: Seine Sinne und das Unterbewusstsein hatten ihn nicht getäuscht, ihm die richtigen Warnsignale gesandt und er Idiot hatte sie einfach ignoriert. Der schemenhafte Schatten hinter dem Regal war real gewesen. Warum war er nicht seiner Intuition gefolgt und hatte die Riegel einfach aus der Tasche gezogen und aufs Laufband gelegt? Warum nicht die notwendige Schlagfertigkeit und Kaltblütigkeit besessen? Fragen über Fragen, aber für eine Antwort zu spät! Der Schock über das Auftauchen des Riesen ließ in ihm „Thor“, die hammerschwingende Sagengestalt aus der Literatur seiner Kindheit wieder zum Leben erwecken. Hätte er an der Kassa nur den Mut zur Blamage aufgebracht! Das Bewusstsein kramte in Windeseile die alptraumhaften Geschichten und die Gefahr, welche von dieser muskelbepackten Figur der nordischen Mythologie ausging, aus den Tiefen des Unterbewussten hervor. Schon vernahm er eine ruhige Stimme, die jedoch in einer sehr bestimmenden Tonlage – in der Erstaunen und Drohung mitschwang – an sein Ohr drang.
„Entschuldigung junger Mann!“
Alleine diese an sich unverfängliche Anrede ließ ihn aufhorchen und einen dicken Kloß im Hals verspüren. Das zusätzliche Zücken einer metallisch schimmernden Plakette ließ ihm den Atem stocken und das Herz schien augenblicklich auszusetzen. Man hatte ihn erwischt. Beim Stehlen! Als der Mensch mit einem Gesicht ohne geringste Wärme ihm das Ding unter die Nase hielt reifte in ihm die Erkenntnis, dass sein Schicksal nun besiegelt sei: die Blechplakette wies diese Unperson als Ladendetektiv aus. Der Junge mochte den Riesen nicht; er wirkte selbstgefällig, ja ein wenig grausam. Zudem traf seine Wehrlosigkeit sowie der drohende Verlust aller moralischen Integrität den jungen Missetäter tief ins Mark. Daran vermochte auch das beinahe um Verzeihung heischende „Wir hätten da noch eine Kleinigkeit“ seines Gegenübers nicht das Geringste zu ändern. Er spürte, wie sich die Magennerven zu verkrampfen begannen. Nachdem der Koloss mit nachdenklicher Miene seinen Blick über den Aufgang entlang der Stiege zur Fußgängerzone und wieder zu ihm zurückgleiten ließ, bedachte der ihn mit einem verwunderten Blick. Zugleich vernahm er wie aus weiter Entfernung die Aufforderung in der Enttäuschung mitschwang:
“Würden Sie mir bitte folgen! Sie haben offensichtlich etwas Wichtiges vergessen, dass wir zwingend im Büro abzuklären haben!“
Darius erwiderte den kühlen, ja kalten Blick aus bernsteinfarbenen Augen schweigend. Ein Alptraum, der unvermittelt über ihn hereingebrochen war und er fühlte sich auf sonderbare Weise von der Realität getrennt. Ihm schien, als hätte man ihm einen Stromstoß in einer Stärke von mehreren tausend Volt verpasst. Das unvermittelt ins Blut schießende Adrenalin vertrieb im Nu die vorhandene Übelkeit und er war hellwach. Ein Gefühl der Bedrohung – von seinem Instinkt getragen – hatte von ihm Besitz ergriffen. Gleich dem wilder Tiere, der denselben auf unerklärliche Weise das Nahen einer Gefahr signalisierte, noch ehe die Anzeichen dafür greifbar geworden sind. Die Worte entfalteten ihre volle Wirkung. Er fühlte sich wie Beute, die sich seinem schlimmsten Feind gegenübersieht. Sein Herz schlug stark und laut und die Schläfen begannen auf schmerzhafte Weise zu pochen. Eine unheimliche Stille lag über dem Aufgang, die der Ertappte als tiefes Grabesdunkel empfand. Er konnte den kalten Blick und die Anspannung „Thors“ fast körperlich spüren. Dessen Anspannung bedeutete, dass sich der präsumtive Gegner in dem ihm bestens bekannten Tunnel befand und das war nur der Fall, wenn er wusste, wen er da vor sich hatte. Noch schlimmer schien dieser auch seine subversiven Gedanken zu erraten. Darius vernahm in der Stille deutlich den eigenen Atem. Im Bruchteil einer Sekunde taxierten seine Sinne das Klischee der vor ihm aufgepflanzten Sagengestalt als potentiellen Gegner, ganz so wie beim Shakehands im Ring. Er registrierte die Augenhöhe und relativierte die Gefahr: es müsste ein Leichtes sein, diesem auszuweichen und davonzulaufen. Der Kerl war riesig! Alles an ihm war größer, als bei anderen Menschen. Seine Körperlänge sowieso, aber auch seine Hände, Füße, Nase: einfach alles. Für einen Laien hatte er etwas von einem tapsigen Bären, wovon sich Darius nicht täuschen ließ. Der hier war körperlich topfit, was auch die überdimensionierte Jacke nicht zu kaschieren vermochte. Dem geschulten Auge des Boxers entging aber ebenso wenig, dass dieser gerade seiner ungeheuren Dimensionen wegen völlig chancenlos war ihn zu ergreifen. Viel zu langsam und unbeholfen. Beim Sparring ließ er sich manchmal von Kollegen den Arm auf den Rücken binden und wurden Neuzugänge vergleichbarer Statur vom Trainer aufgefordert Treffer bei ihm zu landen, was aber diesen überzüchteten Bullen in den seltensten Fällen gelang. Überfordert watschelten sie zu aller Erbauung steifbeinig hinter ihm her. Nach ein paar Ausweich- und Rückwärtsbewegungen winkten allesamt nach längstens einer Minute der Erschöpfung nahe demoralisiert ab. Es bereitete ihm kindliches Vergnügen diesen „Vorzeigeathleten“ die Faszination seines Sportes nahezubringen und ihre körperliche Grenzen aufzuzeigen, insbesondere diese sich oft in hübscher weiblicher Begleitung befanden. Kaum einer der äußerlich so imposanten Kerle offenbarten bei diesen „Testtrainings“ auch nur die geringste Eignung für diesen-, „seinen Sport“, da zu langsam, konditionsschwach, kopflos oder anderer Gründe mehr. Selbst wenn sie eine hinreichend motorische Eignung aufwiesen, ermangelte es den Meisten an charakterlichen Merkmalen wie Willenskraft, Mut und Durchhaltevermögen. Was sich daran dokumentierte, dass diese „Helden“ zu einem nochmaligen Training zumeist gar nicht mehr erschienen. Und so eine überzüchtete „Schießbudenfigur“ stand nun mit gewichtiger Miene vor ihm und eröffnete ihr die Möglichkeit aufgrund seiner unüberlegten Handlung Macht über ihn zu erlangen. Diese Ohnmacht und die Metamorphose vom bedauernswerten Opfer zum gemeinen Dieb war für den vom Erfolg verwöhnten völlig neu. Er verspürte ein beginnendes Zittern und sein Atem verflachte sich. Ein untrügliches Zeichen, dass sich der ganze Körper in Alarmbereitschaft, sozusagen in Angriffs- und Verteidigungsmodus versetzte. Was sollte er jetzt tun? Flucht oder Aufgabe? Fieberhaft überlegte er das weitere Vorgehen in der für ihn ungewohnten Situation. Sich einfach vom Acker machen? Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass ihn dieser bei einem allfälligen Ausreißversuch an der Jacke zu fassen bekäme, geradezu ein Kinderspiel diesen mit einem gezielten Schlag niederzustrecken um sich auf diese Weise ausreichend Zeit zur Flucht zu verschaffen. Bevor dieser Koloss wusste wie ihm geschah, wäre er längst im Getümmel der Straße verschwunden. Erschrocken über den Gedanken verwarf er diesen augenblicklich, da er eine eherne Maxime verinnerlicht hatte: Niemals seine Kunst außerhalb des Ringes einzusetzen. Während der gedanklichen Abfolge möglicher Szenarien war ihm die Anspannung des Gegenübers keineswegs entgangen. Der Riese schien seine Gedanken erraten zu haben, doch der Boxer war sich bewusst, dass er diesem an Gewandtheit weit überlegen war. Aber hier vor diesem Hintergrund? Und gerade seine habituelle Überlegenheit war es, die ihn jetzt zur Untätigkeit verdammte, wie er resignierend feststellen musste. Er konnte seine Fäuste unmöglich gegen „Thor“ erheben. Nicht auszudenken, ein Angriff eines potentiellen Boxolympioniken gegen einen „Ordnungshüter“. Eine längere Sperre wäre die Konsequenz seiner Handlung. Schlimmer jedoch der unwiederbringliche Schade, den er dem Verein und der Schule zufügen würde. Sein Sport litt ohnehin an einem Imageproblem und gerade er, auf dem alle Hoffnungen des Verbandes ruhten, würde den ohnehin ramponierten Ruf beschädigen. Dieser Ruf rührte von Boxern, die sich gerne im Halbweltmilieu herumtrieben. Da käme der Presse, dass ein Sieggewohnter wie er, einen im Kampfsport völlig Unbedarften in Gestalt eines harmlosen Ladendetektivs an der Ausübung seines Dienstes nicht bloß behindern, sondern gar verletzen würde, gerade recht. Das Vorurteil der „Halbwelt“ wäre somit bestätigt. Aber war „Thor“ so bieder? Langsam dämmerte ihm, dass er diesen keinesfalls unterschätzen durfte. Bekäme ihn das Kraftpaket beim Fluchtversuch an einem winzigen Kleiderzipfel zu fassen, würden dessen Pranken reflexartig zupacken und ihn einem Schraubstock gleich nicht mehr auslassen. Eine Konfrontation mit offenem Ausgang wäre die unweigerliche Folge. Die Gefahr einer ernsten Verletzung war bei einem allfälligen Handgemenge kaum zu vermeiden. Sein Sport beinhaltete nicht Werfen oder Festhalten, sondern bestand im Austeilen von Schlägen ohne dabei selbst getroffen zu werden. Bei einer nachträglichen Beurteilung dieser „Kollision“ musste sich jede Aktivität zwingend zu seinen Ungunsten auswirken. Ironie des Schicksals, dass sich seine Stärke nunmehr als größte Schwäche herausstellte. So verbat er sich den Gedanken aktiven Widerstands. Derselbe würde das unweigerliche Aus seiner Olympiaträume, angesichts Mutters Einstellung wohl auch der Kampfsportkarriere bedeuten. Er hatte notgedrungen den Makel des Ladendiebes auf sich zu nehmen: die Wahl zwischen Pest und Cholera! Seine minder erfolgreichen Kollegen hätten keine Sekunde gezögert und die prekäre Situation auf ihre Art bereinigt. Wie entscheidungsschwach er war! Konnte man mit solch einer zögerlichen Einstellung so hoch gesteckte Ziele, wie er sie anstrebte, erreichen oder ermangelte es ihm an der nötigen Durchsetzungskraft? Befand er sich vielleicht in einer Notwehr- oder Notstandssituation? Unter Umständen existierten ja in Gesetzbüchern Vorschriften, die eine Wegnahme von Sachen geringfügigen Wertes entschuldigten. Sich aber wegen fehlender drei Schillinge dem Risiko eines allfälligen Raufhandels aussetzen? Einfach absurd! Die Rechtsordnung und deren Vertreter verziehen ja auch alle mögliche Fehlverhalten. Und das waren wahrlich andere Kaliber, echte Gaunereien eben. Aber Vertreter kosteten Geld das er, Mutter und der Verein nicht besaßen. Hatte er deswegen das Recht verwirkt, berechtigte Interessen, die aufgrund seiner Situation als übergeordnet galten, zu wahren? Aber welche Interessen berechtigten ihn zur Entwendung einer ihm nicht gehörenden Sache und warum sollte seine Situation besonders sein? Etwa die entwendeten Sportstiefel, eingetretene Übelkeit, der häusliche Zwist, das bevorstehende, alles entscheidende Qualifikationsturnier oder die Vorliebe von Tati und Leo für Schokolade? Lächerlich und grotesk! Was wäre, wenn er die Schokoriegel diesem Kerl einfach vor die Füße warf und sich dann aus dem Staub machte. Irgendetwas sagte ihm, dass dies auch nicht ginge. Dieses Irgendetwas war das Gefühl des Schuldbeladenen, welches ihm zum Zeitpunkt des Verlassens des Kassenbereiches die Überschreitung des Limes signalisierte. Oder hatte sich das schlechte Gewissen bereits beim Einstecken der Schokolade gemeldet? Er wusste es nicht. Was er aber sehr wohl wusste war, dass es jetzt zu spät und die Falle zugeschnappt war. Da könnte jeder auf frischer Tat Ertappte das Diebesgut reumütig dem Eigentümer zurückgeben um es demselben bei nächstbester – ihm günstiger erscheinender – Gelegenheit gleich wieder wegzunehmen. Ein endloses Hin und Her, welches ein geordnetes Zusammenleben undenkbar machen würde. Auf diese billige Weise konnte man sicher nicht straffrei werden. Und wer war eigentlich der Eigentümer der Schokolade? Der Detektiv sicher nicht, der oder die Kaufhausbesitzer? Irgendjemand gehörte die Ware und das war mit Sicherheit nicht er! Irgendjemand musste die Verfügungsgewalt über die Schokolade gehabt und durch sein Einstecken die Herrschaft verloren haben. Die Riegel brannten förmlich in seiner Tasche! Ihm schwante Böses. So wie er sich nicht der Riegel entledigen konnte, verhielt es sich wahrscheinlich mit der aufgeladenen Schuld. Also doch Flucht? Aber das beträchtliche Risiko der Verletzung eines Menschen, welcher seiner beruflichen Verpflichtung nachkam, einzugehen? Damit konnte er seine heikle Situation nur noch verschlimmern. Diese, und eine Menge ähnlich gelagerter Gedanken gingen ihm rasend schnell durch den Kopf. Nach dieser negativen „Interessensabwägung“ erkannte er schließlich sein Dilemma und dass er sich angesichts der Umstände seinem Schicksal zu fügen hatte. Er musste das Procedere wohl oder übel über sich ergehen lassen. Ausgerechnet er, das moralinsaure Vorbild seiner Schule: ein Ladendieb! Ein für Darius unvorstellbares Szenario nun traurige Wirklichkeit! Er schwankte zwischen Hoffen und Resignation. Sein Blick in die Augen seines Gegenübers signalisierte diesem als Zeichen seiner Aufgabe wohl Letzteres. Die angespannte Miene des Riesen lockerte sich und er ließ als äußeres Zeichen der Entspannung die Schultern sinken. Darius nickte zum Zeichen der Kapitulation kaum merklich mit dem Kopf. Alleine die Nähe des Riesen strahlte eine körperliche Präsenz aus, die ihm das Atmen erschwerte. Mit Erstaunen nahm er zur Kenntnis, dass „Thor“ in der Erwartung seines Hinterhertrabens wie selbstverständlich voraus ging, was zur eigenen Verwunderung tatsächlich auch geschah. Wieder durchfuhr ihn der Impuls einfach davonzulaufen. Seine innere Stimme widersprach und er folgte dem Riesen wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen. So trottete er mit gesenktem Kopf – sprichwörtlich armer Sünder – dem wandelnden Muskelberg hinterher. Unübersehbar für jedermann zur Schlachtbank geführt. Ein entwürdigendes Schauspiel! Auf seinem Kanossagang vermeinte er die Blicke sämtlicher Kunden und Angestellten auf sich ruhen. Ihm war, als ob ihm jeden Moment der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Was für eine herrliche Vorstellung, einfach im Erdboden zu verschwinden. Nach einer gefühlten Ewigkeit endlich im Büro angekommen, zog der Riese die Türe auf, ließ ihn eintreten und schloss dieselbe nach einem flüchtigen Blick über die Schulter wieder. Dass er sofort die vergilbten Jalousien vor der alten Glasfront herunterließ, sodass man von außen keinen Einblick in selbiges hatte, wurde von Darius als beruhigend empfunden. Dann wandte sich ihm der Riese unvermittelt zu, nicht ohne ihn mit besorgter Miene zu taxieren. Gleichzeitig umspielte die zarte Andeutung eines Lächelns seine Mundwinkel, wobei seine direkte Frage eine Spur zu beiläufig klang:
“Warum hast du die Schokolade, die in deiner Jackentasche steckt nicht bezahlt? Nimm sie aus der Tasche und leg sie bitte auf den Tisch!“
Ein Unterschreiten des Sicherheitsabstandes empfand Darius generell als unangenehm. Durch das Eindringen in seine Intimsphäre durch den Koloss wurde dieses erdrückende Gefühl noch verstärkt. Bei körperlichen Ausmaßen dieser Dimension musste jeder normal Gebaute zwangsläufig die Empfindung verspüren nicht in Lebensgröße vorhanden zu sein. Als ob der Ladendetektiv die Empfindungen des Jungen erahnte, nahm er unverzüglich auf einem alten Hocker Platz und man konnte seiner Miene entnehmen, welches Unbehagen ihm diese Angelegenheit bereitete. Da der Riese nicht so recht zu wissen schien, wie er beginnen sollte, kam die gutgemeinte, von Darius jedoch als Provokation empfundene Frage:
„Na mein Junge, wie fühlst Du Dich jetzt?“
Mit dieser Frage wollte Tibor dreierlei bezwecken: Die vorhandene Distanz zwischen ihnen überbrücken, den Ertappten beruhigen und eine vertraute Atmosphäre zum Dieb schaffen. Bewirkt wurde in der akuten Bedrängnis, in der sich Darius befand, allerdings das genaue Gegenteil. Eine dieser Floskeln, die ob ihrer Sinnlosigkeit eher für den Fragenden als den Befragten wichtig sind. Wie sollte es ihm angesichts der beschissenen Lage schon gehen? So empfand er die Frage als Verhöhnung und als Reaktion folgte betroffenes Schweigen. Er zog die Schokoriegel ohne Widerrede aus seiner Tasche und warf sie stumm auf den Tisch. Der Detektiv, ob seiner platten Einleitung beschämt, räusperte sich verlegen und brachte lediglich ein kurzes „Warum?“ über die Lippen. Dadurch gestand er eine Schwäche ein, die Darius irgendwie imponierte und das zwischen ihnen bestehende Eis brechen ließ. So wurde die vom Jäger bezweckte Augenhöhe unbewusst doch noch hergestellt. Durch dessen wohlwollendes Verhalten ermuntert, begann Darius mit stockender Stimme von den Ereignissen der letzten zwanzig Stunden zu berichten. Die Miene „Thors“ begann sich im Verlauf und mit Fortgang der Geschichte aufzuhellen; was der jugendliche Dieb registrierte. Erleichtert nahm er zur Kenntnis, dass zugleich so etwas wie ein Schatten von Mitgefühl über „Thors“ bernsteinfarbene, sonst so kalt dreinblickende Augen glitt. „Thor“ glaubte dem jungen Sportler jedes Wort, da dessen Körperhaltung einem keuchenden, schwitzenden und würgenden Bündel Angst ähnelte. Das Gesicht schweißnass und fahl. Am schlimmsten jedoch der Ausdruck in seinem Blick: völlig entleert und so voller Kummer, dass Tibor ihm kaum standzuhalten vermochte. Wie froh war er, nicht eine dieser unerträglichen Ausflüchte zu hören. Der Junge hatte keine billigen Ausreden benutzt, die geeignet waren, sein Mitleid in Verachtung umzuwandeln. Alles, was ihm der Junge darlegte erschien plausibel und nachvollziehbar und löste in ihm Mitgefühl, aber auch starke Wut aus. Seinem sportlichen Vorbild einfach die Stiefel zu klauen. Ein starkes Stück von Kameradendiebstahl! Zudem verriet ihm Gesicht und Stimme, dass der Junge ihm nichts vormachte. Tibors subjektive Wahrnehmung rührte daher, dass er die verheißungsvolle Sporthoffnung in seiner Funktion als Trainer des hiesigen Polizeisportvereines aus dem Sportteil der Zeitung kannte. Auch dessen Kämpfe, wenn sie denn in der näheren Umgebung stattfanden, gehörten für ihn und seine Trainingspartner zum Pflichtprogramm, auf die sie sich als aktive Kraftsportler immer besonders freuten. Aber dessen Auftritte waren leider viel zu selten. Alle waren über seine Vorstellungen und die für sein Alter unglaublichen Kampfkünste hellauf begeistert. Bei ihren anschließenden Gasthausbesuchen, welche in „WEBERS FABRIK“ stattfanden bildete der Junge stets den zentralen Gegenstand ihrer „Fachsimpeleien“. Man konnte ihn getrost als glühenden Bewunderer dieses – für den heimischen Kampfsport hoffnungsvollen – Talentes betrachten. Als der Junge um die Mittagszeit im Supermarkt auftauchte, vernachlässigte er seine Berufsobliegenheiten und heftete sich sofort an dessen Fersen. Die Möglichkeit ihn nicht im Ring, sondern in seiner Privatsphäre zu beobachten war zu reizvoll. Hin und wieder gönnte er sich während seiner Tätigkeit eine Auszeit um ihm interessant erscheinende Personen anhand ihrer Einkaufsgewohnheiten zu analysieren. Stets aufschlussreich fürs geschulte Auge! Er hatte bereits am Vormittag mit respektablen „Abschüssen“ sein Plansoll erreicht. Den kleinen Luxus privater Natur wollte er sich deshalb als Belohnung gönnen. Seine Aufmerksamkeit erregte der schlechte Allgemeinzustand, in welchem sich der Junge befand. Wie grau und elend der Strahlemann heute aussieht, stellte der Zweimeterriese verwundert fest. Dessen Niedergeschlagenheit erstaunte ihn deshalb, da er den Boxer in dieser Verfassung nicht kannte. Dieser versprühte im Ring stets einen Optimismus, den Nichts und Niemand zu erschüttern vermochte. Hier schien etwas nicht zu stimmen, was seine schon von Berufs wegen vorhandene Neugier weckte. Ihn nach dem Grund des erbärmlichen Erscheinungsbildes zu fragen, verbot ihm sein Auftrag. Als Detektiv hatte er gegenüber den Kunden des Kaufhauses äußerste Diskretion zu wahren. Wenn sie keinen Anlass einschlägiger Natur gaben, sich in keiner Weise zu deklarieren. Und dieser Anlass war bei dem Jungen mit Sicherheit nicht gegeben. Als Tibor zum grenzenlosen Entsetzen das für ihn Unvorstellbare beobachten musste, war er zutiefst enttäuscht und weigerte sich kategorisch zu glauben, was er da sah. Steckte an der Kasse einfach die Ware – billige Kalorienbomben – ein, ohne dieselbe zu bezahlen. Und das als Leistungssportler! Einfach unglaublich! Was wollte der denn mit dem süßen Zeugs, doch nicht etwa verzehren...der eigenen Ernährungsgepflogenheiten gedenkend. Er wusste entgegen seiner Angewohnheit nicht, was in dem Falle zu tun, wie er sein weiteres Vorgehen gestalten sollte. Warum hatte er seine Neugier befriedigen, dem voyeuristischen Drang nachgeben müssen. Sollte er es den drei Affen gleichtun und diesen unerfreulichen Vorfall ignorieren, den Burschen mit der Schokolade ziehen lassen oder sich sehenden Auges in das Auge des Zyklons begeben? Was, wenn derselbe eine kleptomanische Veranlagung besaß, was er sich allerdings nicht vorzustellen vermochte. Der Junge hatte keine Mängel, wie Langeweile oder Geldnot zu kompensieren, wie das bei der Mehrzahl seiner „Kunden“ der Fall war. Wenn dem so wäre, würde man diesen dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit folgend, früher oder später ohnehin ertappen. Er musste ihn vor sich selber schützen und hier und jetzt zur Rede stellen. Was sollte er tun, wenn der Bursche ihn schlicht ignorierte und einfach von dannen spazierte. Er konnte ihn nicht einfach festhalten? Wie würde er wohl reagieren? Sich losreißen oder gar zuschlagen? Geradezu grotesk, die sportliche Hoffnung des Landes dieser entwürdigenden Situation auszusetzen, die zudem mit der Gefahr einer eigenen massiven Verletzung verbunden war. Ein Boxer reagierte – wie er als Kampfsportler zu gut wusste – bei einem allfälligen Körperkontakt rein instinktiv, was angesichts dessen Fähigkeiten für einen selbst naturgemäß fatale Folgen haben musste. Selbst im Kollegenkreis würde er sich mit dieser Aktion nicht mit Ruhm bekleckern, da deren Mitgefühl mit Bestimmtheit dem aufstrebenden Jungen, denn ihm oder dem Kaufhaus galt. Er befand sich in einer völlig ungewohnten Situation. Dennoch hatte der Junge gestohlen und da hatte er als überzeugter Vertreter seines Berufsstandes unumstößliche Prinzipien. Es war der persönlichen Entwicklung des jungen Athleten geschuldet, diesen zur Rede zu stellen und ihm den Kopf zu waschen. So unangenehm es sich für beide auch gestalten sollte. Wie konnte der auch nur so etwas unsäglich Dummes tun und ihn in die verdammte Zwangslage bringen? Bei dessen rosigen Zukunftsaussichten! Schon deshalb hatte er den Sachverhalt aufzuklären, da die Handlung in keiner Weise zu dem jungen Kerl passte. Die sportliche Nachwuchshoffnung brachte das schlicht gestrickte Weltbild Tibors gehörig ins Wanken. Etwas zu nehmen, was einem nicht gehörte: in den Augen eines Kampfsporttrainers von Polizeibeamten unmöglich und konnte auch in diesem Fall keineswegs toleriert werden. Die Vorstellung einer diebischen Elster in Gestalt des aufstrebenden Sportlers war für ihn schlicht unerträglich. Normalerweise glich sein Gang zum Büro dem Flanieren eines eitlen Pfaus, doch heute war ihm das Stolzieren vergangen. Das Haupt gesenkt und den Blick stur geradeaus gerichtet! Allerdings mit der Genugtuung sich in seiner Einschätzung nicht getäuscht zu haben, denn nicht mal davon gelaufen war er ihm, was für den wieselflinken Athleten sicher ein leichtes gewesen wäre. Vermutlich hätte er zum ersten Mal einen flüchtigen Dieb ziehen lassen und das nicht allein wegen des Diebesgutes oder dessen läuferischer Qualitäten. Allzu schnell mutierte ein einfacher- zu einem räuberischen Diebstahl, wie er in seiner Eigenschaft als Zeuge bei Gericht nur zu gut wusste. Die Gefahr drastischer Folgen wegen zwei billiger Schokoriegel riskieren? Sollten die Geschäftsinhaber die Ware doch abschreiben, tat denen angesichts des geringen Wertes sicher nicht weh. Der Junge war widerstandslos gefolgt, hatte für die Wegnahme eine einleuchtende Erklärung abgeliefert und damit seine Neugier gestillt! Bei dem war der Ladendiebstahl wirklich das erste und voraussichtlich letzte Mal; gleichsam eine total verunglückte Premiere. Eine derartige Verkettung unglücklicher Umstände konnte sich kein Mensch in der Kürze ausdenken. Nicht mal ein notorischer Lügner. Nach seiner Erfahrung verursacht eine Lüge in der Regel lediglich eine Neue um die vorangegangene zu legitimieren. Im Allgemeinen verfingen sich Lügner stets in einem undurchschaubaren Durcheinander von Widersprüchen, um letztlich selbst bei einem simplen Vorgang – wie dem vorliegenden Delikt – im selbst gesponnenen Netz hängen zu bleiben. Der aufrechte Sportkamerad – von klein auf gewohnt einem vorgegebenen Regelwerk zu folgen – wäre weder willens noch fähig, ein solches zu konstruieren. Er hatte sich seiner Verantwortung gestellt, ihm die Erklärung geliefert, die er erwartete und somit sein Weltbild wieder ins rechte Licht gerückt. Trotzdem hatte er seinen beruflichen Obliegenheiten auch in diesem Fall nachzukommen und so erklärte er Darius seine übliche Vorgehensweise. Schlagartig veränderte sich der Gesichtsausdruck des Jungen. Aus Ungläubigkeit wurde Verzweiflung und schließlich Entsetzen. Auch die stark erweiterten Pupillen seiner aufgerissenen Augen, die ihn völlig perplex anstarrten, bestätigten ihn und er gewann den Eindruck, dass er den Buben mit Worten gar nicht mehr erreichen konnte. Als Reaktion auf seine Worte schüttelte derselbe lediglich resignativ seinen Kopf, den er zudem gesenkt hielt. Denn durch des Jungen Kopf geisterten eine Unzahl wirrer Gedanken über seine Zukunft. Zuviel war in den letzten zwanzig Stunden über ihn hereingebrochen und dieser Vorfall bildete zweifellos den unrühmlichen Höhepunkt. Am schlimmsten war für ihn jedoch die Vorstellung, dass Edy und Mutter von dem Diebstahl erfahren könnten. Für die Beiden bräche eine Welt zusammen und er würde von ihnen nicht das geringste Verständnis erfahren. Das, was der Detektiv ihm da erläuterte bedeutete aber, dass die einschreitende Polizei angesichts seines Alters zwingend den Erziehungsberechtigten – in seinem Falle Mutter – zu benachrichtigen hatte. Auch dem Jäger war keineswegs entgangen unter welch massiver Schockeinwirkung der Junge stand, welche Bedeutung die obligatorische Anzeige für diesen darstellte. Der junge Sportler zitterte wie Espenlaub und je länger er sprach desto dunkler wurde dessen Blick. Beängstigend, wie dessen Augen von dunkelbraun über schwarz schließlich in eine tiefe Leere übergingen. Fieberhaft überlegte er, wie nun im konkreten Falle weiter zu verfahren war. Der Junge war vom Verkaufspersonal, zumindest Lisa von der „heißen Theke“ mit Sicherheit erkannt worden. Diese wusste zu gut, was es bedeutete, wenn er und der Junge zusammen auf sein schäbiges Büro zusteuerten um es einzig dem ihm zugeordneten Zweck zu betreten. Eine reine Nichtsanktionierung kam daher nicht in Frage, wollte er nicht den Anweisungen seiner Auftraggeber zuwiderhandeln. Der Vorgang hatte sich sicherlich mittlerweile wie ein Lauffeuer im Kaufhaus verbreitet. Ihm war durchaus bewusst, dass er aufgrund seiner stringenten Vorgehensweise auch beim Verkaufspersonal nicht sonderlich beliebt, den Meisten sogar verhasst war. Hatte er bereits einige Angestellte des Diebstahls überführt und zur Anzeige gebracht, was zur Strafe meist noch die fristlose Entlassung zur Folge hatte. Diese teilte er in der Suche nach einer Lösung Darius in einer Offenheit mit, welche diesen staunen ließ. Als der schwarze Riese stutzte, konnte Darius der aufgehellten Miene entnehmen, dass dessen Überlegungen wohl Früchte getragen haben mussten. Der rettende Einfall ließ die markanten Gesichtszüge entspannen, was dem maskulinen Antlitz einen leicht dümmlichen Anstrich verlieh. Im Moment des Geistesblitzes erinnerte die Miene frappierend an die Figuren einschlägiger amerikanischer Heldencomics. Das schmallippige Lächeln des Mundes verschwand und wich einem heroischen Zug der Entschlossenheit. Er griff zum Hörer und nahm kurzerhand mit der übergeordneten Firmenzentrale Kontakt auf. Dies hatte er bislang noch nie getan, entsprach gar nicht seiner Gepflogenheit. Tibor war es gewohnt, seine Entscheidungen stets selbstständig zu fällen. Die Detektei „Alpenland“ – in deren Diensten er stand – hatte vom Auftraggeber eindeutige Weisungen, die auch er nicht ignorieren konnte. In einem Fall wie dem vorliegenden benötigte er zur Rückversicherung die Zustimmung des Auftraggebers. Die Handlung des Jungen sowie sein Einschreiten war mit Sicherheit von einigen Augenpaaren aufmerksam registriert worden, ein Übergehen der Angelegenheit nicht so ohne weiteres möglich. Sämtliche Angestellte wussten um die im Kaufhaus mittlerweile vorherrschende Leitkultur. Die verursachten Schäden, die allgemein eine volkswirtschaftlich relevante Größe erreichten, erforderten ein rigoroses Durchgreifen des Handels und ließen keine Ausnahmen mehr zu. Tibor kannte persönlich einige kleinere Einzelhändler, welche wegen der Diebstähle in ihren Geschäften um ihre wirtschaftliche Existenz bangten. Der riesige Zeigefinger glitt erstaunlich behände in die Aussparungen der Wählscheibe um über das Telefon den zuständigen Herrn in der Zentrale zu kontaktieren. Gott sei Dank erreichte er diesen ohne Umschweife, da er bereits nach zwei Freizeichen eine nüchtern klingende Stimme vernahm. Er schilderte vorliegenden Sachverhalt in einer für Darius wohlwollenden Form, ohne dessen Personalien bekannt zu geben. Die Rede war lediglich von einem völlig aufgelösten Burschen, der aus Unbesonnenheit eine lässliche Dummheit begangen habe. Darius saß während des Telefonats mit leichenblassem Gesicht zusammengesunken auf dem Büroschemel. Als äußerliches Anzeichen seiner Anspannung schüttelte der junge Moralist fortwährend sein gesenktes Haupt und konnte dem Telefonat lediglich entnehmen, dass man sich an entscheidender Stelle nach dem Eindruck des Detektivs über seine Einkaufsgewohnheiten sowie dem Wert der entwendeten Waren erkundigte. Tibor erklärte wahrheitsgemäß, dass es sich bei dem Diebesgut ausschließlich um Waren geringfügigen Wertes, nämlich Schokolade der unteren Preiskategorie handle und er die zwei Riegel nicht für sich selbst, sondern für seine beiden kleinen Schwestern eingesteckt habe. Außerdem habe er bei der Wegnahmehandlung ein unsicheres und zögerliches Verhalten seitens des Diebes wahrgenommen. Die Zwangslage an sich wurde vom ihm ausführlich und blumig ausgeführt. „Der Junge habe das Gesagte glaubwürdig dargelegt, was nach seinem persönlichen Eindruck auch untermauert sei.“ Dabei wurden vom gestrengen Detektiv die Boxstiefel mit keinem Wort erwähnt. Anstelle der nicht stattgefundenen Heulerei der Zwillinge wurde der Zentrale eine fesselnde Version aufgetischt, welche sich durch geschickte Weglassungen und kunstvolle Hinzufügungen auszeichnete. Dabei wurde vom schweigenden Riesen die vorweihnachtliche Freude der Kleinen beträchtlich „modifiziert“. Der Junge nahm mit zunehmender Verwunderung zur Kenntnis mit welcher Kreativität der Koloss die Geschichte darzulegen verstand:
„Beim Nikolobesuch habe sich im Sack die entwendete Schokolade nicht vorgefunden, was bei den Beiden ein gewaltiges Heulkonzert verursacht habe. Man wisse ja, wie sehr sich Kleinkinder solche Dinge zu Herzen, ja geradezu persönlich nähmen. Wie Erwachsene weiblichen Geschlechts ebenfalls bei unpassenden Geschenken“ wurde süffisant angefügt. „Dabei habe der Junge einen Einkauf im sechsfachen Wert des Diebesguts getätigt, so wie er überhaupt regelmäßig seine Jause im Kaufhaus erwerbe und nie einschlägig aufgefallen sei. Besonders ärgerlich, dass diesem lediglich drei Schilling auf den legalen Erwerb gefehlt habe. Genau der Preis eines Riegels. Der arme Junge habe aber zwingend zwei benötigt um ein neuerliches Malheur abzuwenden. Eine lächerliche Differenz, von deren Richtigkeit er sich – nachdem der Jugendliche bereitwillig in die Taschenkontrolle eingewilligt habe – persönlich überzeugt habe. Nach seinem Eindruck habe er eingesehen wie töricht seine Tat war und würde diese mit Sicherheit nie wieder begehen.“ Nach längerem Hin und Her und Ablauf einer bedeutungsschweren Pause entspannte sich die angestrengte Miene „Tibors“. Nichtsdestotrotz musterten seine Augen durchdringend Darius Gesicht, welcher aus Scham den Blickkontakt zum Detektiv mied. Dies veranlasste wiederum den Jäger sich von seinem Opfer abzuwenden, denn der Anblick des Jungen war selbst für ihn zu zermürbend. Dessen Miene war erfüllt von Scham, Zweifel, Verwirrung und Reue und er verharrte immer noch in fassungslosem Schweigen. Um den Jungen aufzumuntern suchten seine an sich kalten Augen den unmittelbaren Kontakt um ihn zuzuzwinkern, was der richtig zu deuten wusste. Beiden wurde sichtlich ein wenig leichter ums Herz. Während „Thor“ den Hörer langsam auf die Gabel legte, lockerte ein Lächeln die harten Züge seines markanten Gesichts. Darius wiederum registrierte angespannt das Tun des Detektivs und seinem Blick konnte man entnehmen: Alles nur keine Benachrichtigung Mutters. Als des Jungen Blick so hoffnungs- und erwartungsvoll auf ihm ruhte fühle sich „Thor“ zu einer knappen Erklärung verpflichtet:
“Konnte ausnahmsweise das Einverständnis der zuständigen Stelle erlangen und ich lasse die unerfreuliche Angelegenheit nach Aufnahme der Personalien auf sich beruhen.“
Den Jungen durchströmte tiefe Erleichterung, gleichzeitig bebte Entsetzten, wie knapp er einer Straftat und somit der Schande entronnen war. Als äußeres Zeichen der Befreiung stieß er ein Lachen aus, das hocherfreut, aber auch ein wenig hysterisch klang. Auf „Thors“ Miene manifestierte sich ebenfalls ein Lächeln, was nach dessen Maßstäben bereits einem überschwänglichen Gefühlsausbruch gleichkam und ihn Darius ein wenig sympathischer erscheinen ließ. Als er noch zusätzlich von der Bezahlung des Unkostenersatzes Abstand nahm hatte er endgültig des Herz des Jungen erobert. Der wieder hoffnungsfrohe Boxer musste lediglich die obligatorischen Formblätter unterzeichnen und konnte das Kaufhaus ohne weitere Repressalien unbehelligt durch den Hinterausgang verlassen. Beim Abschied ergänzte „Thor“ mit leisem Vorwurf in der Stimme „Tja nun gut, mach diesen Blödsinn nicht noch einmal.“ Darius konnte sein Glück gar nicht fassen, bedankte sich sichtlich nach Worten ringend bei „Thor“ für alles, was dieser für ihn getan hatte. Als er ihm zum Abschied die Hand reichte, starrte er verdutzt auf ein nie gesehenes Phänomen seiner Schlaghand: Sie zitterte! Ladendetektiv Orban konnte dabei Fo´s Miene eindeutig Einsicht, Reue und tiefe Dankbarkeit entnehmen. Ungeachtet er das Recht auf seiner Seite wusste, war es ihm wieder möglich der sportlichen Nachwuchshoffnung seines Landes ohne Verlegenheit in die Augen zu blicken. Er konnte nicht umhin den Mund zu einem breiten Grinsen zu verziehen. Erfreulich, dass es vom Jungen zaghaft erwidert wurde. Bei „Richter Gnadenlos“ stellte sich ein Gemengelage ihm bislang unbekannter Gefühle ein: eine Mischung aus Erleichterung, Stolz, wenn nicht gar Glück, mit Sicherheit aber tiefe Befriedigung. Ganz so, als hätte er seinen kleinen Bruder – auf den er über alle Maßen stolz war – aus einer ausweglosen Situation befreit. Ganz nebenbei hatte er seinem Auftraggeber bewiesen, wie gewissenhaft er Aufträge auszuführen imstande war. Der Riese fühlte sich gut und dieses seltene Gefühl konnte sich nur allzu schnell verflüchtigen, war mit Niemandem teilbar. Den Türrahmen in seiner Breite zur Gänze füllend, stand die mächtige Gestalt zum Abschied des künftigen Champions parat. Darius stürzte förmlich zur steilen Treppe, vor sich endlich wieder das bunte Treiben der sonnenüberfluteten Straße mit all den Passanten erblickend. Ein Gefühl der Befreiung, denn das winzige Büro und „Thors“ Präsenz hatten in ihm beinahe klaustrophobische Empfindungen ausgelöst. Ihm schien, als ob er im letzten Moment einem dunklen Verlies entsprungen sei, konnte das Geschehene noch nicht realisieren. Er atmete erleichtert ein paarmal tief ein und aus, schloss die Augen und öffnete sie wieder. Dann drehte er sich noch ein letztes Mal um, um einen Blick auf das Kaufhaus zu erhaschen. Das Paradies der käuflichen Träume sah mit seinen weihnachtlich geschmückten Auslagen so harmlos, geradezu einladend aus. Er jedoch würde diese „überdimensionierte Mausefalle“ wohl Zeit seines Lebens nicht mehr betreten. War das alles nur ein gefährlicher Alptraum gewesen? Das zurückliegende Ereignis kam ihm surreal und unwirklich vor und erinnerte ihn unwillkürlich an zwei Gemälde namens „Guernica“ und „der Schrei“. Diese von Picasso und Munch geschaffenen Meisterwerke hatten ihn schon als Kind, als er ihrer zum ersten Mal in seinen Büchern ansichtig wurde, auf eigentümlich seltsame Weise berührt und auch zu Tode erschrocken. Jetzt erst verstand er diese epochalen Bilder wirklich. So musste es sich – im Falle des Monumentalgemäldes – für die armen Bewohner angefühlt haben, als im spanischen Bürgerkrieg unter Francos „Revolution“ der Bombenhagel auf das kleine Städtchen Gernika niedergegangen und unter dem „Revolutionär“ 1939 eine Diktatur errichtet wurde. Ebenso das Erschrecken der ihn noch immer beängstigenden Gestalt im expressionistischen Gemälde Munchs. Schrie sie befreit auf oder war diese im Momentum des eintretenden Schreckens jäh erstummt? Die beiden Jahrhundertgenies mussten Angst und Apokalypse in ihrer gespenstischen Szenerie wahrlich eindrucksvoll auf Leinwand verewigt haben, wenn diese geeignet waren, auf so nachhaltige Weise Assoziationen zu seinem persönlichen Schrecken zu generieren. War er diesem wirklich entkommen? Würde niemand von seinem peinlichen Fehltritt, seinem Ausflug ins Kriminal erfahren? Konnte er sich zukünftig wieder unbelastet seinem großen Ziel widmen? Die Erleichterung wich einem starken Unbehagen, da er im Kopf noch immer dumpfes Dröhnen – dem Geräusch eines nahenden NS Flugkampfgeschwaders nicht unähnlich – verspürte. Diese Einfühlungsgabe hätte er sich von einem vierschrötigen Schnüffler wie „Thor“ niemals erwartet. Wie sehr er sich doch in diesem, welcher ihm das denkbar schönste Weihnachtsgeschenk – jenes der unbelasteten Zukunft – bereitete, getäuscht hatte! Das musste er sich definitiv eingestehen: die größte Enttäuschung war er selbst. Er hatte sich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, sich wegen einem Paar Sportstiefel dermaßen aus der Bahn werfen zu lassen. Ihm war bewusst, dass er in die missliche Situation gerade aufgrund seines Sportes geraten, und eben durch denselben wieder entkommen war. So erfüllten ihn ambivalente Gefühle und er fühlte sich ausgelaugt, so als hätte er einen kräftezehrenden Kampf hinter sich. Letztlich überwog trotz Erschöpfung eine große Dankbarkeit und er spürte, wie seine Lebensgeister wieder langsam zurückzukehren begannen. Doch die Erleichterung war von kurzer Dauer. Sie wich einem Schuldgefühl, welches ihn zunehmend mit Unruhe erfüllte. Der vergangene Tag war aberwitzig verlaufen. Innerhalb weniger Stunden eine Rolle vor- und zurück, vom Bestohlenen zum Dieb! Gab es in der Realität eine solche Häufung an Zufälligkeiten oder lag in seinem Fall nicht ein Stück weit Schicksal dahinter? Was er verkannte, nicht wissen konnte, war, dass der Tag noch nicht vorüber, derselbe die größte Überraschung für ihn noch bereithielt.