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Kapitel 14

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Es war eine kluge Entscheidung, die Operationen nicht in Frankfurt vornehmen zu lassen. Die Zeiten zwischen den Nachbehandlungen hätte Chantal mit Sicherheit allein in ihrer Villa zugebracht.

Nein. Im Moment wollte sie niemanden aus ihrem bisherigen Freundeskreis sehen; noch nicht einmal Iris oder Manuela. Und auch nicht Miranda.

Hier, in dieser herrlichen Klinik, wurde sie sensibel und optimal betreut. Vielleicht noch wichtiger war es, hautnah mitzuerleben, dass sie nicht allein war mit ihrem schlimmen Schicksalsschlag.

Viele Stunden unterhielt sie sich mit der gutaussehenden Frau aus dem Allgäu. Ihre beiden süßen Mädchen liebten die Mutter über alles; hingen an ihr wie Kletten. Für diese Frau, sie hieß Sonja, war es sekundär, dass ihr die Ärzte beide Brüste vollständig entfernen mussten. Sie kannte nur ein Ziel: Überleben; da sein für ihre Töchter; mit ihnen zu sprechen, zu singen und sie aufwachsen zu sehen.

Sonja war Besitzerin eines Hotels. Um das Hotel, und vor allem um die Töchter, musste sie sich keine großen Sorgen machen. Auf ihre Eltern konnte sie sich verlassen. Allerdings: Wolfgang, ihr Mann, hatte sie vor vier Monaten verlassen; war zu einer Jüngeren und Gesünderen gezogen; hatte inzwischen die Scheidung eingereicht, und war nicht darauf erpicht, die süßen Mädchen zu sehen.

Und da war Viola Straubinger. Als Chefsekretärin in einer großen Versicherung fehlte ihr nun der tägliche Stress. Im Unternehmen wusste man, warum sie hier in dieser Klinik war. Ihre größte Sorge schien zu sein, dass später alle auf ihren Busen starren würden. Nach drei Wochen musste man sie auf eine Spezialabteilung verlegen. Sie hatte versucht, sich das Leben zu nehmen.

Fünf, oder manchmal sogar fünfzehn Frauen, saßen in einer Runde, um sich unter sanfter Anleitung auszutauschen; sich ihre Sorgen von den Seelen zu reden oder gemeinsam zu weinen. Sie nahmen sich schluchzend in die Arme. Und sie fühlten hautnah, dass sie nicht alleine waren mit dieser Scheiße.

Professor Lemberg hatte Chantal im Vorfeld beruhigt. Bei ihr würden vergleichsweise wenig Bestrahlungen notwendig werden. Allerdings sei es sinnvoll und anzuraten, den Heilungsprozess mit einer Chemotherapie zu begleiten – hatte er es vorsichtig ausgedrückt. Nennenswerte Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten.

Aber trotzdem lagen jeden Tag viele ihrer langen schwarzen Haare auf dem Kopfkissen. Seitdem trug sie ihre Haare leicht hochgesteckt.

Sonja dagegen trug eine bunte Wollmütze. In einer der vielen Gruppensitzungen zeigte sie eines Tages lachend und weinend ihre Glatze. Eines Tages tauchte sie jedoch mit einer Echthaarperücke auf. Sie beteuerte schluchzend, keinen Unterschied zu ihrer früheren Haarpracht entdecken zu können. Angeblich hatte ihr gestern irgendjemand ein Päckchen mit dieser Perücke zukommen lassen. Chantal lächelte in sich hinein. Zwei Wochen zuvor hatte sie ihrer Leidensgenossin ein Foto stibitzt. Diese Szene, als die kleinen Töchterchen ihre „neue“ Mutti mit kleinen Tränchen in den Augen anstarrten, konnte man mit Geld nicht aufwiegen.

Trotz dieser segensreichen Ablenkungen schlidderte Chantal von Woche zu Woche in eine Talsohle; in eine Grube mit glitschigen Wänden, an denen sie zunehmend keinen Halt fand. Oh ja, die Betreuerinnen hatten empfohlen, in der Nacht nicht ihre Brüste, oder was davon noch übrig war, abzutasten; sich vor allem nicht vor den Spiegel zu stellen. Das sagte sich so leicht.

Deshalb, vor allem in den Nächten, haderte Chantal mit dem da oben. Sie führte viele Monologe mit ihm. Wofür hatte er sie bestraft? Sie suchte nach unendlich vielen Gründen. Sie weinte und schluchzte – bis irgendwann keine Tränen mehr kommen wollten.

Eines Tages besuchte sie Professor Lemberg in ihrem Appartement. Das war mehr als unüblich. Das hätte man ihm als kompromittierend auslegen können.

Und tatsächlich. Der Professor setzte sich zu Chantal auf die Couch – und griff unvermittelt nach ihren Händen. Hierbei blickte er in ihre Augen. Nein. Nein. Das waren keine lüsternen oder gierigen Augen. Vielmehr waren es bittende Augen.

»Ich habe mir inzwischen erzählen lassen, dass Sie gerne als „Madame Chantal“ angesprochen werden wollen. Also, Madame Chantal, ich habe eine Bitte an Sie.«

»Oh oh. Das scheint jetzt spannend zu werden«, lachte Chantal mit ihrer dunklen und warmen Stimme. »Ich bin ganz Ohr.«

»Ihnen ist doch inzwischen diese Sache mit Viola Straubinger zu Ohren gekommen?«

»Nicht nur das. Ich habe zuvor mit ihr viele Gespräche geführt.«

»Umso besser. Dann sind Sie ja voll im Thema.« Der Professor schnaufte hörbar tief durch, um leiser fortzufahren:

»Hatten Sie das Gefühl gehabt, dass diese Frau zu einer solchen Kurzschlusshandlung neigen könnte?«

»Achtzig Prozent aller Patientinnen in dieser schönen Klinik werden mit Sicherheit ein oder mehrere Male über einen solchen Schritt nachgedacht haben. Ich auch«, sagte Chantal, und versuchte schulterzuckend ein Lächeln aufzusetzen.

»Ein so hoher Prozentsatz?!« Professor Lemberg zog entsetzt seine Hände zurück, und starrte Chantal nachdenklich in die Augen.

»Mit Sicherheit könnten Sie auch ohne Hoden pinkeln. Niemand, na ja, bis auf wenige Damen, hätte eine Ahnung, dass Ihnen diese kleinen Dinger fehlen. Aber Sie wüssten es. Und das ist das Entscheidende. Mit Sicherheit sind sie jetzt hin und hergerissen zu sagen, dass man das nicht vergleichen kann.«

Der Professor lehnte sich zurück, verschränkte demonstrativ seine beiden Arme vor der Brust und prustete:

»Au weia. Diese Sätze muss ich mir für eine der nächsten Seminare merken. Ich sehe jetzt schon, wie einige meiner Kollegen eine Schnappatmung bekommen.«

»Sie werden blitzschnell sichergehen wollen, dass sie noch da sind«, gluckste Chantal.

Nachdem der Mediziner sich von seinem Lachanfall erholt hatte, griff er noch einmal nach Chantals Hand.

»Kommen wir zurück zu Viola Straubinger. Morgen darf sie wieder auf ihr Appartement. Könnten Sie sich ein wenig um sie kümmern? Von Frau zu Frau sozusagen. Damit würden Sie mir einen riesengroßen Gefallen tun.«

»Und mir quasi den Schwarzen Peter zu spielen? Und wer kümmert sich um meine schwarze Seele?«

Professor Lemberg erhob sich lachend.

»Der Teufel ist im Grunde genommen ein feiger Hund. Er sucht sich die Seelen immer nur einzeln. An zwei Seelen auf einmal traut er sich nicht ran.«

»Gut«, sagte Chantal. »Dann habe ich drei kleine Wünsche: Bei den Mahlzeiten sitzt Viola neben mir. In ihrem Zimmer wird ein Doppelbett aufgestellt. Und bitte keine weiteren Fragen hierzu.«

Der Professor verschränkte seine Hände, nickte kurz und verließ das Appartement.

Chantal ging auf die Terrasse. Sie genoss den Weitblick an diesem sonnigen Tag, und ließ ihre Gedanken schweifen.

Nach einer halben Stunde stand für sie fest: Dieser Professor war verdammt clever. Mit Sicherheit wollte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Seine drei letzten Sätze hatte er mit Bedacht gewählt. Höchstwahrscheinlich hatte er erkannt, dass auch sie in den letzten Tagen zunehmend in den Seilen hing. Ihm ging es nicht um diese blonde Viola allein. Und es ging ihm vor allem um den guten Ruf. Ein Suizid in dieser Nobelklinik war alles andere als eine gute Reklame.

Viola Straubinger wirkte um fünf oder gar zehn Jahre gealtert, als sie sich an den Mittagstisch setzte. An jedem runden Tisch saßen sechs Personen.

Wortlos legte Chantal eine Hand auf die von Viola; lange und beruhigend. Während des Frühstücks, wobei die Blondine noch nicht am Tisch saß, hatte sie mit ernster Miene höchst unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass diese Frau künftig unter ihrem Schutz stehen würde. Sie wünsche sich keine blöden Fragen! Und auch keine dummen Blicke! Daraufhin entstand zunächst einmal atemlose Stille.

Während des Abendessens hatte sich die Stimmung am Tisch bereits gelockert. Einige machten sogar wieder Späße, als sei nichts gewesen. Sie hatten wohl nachgedacht. Sonja gab Chantal zur Begrüßung lächelnd einen Kuss auf die Wange.

Die dunkle Zeit nach dem abendlichen Beisammensein war für die meisten Frauen besonders schlimm. Vor allem in den langen Nächten sagte sich die Hölle an.

Chantal hörte das Schluchzen von Viola bereits durch die geschlossene Tür. Als diese nach langem Klopfen geöffnet wurde, schlenderte sie, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, an der Weinenden vorbei; bewaffnet mit zwei Flaschen Wein und zwei Gläsern.

Während sie Platz nahm, und zwei Gläser eingoss, sagte sie lachend:

»Sich allein besaufen macht auf die Dauer keinen Spaß.«

Viola schnappte sich unaufgefordert ein Glas und kicherte mit Tränen in den Augen:

»Als du zu uns gestoßen bist, habe ich sofort gesehen, dass du einen an der Waffel hast.«

Gegen Mitternacht wurde Viola immer lockerer. Die süffige Spätlese zeigte zunehmend ihre Wirkung.

»Ich werde diese lüsternen und starken Kerle vermissen«, gluckste die Blondine lachend und mit Tränen in den Augen.«

»Saublöde Einstellung«, sagte Chantal. »Denk‘ doch mal logisch! Wollten diese Lüstlinge deine Titten oder viel eher deine Muschi?«

»Schon. Schon«, schniefte Viola. »Aber zuerst haben sie auf meinen großen Ausschnitt gestarrt – und auf meinen Hintern.«

»Der Professor zaubert dir einen noch größeren Busen. Dass da Silikon drin ist, können die Kerle doch nicht riechen. Und mit dem Po kannst du weiterhin wackeln.«

»Aber sie wollen sich auch an meinen Titten ergötzen. Stattdessen glotzen sie auf die großen Narben. Und ich sehe, wie sich ihr Schniedelwutz verabschiedet.«

Der Blondine war es offensichtlich wichtig, sich diese Szene vorzustellen. Ihr um 45 Grad ausgestreckter Zeigefinger neigte sich in Zeitlupentempo nach unten; begleitet von einem langen und immer dumpfer werdendem „Tsssssss“.

Chantal drückte der Blondine lachend einen Kuss auf die vollen und leicht zitternden Lippen.

»Ach du liebes Bisschen. Du musst noch eine ganze Menge lernen.«

»Zum Schluss noch von dir?!«, ätzte die Blondine.

»Warum nicht?«, lächelte Chantal.

»Merke dir vor allem eines. Zu viel Licht kann tödlich sein. Spiele mit dem Licht, mit deinen Augen, deinen Lippen, deiner Zunge, deinem Atem, deinen Bewegungen. Du musst deinen ganzen Körper einsetzen. Du bist die Chefin von diesem herrlichen Spiel. Nicht die Kerle. Lass‘ sie das ruhig glauben. Die meisten von diesen Burschen denken in einer solchen Situation ohnehin mit dem Schwanz. Wesentlich ist, dass du sie dorthin führst, wohin du sie haben willst.«

»Oh Gott. Oh Gott. Oh Gott.«, gluckste die Blondine. So wie du es ausdrückst, sehe ich dieses Spiel plastisch vor meinen Augen. Du hast es faustdick hinter den Ohren.«

»Wir sind ja noch eine ganze Weile hier. Wenn du diese schöne Klinik wieder verlassen musst, darfst du Männern wieder zeigen, wo es langgeht. Jetzt lasse dir zuerst einmal ein paar schöne Brüste drapieren, die aus deiner Sicht zu dir passen.«

Kopfschüttelnd blickte sie Viola in die Augen.

»Du bist doch eine clevere Frau. Was hindert dich daran, diesem Scheißladen den Rücken zu kehren. Suche dir einen anderen guten Job. Vielleicht in einer anderen Stadt, wo niemand deine Geschichte kennt. Fang‘ einfach von vorn an. Eine andere Stadt bedeutet auch andere Männer. Typen, die auf deine neuen Titten stieren, und geil auf deine Muschi sind, gibt es überall.«

Chantal goss die Gläser wieder voll. Sie waren bereits an der zweiten Flasche angelangt.

»Vielleicht lächelst du dir aber auch eine gutaussehende Frau an«, flüsterte sie hierbei fast konspirativ.

»Frauen?! Igitt. Was soll ich mit Frauen?«

Chantal nahm der Blondine das Glas aus der Hand.

Und danach zeigte sie der Beschwipsten, dass die Liebe unter Frauen auch himmlisch sein kann. Männer waren schließlich auf Monate hinaus nicht greifbar.

Warum also auf die Freuden der Liebe verzichten!

Die darauffolgenden Monate in der Klinik am Bodensee vergingen wie im Flug.

Professor Lemberg brauchte Chantal nicht zu fragen, wie sie das Kunststück mit Viola fertiggebracht hatte. Die Blicke der Blondine sprachen Bände. Die Frauen tuschelten und waren neidisch.

Dieser eine Abend, diese Nacht und die darauffolgenden vielen Tage waren sowohl für Viola aber auch für Chantal wie eine Befreiung.

Sie hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes aneinandergeklammert.

Sie hatten sich gegenseitig aus den Tiefen ihrer Qualen und Ängste herausgeholfen. Beiden Frauen war jedoch bewusst, dass sich nach diesem Klinikaufenthalt ihre Wege wieder trennen würden.

Sie verhielten sich wie unzertrennliche Schwestern; schwammen jeden Tag, machten unter Anleitung Gymnastik und ließen die Physiotherapien über sich ergehen. Die Lymphknotenoperationen hatten beträchtliche Spuren hinterlassen. Es dauerte viele Wochen, bis sie ihre Arme wieder ohne Schmerzen bewegen konnten. Sie gingen am Bodensee spazieren und saßen bis in die Nacht hinein zusammen. Fast jede zweite Nacht lagen sie zusammen im Bett. Sie streichelten sich, liebten sich und kuschelten sich eng aneinander.

Das geht schon in Ordnung, lachte der Professor, als man ihm mitteilte, dass Chantals Bett oft unbenutzt blieb.

Chantals gute Figur entpuppte sich als Fluch. Ein Brustaufbau mit Eigengewebe war schlichtweg unmöglich.

Mit einer vergleichsweise kleinen Brust wollte sie sich auch nicht zufriedengeben. Es blieb also nur die Möglichkeit, Silikonkissen einzupassen. Danach sahen ihre Brüste aus wie vor der Operation; prall und fest. Der Professor war tatsächlich eine Koryphäe. Die Narben verschwanden fast vollständig unter den Rundungen.

Der 14. November war ein kalter und sonniger Tag. Chantal und Viola wurden gleichzeitig entlassen. Viola bestand darauf, zusammen mit ihrer Freundin 14 Tage Abschieds-Urlaub in Bad Füssing zu machen.

So nannte sie das.

In einem noblen Hotel mit zwei Innen- und zwei Außen-Thermal-Becken teilten sie sich noch einmal ein großzügiges Appartement.

An einem Sonntag, Ende November, trennten sich ihre Wege. Mit Tränen in den Augen versprach Viola hochheilig, so oft wie möglich mit Chantal zu telefonieren. Natürlich würde sie so bald wie möglich nach Frankfurt kommen. Aber Chantal machte sich nichts vor. Dieses blonde Gift mit den großen neuen Brüsten würde sie bald vergessen haben. Und das war auch gut so.

Der Taxifahrer lud beflissentlich die Koffer ein sein Fahrzeug. Eine Fahrt nach Frankfurt hatte er nicht alle Tage. Als er sah, wo er seine kostbare Fracht im Frankfurter Nordend ablud, war er mit seiner Welt wieder versöhnt; zumal ihm die gutaussehende Dame einen Hundert-Euro-Schein zusätzlich in die Hand drückte.

Chantal hatte von unterwegs das Ehepaar Lorenz angerufen, das in den letzten 18 Monaten sowohl ihre Villa in Frankfurt, ihre Wohnung im 22. Stock als auch die Villa im Odenwald pfleglich behandelt hatte. Als sie das Haus betrat, flackerte bereits das Feuer im Kamin. Ausreichend Geld konnte etwas Herrliches sein.

Der Nieselregen hielt sie nicht davon ab, zunächst Harald zu begrüßen.

»Guten Tag mein Liebster«, sagte sie, während die Regentropfen das wieder länger gewordene Haar durchtränkten.

»Vor einiger Zeit habe ich nicht mehr damit gerechnet, dich wiederzusehen. Ich habe ein bisschen Silikon mitgebracht. Aber sonst geht es mir wieder prima. Du hast mir gefehlt. Ich werde dir heute Abend zuprosten. Also bis später.«

Danach wanderte sie von Zimmer zu Zimmer, um wieder Besitz von der schönen Villa zu nehmen; Heimatluft zu tanken.

Die Engel der Madame Chantal

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