Читать книгу Die Engel der Madame Chantal - Kurt Pachl - Страница 9
Kapitel 7
ОглавлениеDie Zeit, das Schicksal, oder wer auch immer die Fäden über Chantals Leben in den Händen hielt, entschieden, dass die Ladies noch etwas warten mussten.
An einem Vormittag im Mai 2006 brummte Chantals Smartphone. Es war ihre Mutter.
»Kannst du kommen?«, begann sie mit verweinter Stimme.
Seit einigen Jahren fiel es ihrer Mutter schwer, ihre Tochter „Schätzchen“ oder „mein Engel“ zu nennen, wie sie dies in ihrer Kindheit oder Jugend getan hatte.
»Ist was passiert Mama?«, fragte Chantal besorgt.
»Ja. Papa ist heute Nacht gestorben. Ich brauch‘ dich. Das schaff‘ ich nicht allein. Bitte.«
Chantal warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war 10:45 Uhr. Heute Nacht ist er gestorben, schoss es durch ihren Kopf. Und erst jetzt ruft sie mich an. Außerdem war es nicht mein Papa. Es war mein Stiefvater. Und vor ihrer Flucht aus Freiburg hatte er sich als Schwein benommen. Deshalb fiel ihre Antwort knapp aus:
»Ich werde gegen vierzehn Uhr bei dir sein Mama. Gut so?«
»Oh das wäre schön. Danke«, schluchzte die Mutter.
»Bis nachher«, sagte Chantal und legte auf.
Nein. Ein schwarzes Kleid, das sich für eine Beerdigung eignen würde, hatte sie nicht im Schrank hängen. Auf dem Weg zu Autobahn kannte sie ein großes Bekleidungsgeschäft.
Zu ihrer neuen Wohnung in der Wintersbachstraße gehörte selbstverständlich eine Garage. Darin ruhte sich ein Mercedes der oberen S-Klasse aus.
Diese Nobelkarosse wurde nur wenige Male im Jahr bewegt. Hier in Frankfurt fuhr Chantal nur mit dem Taxi. Um in andere Städte zu gelangen, bevorzugte sie die Bahn oder flog.
Beim Kofferpacken überfiel sie eine verrückte Idee. Ja. Diese würde sie umsetzen; musste sie umsetzen. Grinsend griff sie zum Telefon.
»Karl, mein Freund. Hast du ein paar Tage Zeit?«, gurrte sie ins Telefon.
»Madam Chantal. Für Sie doch immer. Wann soll ich kommen?«
»Gleich Karl. Gleich.«
»Oh. Sie sind immer für eine Überraschung gut. In ein paar Minuten bin ich bei Ihnen.«
»Nehmen Sie sich ein Taxi Karl. Gepäck für drei oder vier Tage.«
Karl kannte Chantal schon viele Jahre. Er hatte das Gefühl, dass da noch etwas war, dass diese ungewöhnliche Frau loswerden wollte. Deshalb fragte er:
»Sonst noch etwas Madame?«
»Hm ja Karl. Dieses Mal ausnahmsweise Uniform und Dienstmütze. Ich erkläre das unterwegs.«
»Selbstverständlich Madame Chantal. Das scheint dieses Mal spannend zu werden.«
Karl Czech kutschierte früher vornehmlich Banker und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft; Personen, die es nicht für sinnvoll erachteten, einen eigenen Chauffeur anzustellen. Inzwischen hatte er die sechzig überschritten, und wollte nur noch an seinem See sitzen und angeln. Für Chantal machte er gerne eine Ausnahme. Er liebte sie auf eine seltsame Weise. Platonisch natürlich. Dafür himmelte sie ihn an, gab ihm des Öfteren ein Küsschen auf die Wange, und entlohnte ihn fürstlich. Karl war vor allem verschwiegen. Und er konnte, sollte dies notwendig werden, gut mit einer Waffe umgehen; sehr gut sogar. Er liebte die Nobelkarosse, die er vor ein paar Jahren aussuchen durfte.
Nachdem Chantal ihren verschwiegenen Fahrer mit einem Küsschen begrüßt hatte, nahm sie im Fond Platz. Sie wollte nachdenken; sich mental auf Freiburg vorbereiten.
Dieser Tag, vor zwei Jahren, hatte sich in Chantals Seele eingefräst.
Es war zum Ritual geworden, dass sie ihre Mutter kurz vor Weihnachten besuchte. Doch vor zwei Jahren wartete eine denkwürdige Überraschung auf sie. Ein Geschäftsmann aus Freiburg hatte sie auf dem Foto erkannt; mit ihr und Harald; an diesem verrückten Abend. Für den Geschäftsmann war es offenbar wichtig gewesen, Nachforschungen anzustellen. In Windeseile verbreitete sich die Story in Freiburg: Die Schwiegertochter von Hannes Vögele, dem Inhaber der weithin bekannten Weinschänke am Schlehbusch, ist eine Nobel-Prostituierte in Frankfurt; eine Art Rosemarie Nitribitt. Hannes Vögele wurde daraufhin noch bekannter – und wütender.
Als seine Stieftochter, diese Hure, sein Haus betreten wollte, wartete er bereits mit einem Knüppel. Der Krankenhausaufenthalt brannte sich tief in Chantals Seele ein. Vergeblich wartete sie auf ihre Mutter. Das waren die schlimmsten Schmerzen – damals. Erst vor einem Jahr trat Mama den Gang nach Canossa an - telefonisch. Sie entschuldigte sich weinend. Sie berichtete, dass Hannes immer noch sauer sei. Seit dieser Sache, damals, konnten sie sich vor Gästen kaum noch retten. Sie pilgerten in Scharen zur interessant gewordene Gaststätte am Schlehbusch. Es war ein kurzes und einseitiges Telefonat gewesen.
Diese scheinheilige Meute, die sich ihre Mäuler zerrissen hatten, sollten nun ihre Show bekommen.
Chantal wartete selbstverständlich, bis Karl ausgestiegen war, bis er seine Dienstmütze aufgesetzt hatte, und ihr mit einer Verbeugung die Wagentüre öffnete.
Die schwarzen Krähen glotzten und tuschelten. Der Tote war urplötzlich Nebensache.
»Ach mein Schatz. Musste das denn sein?«, begrüßte die Mutter weinend ihre Tochter.
»Schau sie doch an Mama«, sagte Chantal halblaut.
»So sehen noble Leute aus, die deinem Mann ihre Aufwartung machen wollen. Schau dir
meinen Lehrer an. Der hat mir mehr als einmal unter den Rock gegriffen. Der Herr Pfarrer, dieser alte Sack, hat mir in der Sakristei den Slip ausgezogen. Was er noch gemacht hat – darüber will ich an dieser Stelle lieber schweigen. Die Frau Häberle, da drüben, hat es mit mindestens zwanzig Männern getrieben. Alle haben es gewusst. Aber da erzähle ich dir nichts Neues. Und die Frau dort, ich hab‘ ihren Namen vergessen, hat ihre Kinder fast totgeprügelt. Jetzt ist sie natürlich mutterseelenallein. Und betet. Gott soll ihr erklären, was sie falsch gemacht hat. Soll ich weitersprechen Mama? Soll ich mich vor diesen Pharisäern schämen Mama?«
»Ach Kind. So sind sie halt. Ich wohne hier. Und du in Frankfurt. Soll ich mehr dazu sagen?«
Die Beerdigung von Hannes Vögele wurde nicht langweilig. Der alte und sicher schon senile Pfarrer sprach oft von Sünde und Vergebung. Einige junge Männer war gekommen, um mit ihren Smartphones das Objekt zu verewigen, worüber die schwarzen Krähen selbst am Grab fortwährend krächzten und tuschelten.
Chantal trug ein langes, sündhaft teures Kleid. Sie ließ ihre schwarzen langen Haare über ihre Schultern fließen. Bezüglich ihrer Kopfbedeckung konnte man allerdings sehr geteilter Meinung sein. Der rabenschwarze Hut mit breiter Krempe war mit einer Stoffleiste versehen; verziert mit schwarzen Rosen. Der hauchdünne Tüllschleier verdeckte dezent ihr Gesicht. Doch dieser Schleier war mit kleinen Spinnen versehen. Die Worte des alten Pfarrers waren Nebensache. Das Ministranten-Gebimmel ging im Raunen und Getuschel der „Trauernden“ unter.
Chantal blieb noch zwei Tage.
Ihre Mutter war erst 66 Jahre alt.
Diese früher so schöne Frau wirkte plötzlich wie 75. Vor allem die letzten Jahre mit Hannes Vögele waren, wie sie nach einigen Schnäpsen stockend erzählte, alles andere als ein Zuckerschlecken gewesen. Sie rang ihrer Tochter das Versprechen ab, bei der Testamentseröffnung anwesend zu sein; ihr bei den daraus resultierenden Dingen beratend zur Seite zu stehen.
Vier Wochen nach dieser denkwürdigen Beerdigung ließ sich Chantal erneut nach Freiburg chauffieren.
Wie sich herausstellte, hatte Hannes Vögele seiner Frau viel verschwiegen; verdammt viel sogar. Er hatte sie als Alleinerbin eingesetzt. Doch im Büro des Notars saßen noch zwei weitere Personen.
Da saß der blasse und achtundzwanzigjährige Christian und neben ihm kauerte die fünfundzwanzigjährige Lisa. Ein Gutachten belegte, dass diese beiden Personen zweifelsfrei die leiblichen Kinder von Hannes Vögele waren. Sie beanspruchten 25 Prozent am Erbe.
Mama Vögele verfiel in eine Starre. Sie bekam nicht mehr mit, was der Verstorbene sonst noch hinterlassen hatte: Parallel zur Gaststätte mit den vielen Übernachtungszimmern und dem Anbau, in dem sie so viele Jahre mit ihrem Mann gewohnt hatte, gab es da noch drei Häuser in guter Lage und Weinberge, viele Weinberge. Und da gab es noch ein stattliches Aktienpaket.
Am Nachmittag beugten sich ein versierter Anwalt und ein Notar über alle Unterlagen des Nachlassgerichtes. Chantal hatte sich von Frankfurt aus mit ihnen in Verbindung gesetzt.
Um nichts auf der Welt wollte Mama Vögele weiter in diesem großen Haus wohnen. Nein. Nach Frankfurt wollte sie auch nicht. Sie musste doch das Grab von Hannes pflegen. Das Grab des kleinen Gerard existierte allerdings nicht mehr.
Chantal kaufte ein schönes Zwei-Zimmer-Appartement in einer Anlage für betreutes Wohnen.
Das Schicksal hatte nur noch ein Jahr für Jaqueline Vögele auf dieser Erde vorgesehen. Sie starb an einem Hirnschlag. Es war ein schneller Tod.
Der Notar, den Chantal ein Jahr zuvor engagiert hatte, achtete darauf, dass sie als Alleinerbin eingesetzt wurde.
Der Nachlassverwalter schätzte das Vermögen auf zwei Millionen Euro.
In den letzten Jahren hatte Chantal nie über Geld nachgedacht.
Inzwischen war es ihr manchmal lästig, sich mit Finanzdingen beschäftigen zu müssen. In den ersten Jahren in Frankfurt konnte sie jährlich fünfzigtausend Euro auf die Seite legen.
Doch bereits fünf Jahre später war es das zehnfache pro Jahr.
Seit einigen Jahren war sie eine äußerst gefragte Begleiterin.
Ihre Ausgaben waren vergleichsweise minimal. Harald hatte ihr die herrliche Wohnung im 22. Stock geschenkt. Meistens wurde sie zum Essen eingeladen. Einige Männer waren versessen darauf, ihr Kleider zu kaufen.
Vor einigen Jahren gelang es ihr, das große Haus in der Miquelallee zu kaufen. In den Anfangsjahren hatte sie in diesem Haus ein Zweizimmer-Appartement gemietet. Das Objekt mit seinen achtundzwanzig Wohnungen und einer Tiefgarage war nicht mehr ganz taufrisch.
Da sie nicht spekulieren wollte und sich mit Aktiengeschäften nicht auskannte, legte sie sukzessive ihre Einnahmen, nicht zu vergessen das Erbe ihrer Mutter, in vier weitere Immobilien an.
Darunter befand sich eine herrliche, alleinstehende Villa im Odenwald. Diese nutzte sie für verschwiegene Dates mit angesehenen Kunden.
Die Villa hatte einen riesigen Keller mit alten bogenförmigen Sandsteingewölben. Iris durfte Teile davon als schaurig-schönes Folter-Refugium heranziehen. Eingeweihte waren geradezu besessen, für viel Geld darin ihre herrlichen Qualen durchleben zu dürfen.
Es war ein verregneter Montagmorgen.
Nach einem langen Frühstück, Harald hatte gerade die Villa verlassen, brummte Chantals Smartphone. Es war eine Frauenstimme.
»Guten Morgen Madame Chantal. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie mit diesem Namen anspreche. Aber ich habe in den Unterlagen keinen anderen Namen gefunden. Mein Name ist Hedda Conzen. Können Sie mit meinen Namen etwas anfangen?«
Unzählige Gedanken schossen durch Chantals Kopf. Warum rief diese Frau bei ihr an?
Eric Conzen, der Inhaber einer Hotel-Gruppe in Wiesbaden, war einer ihrer langjährigen Stammkunden. Nein. Große Probleme waren von dieser Frau nicht zu erwarten.
»Selbstverständlich Frau Conzen. Was kann ich für Sie tun?«, antwortete sie deshalb.
»Es ist das ungewöhnlichste Telefonat meines Lebens.« Sie lachte kurz.
»Aber ich bin fest davon überzeugt, dass auch Sie nicht jeden Tag ein solches Telefonat führen werden. Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, dass Eric vor einer Woche verstorben ist.«
»Oh. Zunächst mein aufrichtiges Beileid.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Wenn ich Eric richtig verstanden habe, wussten Sie, dass er …«
»Das stimmt. Er hat mir sogar einige Male Ihren Namen genannt. Ich habe hier ein Schreiben an Sie in seinen Unterlagen gefunden. Ich wollte es nicht einfach wegwerfen.«
Chantal hatte ihre Fassung wiedergefunden.
»Wir beide sind doch intelligente Frauen. Kürzen wir die Sache ab. Öffnen Sie einfach das Kuvert. Lesen Sie mir bitte vor, was der arme Eric geschrieben hat. Woran ist er gestorben, wenn ich fragen darf.«
»Stilgerecht«, lachte die Frau. »In unserem großen Weinkeller. Mit einem Glas Sekt in der Hand.«
»Herrjeh. Jaja. Eric hat das Leben geliebt.«
»Sie sagen es. Sie sagen es … Ich habe jetzt das Kuvert geöffnet.«
»Lesen Sie bitte Frau Conzen.«
»Liebste Chantal. Es waren wunderschöne Stunden mit Dir. Ich spüre, dass meine Kräfte für eine so schöne Frau, wie Du es bist, nicht mehr ausreichen, und dass es bald zu Ende geht mit deinem Schnurri. Ich werde Dich da oben vermissen. Küsschen. Dein Eric.«
Für lange Sekunden entstand Stille. Chantal hörte, dass die Frau am anderen Ende der Leitung leise weinte. Chantal ließ ihr Zeit.
»Demnach hat er es gewusst, wie es um ihn stand«, sagte Frau Conzen leise.
»Obwohl wir uns in den letzten Wochen so gut verstanden haben, wie schon lange nicht
mehr. Nach diesen „Ausflügen“, wenn ich es einmal so nennen darf, kam Eric immer wie ausgewechselt zurück. Ich komme mir jetzt total bescheuert vor, wenn ich mich an dieser Stelle bei Ihnen bedanke. Das bleibt hoffentlich unter uns. Können Sie mir erklären, warum Eric diesen Brief nicht abgeschickt hat? Im Kuvert befinden sich zehntausend Euro.«
»Ja das kann ich. Er hat mich vor ungefähr zehn Tagen angerufen. Er wollte meine Adresse haben. Das habe ich freundlich verneinen müssen. Ein Treffen war für mich nicht möglich, weil ich selbst einen Trauerfall hatte. Ich will das Thema abkürzen. Bitte schenken Sie das Geld einer armen Seele. Können wir so verbleiben?«
»Ja. Selbstverständlich Frau … Frau … Macht es Sinn zu fragen, ob wir uns einmal auf einen Kaffee treffen?«
»Ich glaube, dass das keine gute Idee wäre. Bitte haben Sie dafür Verständnis. Auf alle Fälle bedanke ich mich für Ihren lieben Anruf. Auf Wiederhören Frau Conzen. Ihnen alles Gute.«
Chantal erwartete keine Antwort und legte auf.