Читать книгу Plastikspur - Lara Elaina Whitman - Страница 10

Selbstmord?

Оглавление

Miriam Schlohwächter schlief normalerweise tief und fest wie ein Murmeltier im Winterschlaf, doch diese Nacht hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt und über all die schlimmen Ereignisse nachgedacht. Dementsprechend gerädert fühlte sie sich am Morgen. Um neun Uhr schien ihr dann auch noch unerbittlich die heiße Sonne auf die Nase. Mit einem herzerweichenden Seufzer schwang sie ihre Beine über den Rand des Bettes. Es machte keinen Sinn weiter liegen zu bleiben, denn das wurde ja doch nichts mehr. Sie konnte den fehlenden Schlaf nicht nachholen, das hatte sie noch nie gekonnt. Rasch zog sie eine kurze Hose und Laufschuhe an und ging eine Runde joggen. Nicht dass sie besonders sportlich wäre, aber der Zustand ihrer Schwester gab ihr nun doch zu denken. Etwas mehr Bewegung konnte ihr sicher nicht schaden. Ziemlich verschwitzt war sie nach einer Dreiviertelstunde wieder zurück. Miriam fühlte sich tatsächlich etwas besser. Das sollte sie vielleicht öfters machen. Schnell rief sie noch Helmut, ihren Schwager, an und vereinbarte mit ihm, dass sie nachmittags ins Esslinger Krankenhaus fahren würde. Corinna ging es soweit gut. Es gab keine Veränderung und soweit sie das verstanden hatte, würde es auch eine Ewigkeit dauern, bis es wieder besser wurde. Die Erfahrungsberichte, die sie im Internet gefunden hatte, sprachen alle von mindestens eineinhalb bis zu mehreren Jahren.

Miriam duschte ausgiebig, ging dann zum Wochenmarkt und kaufte ein paar Brötchen, Obst und Gemüse. Auf dem Rückweg angelte sie sich den „Filderstädter“ aus dem Postkasten, die Samstagsausgabe. Sie war neugierig darauf, ob Karl Müller alles genauso übernommen hatte, wie sie es geschrieben hatte. Miriam legte die Zeitung auf den schmalen Balkontisch, der an der Brüstung hing, machte sich Kaffee, Brötchen, schnitt einen Apfel klein und trug alles auf den Balkon hinaus. Wäre Corinna nicht so krank, wäre das ein wunderbarer Tag geworden, bei dem schönen Wetter. Heute würde es bestimmt warm werden, soviel stand fest. Dieser April hatte es in sich, benahm sich, als wäre er ein Sommermonat.

Miriams Wohnung befand sich im obersten Stockwerk eines Mehrparteienhauses. Im Sommer wurde es manchmal ganz schön warm drinnen. Die Wohnung war nicht groß, bestand nur aus zwei Zimmern und einem Balkon, war aber gut ausgestattet und noch wichtiger, bezahlbar. Das Haus war schon in den 1990er Jahren gebaut worden. Der Balkon lag auf der Nordseite des Wohnblocks, was bei heißem Wetter ein Vorteil war. Außerdem konnte sie die Filderebene überblicken und den Betrieb auf dem Flughafen beobachten. Das war aber auch schon alles, was sie am Stadtteil Plattenhardt gut fand. Miriam hatte schon mehrmals überlegt umzuziehen, aber es war gar nicht so einfach eine Wohnung zu finden, ganz davon abgesehen, dass sie ihr ja auch noch gefallen musste. Ganz wegziehen von Filderstadt wollte sie nicht, denn die Anbindung an die großen Verkehrsadern des Landes Baden-Württemberg waren wirklich sehr gut. Außerdem befand sich die Bushaltestelle direkt vor der Haustür, was ein unschätzbarer Vorteil war, da Miriam des Öfteren kein Geld für Benzin hatte und deshalb den Bus nehmen musste.

Miriam griff zur Zeitung. Es war Zeit sich ihr Werk anzusehen. Ein wenig aufgeregt klappte sie sie auseinander und stutzte. Karl Müller hatte ihren Artikel auf der ersten Seite platziert. Wow! Das war das erste Mal, dass ihr Artikel den Spitzenplatz hatte. Sie las ihn sorgfältig durch. Karl hatte fast nichts geändert. Die Ausgabe würde sie sich aufheben. So oft kam das nicht vor. Das lag bestimmt an dem Thema. Meistens bekamen die beiden Journalisten, die schon seit Jahren für die Zeitung arbeiteten, die interessanten Sachen ab, deshalb blieben für Miriam nur die Brotkrumen. Offenbar war sie jetzt lange genug dabei und hatte sich ihre Lorbeeren verdient.

»Vielleicht bekomme ich dann auch eine Gehaltserhöhung? Mein Konto könnte eine Auffrischung durchaus gebrauchen. Ich kann nicht schon wieder meine Mutter bitten, mir etwas zu leihen, zumal die überhaupt kein Verständnis für meine absolut weibliche Vorliebe für Schuhe hat«, überlegte Miriam hoffnungsvoll und legte die Zeitung zu den Büchern ins Regal.

Wenig später fuhr Miriam ins Krankenhaus nach Esslingen zu Corinna. Sie unterhielten sich eine Weile, dann überließ sie Corinna ihrer Mutter und ihrem Schwager, denn ihr war gerade etwas eingefallen.

Mit dem Fuß auf dem Gaspedal und unter Umgehung der üblichen Geschwindigkeitsregeln fuhr sie zurück nach Plattenhardt. Bernd Obermeier spielte am Samstag immer Fußball mit seinen Kollegen, oben auf der Weilerhau. Vielleicht konnte sie ihn abpassen.

Miriam hatte wieder einmal Glück. Die Männer waren wohl gerade fertig geworden und standen noch auf dem Parkplatz vor den Autos, um zu rauchen. Wie konnte man Fußball spielen und trotzdem rauchen? Das passte für Miriam nicht zusammen. Sie winkte kurz.

Bernd zog ein wenig gequält die Augenbrauen hoch, so wie immer, wenn er sie sah, sagte dann aber nur knapp, »Hallo, Miri«.

»Hi, Bernd«, antwortete Miriam gedehnt. Das fing nicht gut an. Er hatte schlechte Laune. »Was ist dir denn passiert? Du guckst als hätten dir die Mäuse das Brot gestohlen.«

Bernd Obermeier nahm Miriam am Arm und führte sie von den anderen weg.

»Miriam, ich kann dir noch nichts sagen zu dem Fall. Außerdem habe ich Feierabend. Ruf mich nächste Woche an. Vielleicht habe ich dann mehr.«

Miriam schüttelte den Kopf.

»Schon gut, schon gut. Ich wollte dich nicht nerven. Der Fall beschäftigt mich eben.«

Bernd Obermeier musterte sie tiefgründig, auf eine Art, die in Miriam die Alarmanlagen schrillen ließen. Es war so geschäftsmäßig, völlig anders als sonst. Das kannte sie nicht von ihm.

»Leg den Fall zu den Akten. Du bekommst noch die Ergebnisse der Ermittlung mitgeteilt, für eure … Zeitung. Dann ist das erledigt. Verstanden?«

Der harsche Tonfall ließ Miriam zusammenzucken. War er wütend auf sie, oder sah sie da etwa Besorgnis in seinen wunderschönen braunen Augen? Schlagartig fielen ihr die Worte von der Frau auf dem Anrufbeantworter wieder ein – stellen Sie keine Fragen.

»Ja, natürlich. Wir wollen den Lesern nur mitteilen, woran der arme Mann denn gestorben ist. Das ist alles.« Miriam war überrascht, wie aufrichtig sie klingen konnte, wenn sie sich Mühe gab.

Bernd schien es jedenfalls zu beruhigen. Das gab Miriam allerdings noch mehr das Gefühl, sich mit der Sache auseinandersetzen zu müssen, aber das sagte sie natürlich nicht. Es war Zeit andere Wege zu finden. Bernd würde ihr nicht weiterhelfen. Ihr Entschluss war gefallen, sie würde sich mit dieser Frau treffen und sehen, was dabei herauskam.

»Geht ihr noch einen Trinken?«, fragte sie Bernd mit scheinbar guter Laune in der Stimme.

»Ja, aber Männerabend.«

Bernd Obermeier zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Wir könnten aber ein anderes Mal, wenn du möchtest.«

Miriam überlegte ein paar Sekunden, ob sie das wirklich zulassen wollte.

»Einen Kaffee? Unter Freunden?«, sagte sie schließlich und sah die Enttäuschung in seinen Augen. Ihm etwas vorzuspielen würde sie nie machen. Das wäre nicht fair. Das hatte er nicht verdient.

Bernd Obermeier nickte nur resigniert und ging grußlos davon. Miriam sah ihm noch kurz nach, bedauernd, dass sie nicht mehr für ihn empfand und machte sich dann auf den Weg nach Hause. Wie es wohl wäre, nicht alleine in einer Wohnung zu leben, schoss es ihr durch den Kopf. Daran wollte sie lieber nicht denken. Manches Mal war es schon recht einsam, zumal die meisten ihrer Freundinnen mittlerweile Kinder hatten und kaum noch Zeit irgendwohin zu gehen, vor allem nicht am Samstagabend. Nur ihre Freundin Tamara hatte einen Singlestatus, aber trotzdem kaum Zeit für Unternehmungen, da sie fast ständig in der Rechtsmedizin war, oft auch am Wochenende. Sie beneidete Bernd dafür. Die Männer waren da echt im Vorteil. Die mussten auch nicht den ganzen Tag lang kleine Kinder hüten, Wäsche waschen, kochen, putzen und noch halbtags arbeiten gehen und was in einem Haushalt und Eheleben sonst noch so alles anfiel. Damit waren ihre Freundinnen am Wochenende einfach so durch den Wind, dass sie kaum noch Lust darauf hatten in irgendeinen Club zu gehen, oder etwas anderes Amüsantes anzustellen, nicht einmal ein Kinobesuch konnte sie noch locken. Was soll´s? Warum über etwas nachdenken, das sie sowieso nicht ändern konnte? Miriam stürzte sich in ihre eigenen Vergnügungen, was hieß, dass der Samstagabend angefüllt war mit Internetsuche, danach schaute sie sich noch einen Film an und schlief auf dem Sofa ein.

Der Sonntag verlief ähnlich. Nach dem Besuch bei Corinna sortierte sie ihre Rechercheergebnisse. Sie waren dürftig, aber sie hatte ein paar Namen gefunden. Vielleicht konnte sie die Leute nach Volker Röhn befragen. Müde ging sie ins Bett, denn am Montag wollte sie ziemlich früh ins Büro, damit sie mittags zum Bärensee laufen konnte, um sich mit der ominösen Frau zu treffen, trotz Rogers und Bernds seltsamem Gehabe.

Es klingelte lautstark und penetrant. Erschrocken riss Miriam die Augen auf und blickte auf die Uhr. Zum Henker, es war schon neun und sie hatte verschlafen. Montagmorgen war wirklich am schwierigsten für sie. Die Umstellung vom Wochenende hatte es immer in sich. Hastig griff sie nach dem Telefon, der Quelle des nervigen Klingelns.

»Schlohwächter?«, nuschelte sie hinein, während sie aufstand und in die Küche eilte, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Miriam bevorzugte die Handmethode, sprich Filter und Wasserkocher. Kaffeeautomatenkaffee mochte sie einfach nicht. Der schmeckte ihr zu bitter.

»Guten Morgen, Frau Schlohwächter. Hier spricht Kriminaldirektor Hasso von Brücken, Kriminalpolizei Stuttgart. Ihre Redaktion hat gesagt, dass ich Sie unter dieser Rufnummer erreichen kann«, brummelte es mit sonorer Stimme aus dem Telefon.

Kriminaldirektor von Brücken? War das nicht der Vorgesetzte von Bernd? Viel Zeit zum Nachdenken hatte sie nicht, denn der Polizeibeamte sprach einfach weiter.

»Wir haben die Akte Volker Röhn geschlossen. Es war Selbstmord. Die Angehörigen des Verstorbenen haben uns gebeten, eine weitere Berichterstattung zu unterbinden. Bitte halten Sie sich daran.«

»Äh!«, sagte Miriam erstaunt, denn etwas besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein. Welche Angehörigen denn? Der Mann hatte doch gar keine Kinder gehabt und seine Frau war tot.

»Auf Wiederhören, Frau Schlohwächter.«

Perplex starrte Miriam auf das Telefon. Was war das denn? Selbstmord? Nie im Leben war das ein Selbstmord. Wollten die sie auf den Arm nehmen? Und warum rief der Polizeibeamte extra deswegen bei ihr zuhause an? Das war doch mehr als ungewöhnlich, oder nicht?

Rasch trank Miriam ihren Kaffee aus und beeilte sich dann ins Büro zu kommen. Sie musste dringend mit Karl Müller, dem Redaktionsleiter, sprechen. Das stank doch zum Himmel.

Plastikspur

Подняться наверх