Читать книгу Plastikspur - Lara Elaina Whitman - Страница 9

Schon wieder Überstunden

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Samstagmorgens in der Rechtsmedizin. Heute war der vierte Fall dran, den sie gestern nicht mehr geschafft hatten. Das Desinfektionsmittel brannte penetrant in der Nase. Tamara Damarow schüttelte genervt den Kopf. Da hatte das Reinigungspersonal es wohl wieder einmal zu gut gemeint. Rasch schaltete sie die Klimaanlage ein, die den scharfen, an den Schleimhäuten ihrer Nase zerrenden Geruch in wenigen Minuten beseitigte, indem sie ihn nach außen beförderte. Gleichzeitig flammte das Deckenlicht auf, was den großen Raum schlagartig erhellte.

Tamara blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit an und betrachtete prüfend den Raum. Alles blitzsauber, so wie sie es mochte. Die Sektionstische im Sektionssaal waren leer. Unter der Woche war hier immer etwas los, doch am Wochenende war sie oft die einzige hier. Ihre Kollegen hatten alle Familie und deshalb blieben dringende Fälle meistens an ihr und dem Neuen hängen, der jedoch noch nicht da war. Hoffentlich kam er bald.

Gestern war eine Leiche hereingekommen, ein Selbstmord. Das Ergebnis der Obduktion sollten sie ebenfalls noch einmal überprüfen, genau wie die der letzten drei Fälle, die sie gestern erledigt hatten. Aber warum wollte ihr Chef, dass sie ausgerechnet diese Obduktion und mit dieser Dringlichkeit wiederholten? Hätte das nicht bis Montag warten können? Tamara ärgerte sich ein wenig darüber. Ausgerechnet heute, wo sie sich endlich einmal wieder mit Miriam treffen wollte. Sie hatten sich schon vier Wochen nicht mehr gesehen und Miri hatte sich am Telefon so angespannt angehört. Das hier war es nicht wert, ihr den schönen Samstag zu versauen. Es war doch ein Selbstmord. Ihrer Meinung nach hätte das am Montag auch noch gereicht. In den letzten Wochen war die Rechtsmedizin förmlich mit dringenden Fällen überschwemmt worden, dass sie mit den Obduktionen kaum nachgekommen waren. Es gab also genug Fälle, die nicht so eindeutig waren wie dieser hier, für die sie gerne Überstunden gemacht hätte.

Tamara warf einen kurzen Blick auf den Obduktionsbericht und stutze. Schon wieder ein Fall von Dr. Gersting? Na so was! Nahm ihr Chef endlich die Fehlbarkeit des Kollegen zur Kenntnis. Bis jetzt hatte Tamara Damarow diesen Eindruck nicht gehabt, eher, dass der Leiter der Rechtsmedizin den Mann schützte. Außerdem, konnte sie etwas dafür, dass Dr. Gersting gestern ganz plötzlich gekündigt hatte? Sie hatte den Kerl noch nie leiden können. Er war arrogant und besserwisserisch, erinnerte sie auf unangenehme Weise an ihren geschiedenen Mann und jetzt musste sie auch noch seine Aufgaben übernehmen. Hinzukam, dass dieser Gersting-Fall hier einer von vielen war, für die ihr Chef eine Nachuntersuchung angeordnet hatte. Das bedeutete Überstunden in rauen Mengen, nur weil einer schlampig gearbeitet hatte.

Gewöhnlich machte ihr das nicht besonders viel aus, da die Rechtsmedizin quasi ihre zweite Heimat war, doch manchmal musste auch sie raus, etwas anderes tun als Leichen obduzieren. Miriam, ihre Freundin, arbeitete of samstags in der Galerie und manchmal schafften sie es, sich danach auf einen Kaffee zu treffen. Nach ihrer Scheidung war Tamara ziemlich einsam gewesen, bis sie Miriam Schlohwächter kennengelernt hatte. Ihre Freundin hatte ein Faible für teure Schuhe und war deshalb häufig pleite. Miriam hatte eines Tages vor einem Schaufenster gestanden, mit einem so verzweifelten Gesichtsausdruck, dass Tamara sie angesprochen hatte. Miriam hatte kein Geld mehr, nicht, um sich teure Schuhe zu kaufen, sondern um noch nach Hause fahren zu können. Das war Miriam wirklich peinlich gewesen, aber Tamara hatte sie kurzerhand auf dem Sozius ihres Motorrades mitgenommen, was die Blicke der Männer auf sich gezogen hatte, wie die Motten das Licht, denn Miriam hatte ein superkurzes Minikleid an und ihre ewig langen Beine steckten in roten High-Heels aus Lackleder. Außerdem war Miriam ziemlich groß, während Tamara dagegen nur einenmetersechzig war und sehr zierlich. Auf der schweren Maschine, die Tamara fuhr, sah das wirklich ungewöhnlich aus. Vorne die kleine Frau, ganz in schwarzer Lederkluft und mit schwarzem Integralhelm, hinten die große Frau mit nackten Beinen, die sich krampfhaft festhielt. Zum Glück hatte Miriam der Zweithelm gepasst, den Tamara an diesem Tag dabeigehabt hatte. Seitdem waren sie Freundinnen und Tamara nicht mehr so alleine. Doch Miriam war seitdem nicht mehr zu ihr auf das Motorrad gestiegen, obwohl sie doch ganz langsam gefahren war. Das war nun auch schon eine Weile her.

Die beiden Frauen waren ziemlich unterschiedlich, verstanden sich aber trotzdem gut. Miriam Schlohwächter war etwas jünger und ein wenig oberflächlich, auf den ersten Blick, hatte aber ein gutes Herz und konnte die richtigen Fragen zur richtigen Zeit stellen. Das war von Vorteil in ihrem Beruf, denn Miriam war Journalistin, nur mit Männern klappte es bei ihr nicht. Da fand sie einfach nicht den Mr. Right oder stellte die falschen Fragen. Keine ihrer Beziehungen hatte länger als sechs Wochen gehalten und wenn Miriam weiterhin nicht wusste was sie eigentlich wollte, dann würde dies wohl auch für den Rest ihres Lebens so bleiben.

Tamara hingegen hatte ziemlich jung geheiratet, mit achtzehn bereits, sofort einen Sohn bekommen, währenddessen ihr Studium fortgesetzt und sich für die Rechtsmedizin entschieden, was ihr Mann nicht vertragen hatte. Leichen aufschneiden fand er abstoßend. Leichenmädchen hatte er sie immer genannt. Ihre Kollegen hatten den Begriff dann übernommen und nannten sie heute noch so. Hinter ihrem Rücken. Eines kam zum anderen und nach sieben Jahren Ehe war sie wieder geschieden, da war sie gerade in ihrer Assistenzzeit gewesen. Ihren Sohn hatte ihr Mann mitgenommen, in die USA, ohne sie zu fragen. Das würde sie ihm nie verzeihen. Wenn sie ihr Kind sehen wollte, dann musste sie hinüberfliegen, denn ihr Exmann kam nie nach Deutschland. Das tat sie nun regelmäßig seit Jahren, um ihren Kleinen wenigstens ab und zu zu Gesicht zu bekommen. Ihr Exmann hatte in der Zwischenzeit schon wieder geheiratet und zwei weitere Kinder in die Welt gesetzt, um die er sich mehr schlecht als recht kümmerte, da er ständig unterwegs war. Zum Glück war seine neue Frau Sandy ein herzensguter Mensch und sorgte gut für den Sohn von Tamara, genauso gut wie für ihre eigenen Kinder. Tamara verstand sich gut mit Sandy und telefonierte regelmäßig mit ihr.

Doch damals war irgendetwas in Tamara zerbrochen. Sie hatte den Glauben an die Menschen verloren und die Niederträchtigkeit und Grausamkeit, die sie tagtäglich zu sehen bekam, hatten ihr Übriges getan, dass sie sich immer mehr zurückgezogen hatte. Tamara wusste selbst, dass das nicht gut für sie war, aber sie hatte sich mit ihrem Leben, dem Zerbrechen ihrer Ehe und mit der Einsamkeit, die der Beruf mit sich brachte, arrangiert. Selbst ihre Eltern hielten sich von ihr fern und waren sauer auf sie, dass sie dem Aufschneiden von Leichen den Vorzug vor ihrem Mann gegeben hatte. Dass der einfach nur ein Idiot war, erkannten sie nicht. Wenigstens wurde ihr Sohn mittlerweile zum Teenager und konnte mit Skype umgehen. Sie telefonierte regelmäßig mit ihm, was der Vater nicht wusste. Ihr Sohn konnte Geheimnisse bewahren. Das hatte er von ihr. In zwei Jahren wollte er sie besuchen kommen. Dann war er alt genug alleine zu fliegen. Er hatte es versprochen und er wollte ihren Arbeitsplatz sehen. Tamara lächelte bei dem Gedanken, stellte die Stereoanlage an und rief die Playlist mit Songs ihrer neuesten Lieblingsband auf – Exercise Two -, die sie erst kürzlich entdeckt hatte, während sie begann den Tisch für die Sektion vorzubereiten. Der ziemlich britisch und ein wenig nach 80er-Jahre klingende Rock-Sound füllte den nüchternen Saal mit melancholischer Wärme. Sie liebte die Stimme des Sängers und die Texte. Leise sang sie mit. Dann begann sie noch einmal die Unterlagen zu dem Fall durch zu sehen.

Volker Röhn, geboren am 21.01.1941 in Frankfurt am Main.

Beruf: Geologe und Professur in Angewandter Physik an der Universität Stuttgart.

Familienstand: Witwer, keine Kinder.

Todesart: Tod durch Selbstverletzung mit einer scharfen Waffe

Drogenbericht: negativ

Todeszeitpunkt: Freitag, 21. April gegen 6:00 Uhr morgens

Todesort: sein Haus, Wohnzimmer

Sektionsleiter: Dr. Frank Gersting

Sektionsassistent: Dr. Ernest Franklin

Schon wieder der Rechtsmediziner, den sie nicht kannte. Ihr Chef hatte ein wenig herumgedruckst, als sie danach gefragt hatte, aber er hatte versprochen, dem nachzugehen. Sie hatte keine Antwort bekommen, aber so schwer konnte das doch nicht sein. Das konnte so nicht weitergehen. Vermutlich schob der leitende Oberarzt das auf die lange Bank, weil es zu unangenehmen Fragen über seine Führungsfähigkeiten führen würde. Außerdem waren alle Fälle ganz offensichtlich keine Mordfälle und das war Anlass genug, den Mantel des Schweigens darüber zu breiten. Tamara war nicht zufrieden damit. Vielleicht war Dr. Franklin einfach nur ein Alibifacharzt. Immerhin musste sie jetzt auch warten, da ihr Kollege noch nicht da war und das nervte ganz schön. Wo blieb der Mann denn?

Die Tür ging auf und ein Kopf erschien.

»Bin gleich soweit!«, rief ihr Kollege laut gegen die Musik an.

Tamara nickte nur und stellte die Anlage wieder aus. Das hätte sie sowieso gleich getan, da sie die Würde des Toten nicht stören wollte, konnte sie doch nicht wissen, ob Volker Röhn zu Lebzeiten diese Musik gemocht hätte. Vermutlich eher nicht, denn der Mann war ja schon über siebzig. Da hörte man wohl eher Klassik oder Schlager. Sie öffnete das Kühlfach und holte den Leichnam heraus.

Nackt und bloß lag er nun vor ihr. Seine wächserne Haut war eiskalt, die Leichenflecke bereits sehr ausgeprägt. Trotz der Kühlung ging der Körper in die Verwesung über. Der Geruch setzte nach einer Weile ein. Sie hatte sich daran gewöhnt. Es störte sie nicht. Ansonsten hätte sie diese Arbeit nicht machen können.

Kurz überlegte sie, warum sich jemand wie er umbrachte. Vielleicht Einsamkeit? Krankheit? Oder etwas anderes? Vermutlich würde sie das nie erfahren.

Dr. Archibald Meister betrat den Sektionssaal in voller Montur und gesellte sich zu ihr. Tamara nickte ihm zu und fing an die Einstiche und Schnitte an der Leiche zu begutachten. Es waren viele und es war auf den ersten Blick zu sehen, dass das kein Selbstmord war. Der Mann war über und über mit Stichen übersät, so als hätte er sich selbst zerfleischen wollen. Doch so etwas war einfach nicht möglich. Niemand schaffte es, sich so viele Schnitte und Stiche selbst zuzufügen, nicht einmal im Drogenwahn und Drogen hatte der Mann keine im Blut gehabt. Verwirrt starrte Tamara auf die Leiche. Ihr Kollege schien ihre Verwirrung zu teilen, sagte aber nichts dazu. Was sollte sie nun tun? Warum hatte Dr. Gersting den Fall als Selbstmord eingetragen? Hatte er sich etwa in der Leiche geirrt? Das hier musste richtiggestellt werden. Seufzend begann sie zu diktieren. Die Obduktion dauerte den ganzen Samstag. Der Mann hatte sogar im Rücken Einstiche. Es mussten mehrere Täter gewesen sein, schloss Tamara daraus.

Archibald Meister teilte ihre Meinung. Die Täter mussten sich in einem wahren Blutrausch befunden haben, voller Hass. Tamara legte das Obduktionsbesteck zur Seite, nachdem sie Volker Röhn wieder sorgfältig zugenäht hatte und schob ihn dann zurück in das Kühlfach. Archibald Meister räumte auf, während sie das Sektionsprotokoll ergänzte.

Todesart: nicht natürlich

Todesursache: Verletzungen durch scharfe Gewalteinwirkung, multiple Einstiche mit hohem Blutverlust.

Sie fügte noch die Fotos bei, die Dr. Gersting ebenfalls nicht gemacht hatte. Archibald Meister zeichnete es kommentarlos gegen. Ihr Kollege hielt sich offenbar aus der Sache heraus, aber sie sah ihm an, dass er diese Fehleinschätzung auch nicht verstand. Mit einem kurzen Wink ging er und überließ ihr den Rest. Mit der Schlamperei sollte sich der Leiter der Rechtsmedizin auseinandersetzen. Tamara gab ihm im Stillen Recht. Das war nicht ihr Problem und nicht ihre Verantwortung. Sie hatten ihre Pflicht getan.

Ziemlich geschafft verließ sie die Rechtsmedizin, holte sich noch einen vegetarischen Burger im nächsten Fastfoodladen, den sie hungrig noch im Auto hinunterschlang. Nach Obduktionen hatte sie immer einen riesen Kohldampf, warum auch immer. Sie hatte heute nicht das Motorrad genommen, da der Wetterbericht Regen angekündigt hatte, der natürlich ausgeblieben war. Ohne Hast startete sie den Wagen und verließ den Parkplatz des Burgerladens. Sehnsüchtig warf sie einen Blick in den Himmel. Mit dem Motorrad wäre es eine perfekte Fahrt geworden.

Plastikspur

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