Читать книгу Plastikspur - Lara Elaina Whitman - Страница 6
Sie hätten nichts tun können
ОглавлениеFreitag Abend in der Rechtsmedizin in Stuttgart. Eigentlich hatte Tamara Damarow früher gehen wollen, aber Dr. Gersting war ganz plötzlich ausgefallen und so hatte sie einspringen müssen. Zusammen mit einem ihrer Kollegen hatte sie drei der vier angeordneten Obduktionen wiederholt, auf Wunsch des Leiters der Rechtsmedizin.
Tamara betrachtete versonnen den nüchtern ausgestatteten Raum. Nachdem sie fertig waren, hatte sie das Sektionsbesteck ordentlich gereinigt und wieder an seinem Platz verstaut. Eine Tätigkeit, die sie mochte, bedeutete es doch, dass die Ergebnisse vorlagen, der Täter vielleicht damit auch überführt werden konnte. Doch heute war sich Tamara nicht sicher, was sie da eigentlich gesehen hatte. Freilich war die Todesursache klar und unwiderlegbar. Sie und ihr Kollege waren zu dem gleichen Ergebnis gekommen, welches auch Dr. Gersting in das Protokoll geschrieben hatte, auch wenn Tamara sich an irgendetwas dabei störte. Für ihren Kollegen war der Job damit getan. Er wollte gehen, denn er musste noch etwas erledigen. Deshalb unterzeichnete er nur rasch die Sektionsprotokolle, schob schnell noch eine der drei Leichen wieder in die Kühlkammer und verschwand mit einem kurzen Gruß. Den Rest überließ er ihr. Tamara blieb allein zurück, mit zwei weiteren Obduzierten und dem Aufräumen. Tamara war nicht böse deswegen, im Gegenteil, es war ihr sogar ganz recht, denn sie wollte sich die Gewebeproben noch einmal genauer anschauen, ohne dass ihr dabei jemand über die Schulter lugte. Vielleicht fand sie, was sie so störte.
Unter dem Mikroskop betrachtete sie nun noch einmal die Asservate, die sie aus dem männlichen Obduzierten entnommen hatten. Irgendetwas befand sich darin, dass sie nicht zuordnen konnte. Doch eines war sicher, was immer es auch war, es gehörte da nicht hin, nicht in einen menschlichen Körper. Ob tot oder lebendig war dabei egal. Für dessen Tod war das Zeug freilich nicht verantwortlich. Tamara kniff die Augen zusammen, damit ihr nicht das kleinste Detail an dem Asservat entging. Dann fiel es ihr plötzlich ein. So etwas hatte sie schon einmal gesehen. Das war ganz zu Anfang ihrer Facharztausbilung gewesen.
Eilig lief sie zum PC hinüber und holte sich aus dem Netz die Fotodokumentationen einiger dieser alten Fälle auf den Bildschirm. Zum Glück kannte sie sich in der Datenbank gut aus, schließlich hatte sie das Dateisystem damals organisiert. Solche Aufgaben durften traditionell die Weiterbildungsassistenten in den ersten Jahren ihrer Ausbildung übernehmen. Bei ihr war das keine Ausnahme gewesen. Zudem war das System in den letzten Jahren zentralisiert worden, sodass alle rechtsmedizinischen Institute in Deutschland darauf Zugriff hatten. Sie kannte sich gut in der Datenbank aus. Akribisch verglich Tamara die gespeicherten Fotos mit dem, was sie heute hier unter dem Mikroskop hatte. Diese Ablagerungen in der Gewebeprobe, die sie aus der Leber des Toten entnommen hatten, sah tatsächlich so ähnlich aus wie die alten Proben von damals. Es war nur um einiges mehr. Solche Mengen an Ablagerungen in den Innenorganen hätten über kurz oder lang ganz sicher zum Tod geführt. Vermutlich hatte der Mann bereits zu Lebzeiten Beeinträchtigungen gehabt.
Tamara stutzte überrascht, als sie das ursprüngliche Sektionsprotokoll durchsah. Auch das waren Fälle, die Dr. Gersting bearbeitet hatte. Sie las den Obduktionsbericht noch einmal, doch Dr. Gersting hatte auch damals nichts zu diesen seltsamen Ablagerungen notiert, genauso wenig wie der zweite Rechtsmediziner, ein gewisser Dr. Ernest Franklin. Den kannte sie gar nicht. Den Namen hatte sie noch nie gehört. Das fand Tamara wirklich merkwürdig. Eigentlich waren ihr alle bekannt, die in den letzten Jahren in der Rechtsmedizin in Stuttgart gearbeitet hatten. Rasch überprüfte sie aktuellere Berichte, die Dr. Gersting angefertigt hatte und fand zu ihrem Erstaunen in einigen weiteren Berichten den gleichen Namen wieder. Was hatte das denn zu bedeuten?
Nachdenklich knabberte Tamara an ihrer Unterlippe. Obduktionen wurden grundsätzlich von zwei Rechtsmedizinern durchgeführt. Das war Vorschrift, schließlich wurde ihr Gutachten bei Gerichtsprozessen verwendet. Da durfte kein Irrtum passieren. Tamara lehnte sich zurück und dachte nach. Es gab keinen Dr. Franklin am Institut. Der Mann hätte ja praktisch schon seit Jahren hier beschäftigt sein müssen, nach all den Unterschriften, die er geleistet hatte, und da wäre sie ihm hundertprozentig schon einmal begegnet. Doch das war sie nicht. Dieser Rechtsmediziner existierte nicht, zumindest nicht im Landeskriminalamt in der Taubenheimerstraße, wo die Rechtsmedizin in Stuttgart ihren Sitz hatte. Betrog Dr. Gersting etwa? Hatte er den Obduktionsbericht etwa gefälscht? Wollte er etwas verbergen? Nein, das ging zu weit, da litt sie vermutlich selber an Paranoia. Was sollte der Mann denn verbergen? Es musste eine Erklärung dafür geben. Sie würde der Sache auf den Grund gehen, diesen Dr. Franklin auftreiben. Und was die mikroskopischen Gewebeproben anging, durfte sie sich auch nicht wundern, dass Dr. Gersting das nicht weiterverfolgt hatte, schließlich waren die Ablagerungen nicht die Todesursache gewesen. Deshalb gab es auch keine Veranlassung einen Pathologen hinzuzuziehen. Vermutlich hatte Dr. Gersting die Gewebeveränderungen nicht einmal erkannt. Er konnte die Pathologen nicht leiden, das hatte er oft genug gesagt. Vermutlich lag das daran, dass Dr. Gersting, im Gegensatz zu ihr, von Pathologie kaum eine Ahnung hatte und sich damit auch nicht auseinandersetzen wollte. Das war ihr schon öfters aufgefallen. Der Mann war in ihren Augen ein Ignorant, berief sich darauf, dass Rechtsmediziner schließlich keine Pathologen waren und das halbe Jahr, das sie in der Pathologie absolvieren mussten, kaum ausreichte, um mehr als an der Oberfläche zu kratzen. Aber etwas mehr Ahnung von dem Thema war sicher nicht verkehrt, befand Tamara. Sie war eben die berühmte Ausnahme, denn sie hatte die Chance genutzt und sich in dem obligatorischen halben Jahr intensiv mit der Problematik auseinandergesetzt und dadurch viel gelernt. Manchmal sahen Organe krank aus und der Besitzer schien an einer natürlichen Ursache verstorben zu sein. Aber das konnte täuschen. Sie kannte Fälle, in denen eine absichtliche Vergiftung zu einem rasanten Zerfall geführt hatte, die dann den Tod verursacht hatte. Die Organe hatten ausgesehen, als hätte der Tote an einer langjährigen Erkrankung gelitten. Ein scheinbar perfekter Mord, weil schwer als solcher zu erkennen. So konnte aus einem Mord schnell ein Totschlag werden, mit einem völlig anderen und vor allem geringeren Strafmaß. Wenn sie das nicht herausfand, dann kam der Täter einfach so davon. Deshalb untersuchte sie grundsätzlich alle Organe auch selber mikroskopisch, wenn sie die Asservate nicht an die Pathologen weiterschicken konnte.
Mit flinken Fingern speicherte Tamara die Berichte. Danach ging sie zurück zum Mikroskop, nahm die Asservate und brachte sie in die Kühlung. Vielleicht sollte sie sich diese Einschlüsse im Gewebe ein anderes Mal noch einmal ansehen. Heute war sie einfach zu müde dafür. Außerdem musste sie noch ein wenig darüber nachdenken, was das bedeuten konnte. Der Mann war jedenfalls durch einen Schlag auf den Kopf gestorben, seine Schädelbasis war mehrfach gebrochen und Gehirnmasse ausgetreten. Somit hatte Dr. Gersting recht, zwar schlampig obduziert, aber die Schlussfolgerung war in Ordnung. Der Fall war also abgeschlossen.
Sorgfältig begann Tamara die restlichen Instrumente und gebrauchten Materialien wegzuräumen. Sie mochte es, einen sauberen Arbeitsplatz zu hinterlassen und überließ das nicht dem Putzteam. Die hatten auch so schon genug zu tun. Energisch schloss sie nach einer halben Stunde die letzte Schublade. Ihr Blick glitt noch einmal prüfend über die Sektionstische.
Die Leichen von den zwei Frauen lagen noch dort, die Eröffnungsschnitte wieder säuberlich vernäht, die Augen geschlossen. Tamara betrachtete sie mit ungutem Gefühl. Eine von ihnen war schon ziemlich alt, beinahe neunzig Jahre, die andere noch jung, fast noch ein Kind, Anfang zwanzig. Auf den ersten Blick hatten die beiden Frauen nichts gemeinsam, außer dass sie schlank waren, sogar die Neunzigjährige. Die junge Frau war sportlich gewesen, gut trainiert, ihre Muskulatur war sogar im Tod noch gut definiert. Zu Lebzeiten musste sie ziemlich fit gewesen sein. Tamara nahm ihr Tablet zur Hand und betrachtete noch einmal die Ergebnisse der Blutwerte beider Frauen. Ziemlich normal, sogar bei der alten Frau. Die Staatsanwaltschaft hatte die Frauen einliefern lassen, direkt aus der Stroke Unit. Beide Frauen waren an einer Ischämie gestorben, somit eigentlich an einer natürlichen Ursache, doch die Angehörigen bestanden darauf, dass die Rettungssanitäter Behandlungsfehler gemacht hatten. Soweit so gut. Das kam manchmal vor, dass hysterische Angehörige in ihrer Trauer über das Ziel hinausschossen, aber solche Anschuldigen wogen schwer und mussten ausgeräumt werden. Insofern hatten sie und ihr Kollege sich Mühe gegeben, die Sektionsergebnisse von Dr. Gersting noch einmal nachzuvollziehen.
Bei einem alten Menschen waren Gefäßverschlüsse im Gehirn keine seltene Todesart, aber bei der jungen Frau schon, zumal nichts auf eine Veranlagung hindeutete. Doch da lag der Hase im Pfeffer, denn hier hatte Dr. Gersting etwas protokolliert, was gar nicht da war. Im Protokoll stand der Vermerk zu einer Genveränderung. Die beiden Frauen hatten aber gar keine Genveränderung, die den Gerinnungsfaktor des Blutes beeinflussen konnte. Konnte, wohlgemerkt, nicht zwingend musste. Das Labor, das Tamara im Vorfeld ihrer heutigen Obduktion gebeten hatte, noch einmal das Material genetisch zu untersuchen, hatte die von Dr. Gersting angegebene Abweichung nicht gefunden. Keine Spur davon. Auch der Toxscreen gab nichts her. Die Blutwerte waren gut und altersgerecht gewesen. Die Hausärzte hatten ihre Ergebnisse zur Verfügung gestellt. Auch da war nichts dabei. Cholesterin, Blutdruck, Leberwerte, Nieren, zu Lebzeiten alles normal. Diese Frauen hatten nichts gehabt, was ihr Schicksal erklären könnte, trotzdem war es geschehen. Das war dann wohl Pech. Dass was sie störte, war die zweite Unterschrift auf den Sektionsprotokollen von Dr. Gersting. Auch diese Protokolle waren von diesem ominösen Dr. Franklin unterzeichnet worden.
Ihr Kollege hatte nur stumm mit den Schultern gezuckt, aber es hatte ihn nicht weiter interessiert. Er war auch noch nicht sehr lange hier am Institut, hatte vorher in den USA gearbeitet. Die deutschen Rechtsvorschriften schienen ihm reichlich übertrieben zu sein.
Tamara machte sich ihre eigenen Gedanken dazu. Tatsache war jedoch, dass Dr. Gersting Fehler gemacht hatte. Ob absichtlich oder nicht, sollte er selbst erklären, sobald er wieder da war. Die Todesursache stand jedenfalls fest. Beide Frauen waren, aus welchen Gründen auch immer, an den Folgen einer schweren Ischämie gestorben. Die Angehörigen konnten beruhigt sein, sie hätten sie nicht retten können und die Rettungssanitäter hatten ihr Möglichstes getan. Die waren nicht schuld daran. Verschlüsse der Gefäße im Stammhirn führten häufig zum Tod, einem sehr schnellen Tod.
»Das Leben ist nicht gerecht«, dachte Tamara traurig.
Zumindest für die junge Frau hier, fast noch ein Kind, war es schlimm. Kein Mensch hatte es verdient so früh zu sterben. Sie streichelte sanft über das mittlerweile stumpf gewordene Haar der jungen Frau.
»Kommt, ihr Beiden. Ich will nach Hause«, sagte sie leise und schob die beiden Körper in die Kühlkammern, loggte sich endgültig aus dem System aus, nachdem sie ihren Bericht freigegeben hatte und machte dann das Licht aus.
In der Umkleide schlüpfte sie aus ihrer verschmutzten Montur, zog die Gummistiefel aus, ein Paar überaus schöne, mit lila Blümchen verzierte, handgemachte, französische Aigle. Nachdem sie sie sorgfältig desinfiziert hatte, stellte sie die Stiefel in den Schrank. Ihr Hang zu außergewöhnlichen Gummistiefeln hatte ihr schon manchen Spot eingetragen. Sie wusste genau, was die Kollegen hinter ihrem Rücken tuschelten und welchen Spitznamen sie ihr gegeben hatten. Sie war das Leichenmädchen mit den Blümchenstiefeln. Konnte sie etwas dafür, dass die üblichen Stiefel, die die Rechtsmedizin zur Verfügung stellte, so hässlich waren? Sie mochte diese unbequemen Dinger nicht. Schließlich konnte so eine Sektion schon ein paar Stunden dauern, da wollte sie doch lieber etwas an den Füßen haben, das gut passte und ihr Freude machte. Tamara duschte rasch, ordnete nach einem prüfenden Blick in den Spiegel ihr kurzes, kastanienbraunes Haar und stieg in ihre schwarze, enge Motorradkluft. Mit unter den Arm geklemmtem Helm verließ sie die Rechtsmedizin durch den Personalausgang. Motorradfahren war ihre zweite Leidenschaft, nach dem Obduzieren.
Draußen schlug Tamara warme Luft entgegen, kein Wunder nach dem heißen Tag. Die Luft war trocken und ein wenig staubig. Es hatte lange nicht geregnet. Im Stuttgarter Kessel blieb alles hängen, so als läge eine undurchlässige Haube über der ganzen Stadt. Trotzdem fand Tamara, dass alles besser war, was nicht nach Desinfektionsmitteln roch. Rasch verstaute sie ihren Rucksack im Top Case ihrer BMW, zog den Helm über und stieg auf. Der satte Klang des Motors hatte etwas befreiendes. Entspannt folgte sie der Bundesstraße durch die Stadt, dann die Weinsteige stadtauswärts, fuhr durch Leinfelden-Echterdingen hindurch, hinunter ins Siebenmühlental, das sie über Steinenbronn nach Waldenbuch bringen würde. Sie mochte die Strecke. Warum sie immer noch in Waldenbuch wohnte, hatte verschiedene Gründe. Vielleicht war auch ein Stück Sentimentalität dabei, schließlich hatte sie viel Zeit mit ihrem Mann und ihrem Sohn in dem kleinen Ort verbracht, bevor er sich aus dem Staub gemacht hatte, zusammen mit ihrem Kind. Vielleicht war es aber auch nur die Lage der Wohnung mit Blick auf den Burgberg. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden in die Stuttgarter Innenstadt zu ziehen, auch wenn es doch ziemlich weit bis zu ihrem Arbeitsplatz war. Zudem war Waldenbuch wirklich hübsch und nicht so groß, so wie sie es mochte. Das Städtchen lag direkt am Rande des Schönbuchs, was gut für Wanderungen oder Motorradfahren war. Hinzukam, dass der Gedanke, in die stickige Innenstadt zu ziehen, für sie einfach nur abstoßend war.
Jetzt genoss sie die Fahrt durch die dunkle Nacht, folgte langsam den Kurven und freute sich über den Geruch des Waldes, der rechts und links die Straße säumte, bevor sie nach Steinenbronn hochkam. Es half ihr die Bilder aus dem Kopf zu verbannen. Gleich würde sie zuhause sein. Tamara lächelte entspannt. Die Fahrt hatte all die abwegigen Gedanken vertrieben, die sie während der Obduktion geplagt hatten.