Читать книгу Plastikspur - Lara Elaina Whitman - Страница 5
Ein gelöschter Blog
ОглавлениеDie Redaktion des „Filderstädter“, so hieß die Zeitung, bei der Miriam arbeitete, befand sich in einem schon etwas älteren Gebäude im Zentrum des Stadtteils Bernhausen. Filderstadt bestand aus mehreren, auf der Filderebene liegenden Gemeinden, gleich hinter dem Stuttgarter Flughafen. Leider hatte die Stadt kein richtiges Zentrum, so wie Tübingen oder Reutlingen, was schade war. Manche Stadteile, Bernhausen zum Beispiel, waren aber ganz nett. Dafür war es, trotz der Nähe zu Stuttgart, sehr ländlich. Die Ausläufer des Schönbuchs boten eine Menge Freizeitmöglichkeiten, sofern man Wandern oder Radfahren mochte, oder gerne Tiere beobachtete. Auch zum Flughafen war es nicht weit und auch sonst war die Gemeinde ziemlich gut an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden, was den Mangel an alter Bausubstanz wieder ausglich, zumindest in den Augen von Miriam Schlohwächter.
Das Haus, in dem sich die Redaktion befand, gehörte Michael von Lebenhardt, der auch der Eigentümer des regionalen Blattes war. Wenn die Zeitung noch Miete zahlen müsste, wäre das bestimmt nicht zu schaffen, denn die Auflagenstärke belief sich gerade einmal auf fünfzehntausend Stück im Monat.
Miriam parkte ihren uralten, rostigen und vor Altersschwäche ächzenden Opel Kadett direkt vor dem Haus. In den Büros brannte bereits Licht, welches träge durch die schon ein wenig angestaubten Jalousien nach draußen sickerte. Die Eingangstür knarzte wie immer leise, als sie sie aufdrückte. Dahinter befand sich ein schmaler Flur, der in die Büros führte, eines rechts und eines links von ihm. Die Büros waren klein, vollgestopft mit Schreibtischen und technischem Equipment. Miriam stellte ihre Tasche neben einen der Tische auf den Boden. Es gab keine fest zugeordneten Arbeitsplätze für die Mitarbeiter. Jeder nahm den, der gerade frei war. Miriam gähnte verhalten. Das war wirklich nicht ihre Zeit. Ihre fünf Kollegen waren natürlich schon alle da. Sie waren alle mehr oder weniger Freiberufler, wie sie selber auch. Miriam loggte sich ein und begann zu recherchieren. Natürlich hatte sie schon von Volker Röhn, dem Toten, gehört, so wie die meisten Leute hier in der Gegend. Er war zu Lebzeiten der Prototyp des verschrobenen Wissenschaftlers gewesen und zudem ein Anhänger zahlreicher Verschwörungstheorien und natürlich hatte er auch alle Vorurteile erfüllt, die man solchen Menschen gegenüber so pflegte. Volker Röhn war am Ende des zweiten Weltkrieges in dem zerbombten Frankfurt geboren worden, war also bereits Mitte siebzig. Er hatte Geologie und Physik studiert und war in den siebziger Jahren nach Baden-Württemberg gekommen, um an der Universität in Stuttgart zu unterrichten. Nach seiner Pensionierung zog er mit seiner Frau nach Leinfelden-Echterdingen, in die Nachbargemeinde von Filderstadt. Neben Vulkanismus und Plattentektonik schien er sich vor allem für die Umweltverschmutzung zu interessieren. Letzteres war aber erst vor etwa zwei Jahren hinzugekommen. Nach dem Tod seiner Frau war er nicht mehr viel unterwegs gewesen, stellte Miriam überrascht fest. Es musste ihn wohl ziemlich getroffen haben, denn davor war er recht aktiv gewesen. Miriam scrollte durch die Einträge zu diversen Kongressen und Demonstrationen, bei denen er als Gastredner aufgetreten war. Doch nach dem Tod seiner Frau gab es kaum noch Einträge von dem Mann auf den einschlägigen Seiten, keine Interviews und keine Vorträge mehr. Auch Kinder hatten die beiden keine, zumindest konnte Miriam nichts finden. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. Bis vor ein paar Monaten war Volker Röhn dann wohl nur noch zuhause geblieben und hatte ein zurückgezogenes Leben geführt. Unspektakulär. Aber warum hatte sich das dann plötzlich wieder geändert? Miriam stutzte und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Grübelnd betrachtete sie die Termine. Es begann etwa um Weihnachten letzten Jahres herum. Erstaunlicherweise hatte der Mann eine Facebookseite. Das hätte sie bei einem Menschen dieses Alters gar nicht erwartet. In seinem Terminkalender, den er öffentlich pflegte, was Miriam ziemlich befremdlich fand, befanden sich eine Menge Einträge zu irgendwelchen Demos, Vorträgen und sogar Einladungen zu Flashmobs und das ohne Ausnahme zum Thema Umwelt. Im Wesentlichen alles in den letzten sechs Monaten. Woher kam diese plötzliche Besessenheit? Eigentlich hatte sie von Volker Röhn den Eindruck, dass er ein etwas weltfremder, älterer Herr war, aber ein Aktivist? Das war er bis dato nie gewesen. Dieses offensive Verhalten passte nicht so recht ins Bild, zumindest für Miriam nicht und schon gar nicht über diese Themen. Früher hatte der Mann sich doch überwiegend mit geologischen Fragen beschäftigt. Miriam begann das Internet nach Artikeln jüngeren Datums von Volker Röhn zu durchforsten und stieß schließlich auf seinen Blog. Doch als sie die Internetseite aufrufen wollte, bekam sie nur den Hinweis, dass er soeben gelöscht worden war. Wieso gelöscht? Was war das denn? Stirnrunzelnd lehnte Miriam sich im Stuhl zurück. Hatte das etwas mit dem Mord zu tun? Vielleicht war es nur Zufall, sie sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
Grübelnd dachte sie eine Weile nach. Für einen richtigen Artikel waren ihre Informationen entschieden zu spärlich. Sie brauchte unbedingt mehr Futter, aber für einen kurzen Absatz über den Tod des Mannes in der morgigen Ausgabe des „Filderstädter“ würden die Informationen reichen. Mit fliegenden Fingern schrieb sie einen mehrzeiligen Abriss über das Leben von Volker Röhn und über sein schreckliches gewaltsames Ableben, natürlich ohne jegliche Spekulationen. Miriam schilderte lediglich, was am Tatort passiert war und überließ den Rest der Fantasie der Leser und Leserinnen. Immerhin hatte sie versprochen den Artikel vorher der Polizei zu zeigen und sie wusste ja, wie empfindlich die waren, wenn im Vorfeld der Ermittlungen zu viel verraten wurde. Natürlich hätte sie das nicht gemusst, schließlich gab es ja noch so etwas wie Pressefreiheit, aber sie wollte beim nächsten Vorfall ja wieder fotografieren, also arrangierte sie sich damit und beschränkte sich auf das Offensichtliche. Nicht sehr aufregend, aber vorerst musste das genügen. Natürlich rebellierte ihr Innerstes dagegen, aber sie war eben nicht der Typ, der sich gegen staatliche Institutionen stellte. »Feigling«, schimpfte sie sich trotzdem im Stillen und verschob den Rest auf später, sobald die Polizei bestätigt hatte, dass es sich tatsächlich um einen Mord handelte.
Doch irgendwie hatte sie der Fall gepackt. Miriam hatte das dumpfe Gefühl, dass da mehr dahintersteckte. Vielleicht konnte sie mit ein paar Leuten sprechen, die zuletzt Kontakt zu Volker Röhn gehabt hatten. In seinem Terminkalender auf Facebook standen ein paar Einträge. Sie notierte sich rasch die Namen, doch als sie weiterblättern wollte, wurde sie auf eine andere Seite umgeleitet und die Nachricht erschien, „diese Seite wurde soeben gelöscht.“
Verblüfft betrachtete Miriam die schmale Zeile. Schon wieder? Wer löschte hier die Informationen? Volker Röhn war das jedenfalls nicht. Der war ja tot. Wer hatte noch Zugang zu seiner Facebookseite? Miriam schimpfte sich einen Narren, weil sie nicht gleich nachgesehen hatte, ob noch jemand Administrationsrechte hatte, aber jetzt war es zu spät. Doch sie wäre nicht Miriam Schlohwächter, wenn sie so leicht aufgeben würde, denn das Internet vergaß nichts wirklich, man musste nur länger suchen. Das würde wohl aufwändiger werden, als sie gedacht hatte.
Miriam stürzte sich ins Gewühl des Netzes, ging jedem kleinsten Hinweis nach, verfolgte jede Spur, doch irgendjemand war ihr immer einen Schritt voraus. Frustriert lehnte sie sich zurück. Wenn das so weiterging, dann bekam sie gar nichts zusammen. Wer immer das tat, musste einen Grund haben, die Spuren auszulöschen. Ein wenig unheimlich, oder nicht? Jeder Mist blieb stehen, aber das hier verschwand.
Vielleicht sollte sie mit einem Freund von ihr sprechen. Er kannte sich mit so etwas gut aus, war sogar manchmal im Darknet unterwegs und hatte definitiv keinerlei Respekt vor den Ordnungshütern. Hastig griff sie zum Telefonhörer und rief Roger Montez auf seinem Handy an. Er ging natürlich nicht dran. Miriam hinterließ ihm eine Nachricht in Form eines Pfeiftons, denn natürlich sprach sie ihm nicht auf die Box. Das Zeichen hatten sie schon vor langer Zeit vereinbar, denn Roger Montez litt, neben seinem Hang die staatliche Ordnungsmacht zu ignorieren, an einem ausgeprägten Verfolgungswahn.
Ein paar Minuten später erhielt sie eine SMS mit nur zwei Wörtern. Roger war wirklich paranoid. Er wollte sie am Bahnhof von Bernhausen auf einer der Wartebänke der Bushaltestellen treffen.
Hastig packte sie ihre Tasche, nachdem sie den Artikel über Volker Röhns Tod dem Redakteur hingelegt hatte und stürzte aus dem Büro. Es war ja nicht weit.
Der Bahnhof in Filderstadt-Bernhausen war eigentlich recht hübsch. Sauber gepflastert und übersichtlich angelegt, reihten sich die Bushaltestellen um ihn herum auf. Ein großes Verwaltungsgebäude, in dem sich diverse Firmen eingemietet hatten, nebst einem Parkhaus und einem Kiosk, der Zeitungen und Tabakwaren verkaufte, begrenzte den Platz auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stand ein kleines Gebäude, in dem das Bürgeramt untergebracht war und ein weiteres kleines Haus, das ein Café beherbergte.
Um diese Zeit war nicht viel los. Roger Montez saß schon da, seine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Offenbar hatte er heute nicht viel zu tun, denn so schnell war er sonst nicht, auch wenn er im Zentrum von Bernhausen wohnte. Miriam kannte das Haus, ein unscheinbarer blockartiger Bau in einer Seitenstraße unweit des Friedhofs. Sie war auch schon ein paar Mal bei Roger zum Kaffee gewesen. Das war wirklich ein großer Vertrauensbeweis, denn Roger lud normalerweise nie jemanden zu sich ein und schon gar keinen von der Presse.
»Hi, Roger. Schön dass du Zeit hast«, rief sie schon von weitem.
Er runzelte die Stirn.
»Hallo Miri! Ja, du hast Glück. Ich war gerade zu Hause.«
Miriam setzte sich neben ihn auf die Bank. Es war heiß. Die Sonne brannte unbarmherzig herab und heizte die Steinplatten am Boden auf.
»Mensch, können wir nicht in eine der Eisdielen gehen? Ich bräuchte einen Kaffee«, murrte sie und blinzelte gegen die Sonne an.
Bernhausen besaß zusätzlich zum Peter-Bümlein-Platz am Bahnhof noch eine kleine Fußgängerzone mit diversen Cafés, Restaurants und Eisdielen. Miriam mochte am liebsten die gleich neben der Bibliothek, aber die hatte leider keine Tische auf der man sein Eis abstellen konnte, deshalb liebäugelte sie mit der anderen in der Fußgängerzone, doch Roger Montez zog ein Gesicht wie Sauerbier. Sie verschob das Eis auf später.
»Kommt drauf an, was du von mir willst. Ich denke aber, es hängt mit dem Todesfall zusammen«, antwortete Roger Montez ruhig und sah sich vorsichtig um.
Überrascht blickte Miriam ihn an. Woher wusste er davon? Hatte sich das etwa schon herumgesprochen? Das konnte doch nicht sein. Der Artikel war ja noch nicht einmal erschienen.
»Wovon sprichst du?«
»Verschwörungstheoretiker kennen sich!«, bemerkte Roger Montez kurz angebunden.
Tatsächlich, es ging um Volker Röhn, aber was sollte das denn nun wieder heißen? Ein fragender Blick in Rogers Gesicht ließ Miriam verstummen. So verängstigt hatte sie ihn noch nie gesehen.
»Was ist da los, Roger?«
»Miri, halt dich da heraus. Das ist gefährlich. Volker Röhn war da einer ganz großen Sache auf der Spur«
Miriam zog die Augenbrauen hoch, denn Roger klang irgendwie gehetzt. »Warst du schon bei der Polizei?«
Roger Montez lachte nur leise.
»Miri! Die stellen die falschen Fragen und du kennst mein Verhältnis zu den Bullen.«
»Ja, ja. Nicht alle sind so. Es gibt auch ganz nette«, bemerkte Miriam ein wenig gereizt. Roger hatte vor ein paar Jahren einen bösen Zusammenstoß mit einem übereifrigen Kommissar gehabt. Seitdem war sein Verhältnis zur Polizei nicht das beste.
»Worum geht es hier eigentlich? Ich habe versucht Informationen über Volker Röhn herauszufinden, aber es geht nicht. Irgendjemand löscht die Spuren aus dem Internet.«
»Was sagst du da?«
»Ja, jedes Mal, wenn ich etwas gefunden habe, verschwindet es plötzlich. Das ist doch komisch, findest du nicht?«, Miriam betrachtete Roger aufmerksam. Er war anders als sonst, noch ein wenig paranoider.
»Dann ist das noch schlimmer, als wir dachten.«
»Wir? Wer ist wir? Woran hat Volker Röhn gearbeitet? Ich habe ein paar Umweltthemen gefunden. Die üblichen Dinge wie Abholzung, Chemiegifte und irgendetwas von Wasserverschmutzung. Leider konnte ich es nicht lesen, weil sein Blog just in dem Moment gelöscht wurde.«
»Ja, das dreckige Dutzend, Blei, Cadmium, Cäsium, dann noch Plastik und so weiter. Er hat ein paar Theorien aufgestellt, zur Schädlichkeit für den Menschen«, antwortete Roger ein wenig ausweichend.
»Aha!«, entfuhr es Miriam verständnislos. Was war daran so Besonderes? Sie hatte sich mit dem Thema noch nicht so wirklich beschäftigt.
»Du solltest dich wirklich einmal mit den wichtigen Dingen befassen, Miri.«
Roger schüttelte verständnislos den Kopf.
Miriam wusste, dass Roger ihr mäßiges Interesse an Umweltthemen nicht gut fand, deshalb erwiderte sie trotzig, »ich habe davon gehört. Letztens war ein Bericht über den vielen Dreck im Meer im Fernsehen.«
In Wahrheit hatte sie das nur halbherzig verfolgt und konnte sich kaum an die Inhalte erinnern. Außerdem fuhr sie selten ans Meer. Sie mochte die Berge lieber.
»Mensch, Miri! Du solltest wirklich mal was anderes lesen als Liebesromane. Das ist sogar schon im Trinkwasser.«
»Ich lese doch gar keine Liebesromane«, stieß Miriam ein wenig beleidigt hervor, auch wenn am Liebesromanlesen doch gar nichts schlechtes dran war. »Jedenfalls nicht andauernd. Wie kommt das Zeug in unser Trinkwasser?«
»Die Kläranlagen können die Schadstoffe nicht ausfiltern. Außerdem schmeißen die Leute überall ihren Abfall hin. Das landet schließlich in den Bächen und Flüssen.«
»Ja, das ist schlimm, aber deswegen bringt man doch keinen um.«
Roger Montez schwieg eine Weile, bevor er sagte, »deswegen vermutlich nicht«.
»Aber weswegen dann?«
Roger Montez ignorierte ihre Frage. »Was wolltest du nun von mir, Miri?«
»Eigentlich wollte ich, dass du Nachforschungen anstellst. Ich will wissen, wer die Daten aus dem Internet löscht«, murmelte Miriam leise. Sie wusste schon, welche Antwort sie bekommen würde.
»Nein, Miri, lass die Finger davon. Das ist zu heiß. Ich muss gehen. Wir sehen uns.« Roger stand auf und ging einfach davon.
Miriam Schlohwächter blieb noch eine Weile nachdenklich sitzen. Das war ja gar nicht so gelaufen, wie sie das geplant hatte. Aber ihre Neugier war nun endgültig geweckt. Bevor sie in die Redaktion zurückgehen konnte, klingelte ihr Telefon. Überrascht blickte sie auf die Nummer. Es war der Mann ihrer Schwester. Zu dieser Tageszeit rief der eigentlich nie an.