Читать книгу Zeit zum Überleben - Zukunft - Lara Greystone - Страница 4

Kapitel 1

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»Ich bringe diesen Hahn um! Ich geh raus und dreh ihm die Gurgel um!«

Ich zerre das Federkissen unter mir hervor und presse es zornig auf mein Gesicht.

»Kann halt nicht alles perfekt sein, Jessy«, murmelt Marc schlaftrunken neben mir. »Sonst wären wir in Utopia und nicht in einer vom Krieg auf den Kopf gestellten Welt.«

Da hat er leider recht.

Vor ein paar Monaten hatte ich noch einen Job. Ein Leben ohne mein Handy wäre für mich undenkbar gewesen und ich hätte mir nie vorstellen können, für warmes Badewasser einen Ofen mit Holz zu heizen! Aber dieser Krieg um Ressourcen hat fast alle Menschen durch diesen Virus ausgerottet und die EMP-Angriffe haben jegliche Elektronik in Schrott verwandelt. Der Todesstoß für unsere gesamte Kommunikation und Infrastruktur.

Früher habe ich mich immer über Strafzettel und Tempolimits aufgeregt. Heute würde ich mit Freuden jedes Bußgeld zahlen, wenn es dafür noch eine Polizei gäbe, die mich vor den Hellhounds schützt. Wir könnten nämlich jederzeit von einer dieser Plündererbanden überfallen werden und ich würde mir eher die Kehle durchschneiden, als von so einer Horde vergewaltigt zu werden.

Eines ihrer Opfer liegt unten im Wohnzimmer. Sie haben die blutjunge Frau so schlimm zugerichtet, dass sie die Nacht wohl nicht überlebt haben wird. Dann sind wir nur noch zu zweit in diesem Dorf.

Als Marc sie gestern fand, war sie schon nicht mehr bei Bewusstsein und ohne Ärzte stehen die Chancen in so einem Fall fast gleich null. Sie ist eine Fremde für uns, wir kennen noch nicht mal ihren Namen. Aber Marc hätte es trotzdem nie übers Herz gebracht, sie mutterseelenallein dem Sterben zu überlassen. Also transportierte er die halb tot Geprügelte hierher zu uns nach Espoir, was übersetzt Hoffnung heißt.

Das ist auch einer der Gründe, warum ich Marc liebe: Er hat Charakter, Mitgefühl und einen Beschützerinstinkt, der mir bereits mehr als einmal das Leben gerettet hat. Als ich ihn das erste Mal traf, dachte ich, er gehört zu den Hellhounds und würde über mich herfallen. Doch das tat er nicht. Er hat mein Nein akzeptiert und mich trotzdem kurz darauf vor einer dieser Banden beschützt. Dabei hat er sich einen Bauchschuss eingefangen und wäre beinahe gestorben.

Der dämliche Hahn, der demnächst zum Brathähnchen befördert wird, krächzt schon wieder!

Ich kapituliere seufzend und schiebe das Kissen von meinem Kopf.

»Ich sollte nach ihr sehen.«

Gestern Abend habe ich die Misshandelte, die womöglich noch ein Teenager ist, gebadet. Habe mit Lavendelseife abgewaschen, was die Hellhounds auf ihr hinterlassen hatten. Ihre langen, blonden Haare wurden von mir mit Rosenshampoo vom Dreck befreit. Ich habe ihr Gesicht eingecremt, zwei Zöpfe geflochten und ihr ein weiches Flanellnachthemd mit unzähligen, kleinen Blümchen angezogen, das so himmelblau ist wie ihre Augen. Ich schätze, sie hat von alldem nichts mitbekommen und vielleicht lebt sie gar nicht mehr. Trotzdem konnte ich nicht anders. Ich wollte ihr dadurch ein Stück Würde zurückgeben.

Dass eine so zarte, junge Frau das Ausmaß an Brutalität überlebt, das sich auf ihrem Körper abgezeichnet hat, glaube ich kaum.

Gerade will ich mich aufraffen und aus dem Bett quälen, da zieht uns Marc die gemeinsame Bettdecke über den Kopf.

»Warte noch.«

»Worauf?«, frage ich skeptisch, denn immerhin liegen wir nur mit T‑Shirt im Bett und Marc ist stärker als ich.

Meine erste Erfahrung mit Sex als Teenager war unfreiwillig und hat ein Trauma hinterlassen. Und vor Kurzem bin ich bei zwei nächtlichen Übergriffen von Hellhounds nur knapp entkommen. Alles in allem habe ich dadurch einen ganz schönen Knacks in Sachen Sex.

»Schsch«, murmelt Marc unter der Decke und streicht mir sanft eine meiner langen, feuerroten Locken aus dem Gesicht.

»Bevor wir uns durch diesen neuen Tag kämpfen, wollte ich dich noch mal ansehen und …«

»Und?«, frage ich und spüre schon Panik in mir aufsteigen.

»Dir sagen, dass ich froh bin, dich gefunden zu haben.«

Dabei küsst er mich mit seinen unglaublich weichen Lippen auf die Stirn.

»Du magst eben Rothaarige«, erwidere ich und versuche lapidar zu klingen. Das war eines der ersten Dinge, die er mir bei unserer ersten Begegnung machohaft mitteilte, vermutlich um cool zu wirken.

Für seinen zarten Kuss hat sich Marc allerdings halb auf mich gelegt und das macht mir eine höllische Angst. Dabei hat er das wirklich nicht verdient! Er war bisher immer nett und sanft zu mir, hat mich schon zweimal davor bewahrt, den Hellhounds in die Hände zu fallen. Außerdem sieht er zum Anbeißen aus: Marc hat breite Schultern und kein Gramm Fett. Er ist über 1,80 Meter groß und auf der gesamten Länge äußerst gut gebaut und durchtrainiert, ohne dabei ein Meister Proper zu sein.

Ich mag seine üppigen, kastanienbraunen Haare, die ihm bis auf die Schulterblätter reichen. Sie fühlen sich seidig an, wenn ich mit meinen Finger hindurchfahre. Bindet er sie nicht im Nacken zusammen, dann kommen wie jetzt seine Locken zum Vorschein. Im Blick von Marcs warmen, bernsteinfarbenen Augen möchte ich oft nur versinken und alle Probleme um mich herum vergessen. Seine viel zu verführerischen, vollen Lippen zu küssen, ist zum Dahinschmelzen, und sie stellen auch anderswo wunderbare Dinge an. Gestern Abend hat er mit kaltem Wasser seine Haare gewaschen und nun duften sie herrlich nach Minze. Er hatte sich auch rasiert, nur sein süßer, kleiner Spitzbart am Kinn ist übrig geblieben und der kann an intimen Orten neckisch kitzeln. Dass Marc trotz der widrigen Umstände immer noch Wert auf ein sauberes Äußeres legt und recht gepflegte Hände hat, zeigt ebenfalls seinen Charakter. Obwohl unsere Zivilisation am Boden liegt, lässt sich nicht jeder gehen und zwingt dem Schwächeren seinen Willen auf.

»Du bist steif wie ein Brett«, bemerkt Marc und ich höre die Enttäuschung heraus.

Ich bin es so leid, Angst zu haben, vor allem vor ihm! Diese ständige Angst ist wie eine würgende Hand, die sich immer enger um meine Kehle legt.

Die Situation wird mir zu viel.

Mir brennt eine Sicherung durch.

Ich werfe Marc fast von mir herunter und stolpere aus dem Bett.

»Tut mir leid, Marc«, stammle ich noch und greife dann hastig nach meinen Klamotten.

Mit fahrigen Bewegungen ziehe ich mich hektisch an.

»Das hat nichts mit dir zu tun, Marc. Es passiert einfach.«

Ich stecke meinen zweiten Fuß gerade in den Wanderstiefel – die sind eindeutig besser für den Überlebenskampf geeignet als High Heels von Gucci –, da streckt Marc auf dem Bett liegend seine Hand aus und hält mich am Arm fest. Ich presse die Kiefer aufeinander, um mich nicht panikartig loszureißen.

»Gib mir einfach Zeit, Marc. Okay?«

»Du musst endlich mit mir darüber reden, Jessy.«

Ja klar! Reicht es nicht, dass ich einen ziemlichen Knacks habe? Muss ich das auch noch in aller Ausführlichkeit erklären und die verhassten Erinnerungen aus ihrem Kerker lassen? Wobei es mir ja eh nicht immer gelingt, sie dort gefangen zu halten!

Ich antworte also lieber gar nicht und sage stattdessen: »Ich heize den Herd unten in der Küche an. Kochst du dann den Kaffee? Deiner schmeckt nämlich besser.«

Vorbei die Zeit, in der man nur Kaffeepulver einfüllte und auf ein Knöpfchen gedrückt hat. Wenn man heutzutage einen Kaffee trinken will, bedeutet das einen ziemlich Aufwand: Man muss den Holzherd in der Küche anfeuern, einen Kessel mit Wasser aufsetzen und erst mal warten, bis es endlich kocht. Dann wird Schluck für Schluck das kochende Wasser auf den Kaffee im Filter gegossen, unter dem eine Kanne steht. Wenn man auch noch Milch dazu haben möchte, muss man vorher die Kuh in unserem Stall melken und darin bin ich leider eine Niete. Also wird mein Kaffee schwarz sein.

Ich eile aus dem Schlafzimmer, drücke mich aber davor, sofort hinunter ins Wohnzimmer zu gehen, wo wir die misshandelte Frau auf das Sofa gelegt haben. Ich schließe Menschen nämlich schnell ins Herz und genau das wird mir brechen, wenn ich gleich die Leiche der blutjungen Frau in ein Betttuch wickeln muss. Und ich werde noch nicht mal ihren Namen in ein Kreuz ritzen können, denn sie war nicht mehr in der Lage, ihn uns zu mitzuteilen.

Also trödle ich, während ich oben im Bad meine widerspenstigen, feuerroten Locken zu einem langen Zopf flechte. Das ist in diesen Zeiten leider praktischer, als sie offen zu tragen. Erst als ich auch meine Zähne recht ausgiebig geputzt habe, zwinge ich mich, die Treppe hinunterzugehen.

Dabei fällt mein Blick auf die Wanderstiefel und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Früher wäre ich nie mit solchen Schuhen im Haus herumgelaufen. Mir sind gute Manieren wichtiger denn je, weil ich mich sehr nach dem normalen Leben vor dem Krieg zurücksehne. Aber wenn man jederzeit überfallen werden kann und gezwungen ist, um sein Leben zu kämpfen oder wegzulaufen, dann müssen die guten Manieren doch hier und da zurückstehen.

Ich schleiche mich zur »guten Stube« von Berta – unsere Generation würde Wohnzimmer dazu sagen. Berta war die liebenswürdige, alte Dame mit Kittelschürze, die bis gestern hier gewohnt hat und um die ich sicher lange trauern werde.

Leise öffne ich die Tür und trete zögernd an die misshandelte Frau heran. Eines ihrer Augen ist lila und zugeschwollen, ihre Lippe aufgeplatzt, vom schrecklichen Rest will ich gar nicht reden. Überrascht stelle ich fest, dass sich ihr Brustkorb hebt und senkt. Sie ist tatsächlich noch am Leben!

Zeit zum Überleben - Zukunft

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