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Kapitel 2

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Ich strecke meine Hand nach der Stirn der Unbekannten aus, um zu fühlen, ob sie Fieber hat.

Plötzlich reißt sie die Augen auf und kreischt drauflos. Ich schreie, weil ich mich zu Tode erschrecke.

Dann starren wir uns gegenseitig an.

Ich höre, dass Marc die Treppe herunterpoltert. Als er Sekunden später mit nichts als seiner Unterhose, einem T‑Shirt und einem Fleischermesser zu uns hereinstürmt, kreischt die blutjunge Frau abermals.

Kein Wunder, wenn man mehrfach vergewaltigt wurde. Geduckt, als würde gleich jemand über uns herfallen, schaut sich Marc hektisch um.

»Woher?! Wie viele?!«

»Wir werden nicht angegriffen, Marc.«

Er atmet tief durch, richtet sich auf und fährt sich durch die Haare.

»Mensch, ich dachte, ihr werdet gerade abgestochen!«

»Alles gut, Marc. Wir haben nur …«

»Euch mit Gebrüll vorgestellt?«

»So ungefähr. Aber du hast recht, wir sollten uns wirklich anständig vorstellen. Also«, sage ich und schaue zu der jungen Frau, die krampfhaft ihre Decke umklammert, die sie bis zum Kinn hochgezogen hat. Sie starrt Marc mit einem Ausdruck der Panik an. »Das ist Marc.« An ihn gewendet presse ich leise hervor: »Mensch, leg das Messer endlich weg!«

»Ach so, ja«, murmelt er und legt das gut 30 cm lange Ding auf den Tisch neben das Sofa, auf dem die Frau liegt.

Sie reißt die Waffe sofort an sich und hält sie schützend vor ihre Brust.

Marc seufzt und zeigt dann auf sein T‑Shirt, das ich ihm als Nachtwäsche aufgebrummt habe. Es ist ihm peinlich, sein Gesichtsausdruck verrät das. Darauf ist nämlich Snoopy abgebildet, der Woodstock – den kleinen gelben Vogel – innig drückt, dazu noch zwei Herzchen.

»Mal ehrlich«, erklärt er der jungen Frau, »muss man sich vor einem Kerl fürchten, der so was trägt? Ein Typ, der so was anzieht, produziert vermutlich gar kein Testosteron mehr, sondern nur noch weibliche Hormone.«

»Snoopy ist süß!«, verteidige ich das Shirt und blicke lächelnd zu der Unbekannten. »Komm schon, schlag dich auf meine Seite!«

Sie schaut erst zu mir, dann wieder auf Marcs Shirt – und fängt an zu kichern.

»Ihr habt beide recht.«

»Ich geb auf und feuer den Herd an«, stöhnt Marc, und wendet sich in Richtung Küche ab. »Süß!«, stößt er kopfschüttelnd aus. »Welcher Kerl will denn auf diese Art süß aussehen? Ein Eunuch?«

Ich muss inzwischen auch kichern und bin froh, dass wir auf diese Weise das Eis gebrochen haben.

Ihre Hand krampft sich immer noch um das Messer, doch mit sichtbarer Überwindung legt sie das Messer schließlich doch auf den Wohnzimmertisch zurück.

»Und ich bin übrigens Jessica«, stelle ich mich schließlich vor.

»Du hast den Zettel geschrieben?«, fragt sie. »Und die Lampe angelassen?«

Ich nicke. Ihr treten Tränen in die Augen.

»Danke für alles. Ohne deine Notiz hätte ich geglaubt, die nächste Bande hätte mich geschnappt. Und ohne das Licht der Lampe hätte ich nicht wieder einschlafen können.«

»Ich kann auch nicht im Stockdunkeln einschlafen«, gebe ich zu. »Aber du solltest wissen, dass es Marc war, der dich gefunden und hierher in Sicherheit gebracht hat.«

»Und wo ist hier?«, fragt sie und schaut sich in der gemütlichen Stube von Berta um.

»Du bist in einem elsässischen Dorf mit Namen Espoir und erst mal in Sicherheit. Wir haben eine Stadtmauer und Tore und …«

»Eine Stadtmauer?«

»Ja, eine mittelalterliche Mauer, die wieder ihren Dienst gegen Plünderer aufgenommen hat«, erkläre ich lächelnd.

»Habt ihr auch Kanonen und Brandpfeile?«, fragt sie skeptisch.

Aber ich bin irgendwie stolz, auf das, was wir schon erreicht haben und gebe Kontra.

»Na ja, statt Kanonen haben wir Pistole und Schrotflinte, und anstelle von Brandpfeilen basteln wir Brandsätze. Aber bevor wir weiter mittelalterliche Waffen diskutieren, hätte ich echt gern deinen Namen gewusst.«

Sie blickt auf ihre Hände und zögert.

»Ich«, beginnt sie und hält dann inne. Ihre Finger kneten die Wolldecke. Ich lasse ihr Zeit. »Ich«, fängt sie erneut an und blinzelt, als ob sie Tränen verdrängt. »Kann – kann ich mir einen neuen Namen geben? Ich will vergessen, was mir passiert ist. Nie mehr dran denken. Jemand anderes sein. Neu anfangen.«

»Such dir ruhig einen aus, wenn du magst«, ermutige ich sie und schaue dann auf meine Hände. »Verdrängen wird nur leider nicht helfen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber vielleicht fängt ja jeder so an.«

Ich reiße den Blick wieder hoch.

»Aber jetzt sag mir erst mal, wie es dir geht. Brauchst du etwas?«

»Ich habe heute Nacht alle Schmerzmittel auf dem Tisch geschluckt. Mir tat jeder Knochen im Leib weh. Habt ihr noch mehr?«

Sie hält sich die Hände dabei auf den Unterleib und ich muss schlucken. Natürlich denke ich sofort daran, dass sie vergewaltigt wurde, und ein Schwall Magensäure kommt mir hoch. Ich schlucke ihn mit Gewalt herunter und reiße mich zusammen, um nicht aus dem Raum zu rennen und mich zu übergeben. Böse Erinnerungen, wie schon gesagt.

»Ja, ich war neulich in der Apotheke«, scherze ich regelrecht, denn es klingt so normal. In Wahrheit bin ich natürlich nicht in eine Apotheke spaziert und habe dort auf Rezept Medikamente vom Fachpersonal erhalten. Nein, während Marc draußen fast verblutete, bin ich in eine bereits geplünderte Apotheke gerannt und habe panisch alle Schubladen aufgerissen. »Ich bringe dir gleich noch welche. Kannst du aufstehen?«

»Nein, ich habe mir das Bein gebrochen, als ich geflohen bin.«

Tränen laufen ihr aus den Augen. Im Gegensatz zu dem, was sie vorhin behauptete, glaube ich, sie will sich ihre Geschichte doch von der Seele reden. Am liebsten würde ich mir jetzt die Ohren zuhalten und aus dem Haus rennen, denn dadurch kommen sicher meine eigenen schlimmen Erinnerungen wieder hoch.

Ich bin eben keine Heilige. Ich schaue zur Tür.

Schließlich knie ich mich doch vor das Sofa und lege meine Hand auf ihre.

Sie weiß nicht, wie sie anfangen soll, das merke ich.

Noch einmal wandert mein Blick flüchtig zur Tür. Wieder schlucke ich mit Gewalt einen Schwall Magensäure herunter. Dann schaue ich stur auf eines der Millefleurs-Blümchen ihres himmelblauen Flanellnachthemds und beginne für sie.

»Ich habe dich gestern gebadet. Alles ist abgewaschen.« Auch die widerlich klebrigen Spuren zwischen deinen Oberschenkeln.

Die beiden kurzen Sätze reichen und schluchzend stottert sie: »Sie haben regelrecht Schlange gestanden, um über mich herzufallen. Ich habe mich aus Leibeskräften gewehrt. Der Erste hat mich brutal gewürgt, sodass ich zwischenzeitlich ohnmächtig wurde, der Zweite hat mich gleich zu Beginn bewusstlos geschlagen.«

Ich drücke ihre Hand fester und sie meine. Hilflos starre ich krampfhaft von einem Blümchen zum nächsten auf ihrem Nachthemd.

»Er hat gesagt, ich wäre selbst dran schuld. Ich hätte nicht abhauen sollen. Aber da ich jetzt ein gebrochenes Bein hätte, wäre ich nur noch eine Belastung. Er könnte mich nicht weiter mitschleppen und seine Männer wollten auch endlich was von mir abhaben.«

Oh – mein – Gott!

Mit eisernem Willen unterdrücke ich den Impuls zu brechen.

»Es hat damit angefangen, dass ich vor einigen Wochen allein auf Nahrungssuche unterwegs war«, fährt sie fort und schluchzt immer wieder. »Da hat Karls Bande mich gefunden und eingekreist. Er hat gesagt, wenn ich seine Freundin werde, würden mich die anderen nicht anrühren. Ich hatte Todesangst und er sah mich freundlich an, also habe ich eingewilligt. In der ersten Nacht war er noch nett und sanft, aber je länger ich bei ihm war, desto gröber und rücksichtsloser wurde er. Es gefiel ihm, mich vor seinen Leuten anzugrapschen und zu knutschen, aber die wurden immer neidischer, ihre Blicke immer gieriger. Ich musste für sie kochen und alle möglichen Drecksarbeiten verrichten. Abends dann hatte ich jeden von Karls Wünschen zu erfüllen. Eines Tages wurde mir klar, dass ich für ihn nur eine rechtlose Sklavin war. An diesem Tag wurde ich aufmüpfig und bekam das erste Mal Schläge von ihm. Von da an habe ich nur noch nach einer Fluchtmöglichkeit gesucht. Ich wurde rebellischer und bekam mehr Prügel. Schließlich flüchtete ich eines Nachts heimlich. Seine Bande verfolgte mich, und als sie mich einholten, brachten sie mein Motorrad bei voller Fahrt zum Umkippen. Dabei brach ich mir das Bein …«

Meine freie Hand hat sich inzwischen zur Faust geballt und gleichzeitig verschwimmen die weißen Blümchen vor meinen Augen. Ich muss heftig blinzeln, um nicht zu heulen.

Als sie am Ende ihrer Geschichte angekommen ist, sieht sie mich mit großen Augen an. Eine Frage steht darin.

Ich kenne diese Frage, auch wenn meine Geschichte eine andere ist und weit harmloser: Was wird jetzt aus mir?

Das ist eine sehr zerbrechliche Phase, die man da durchmacht. Auch das weiß ich aus eigener Erfahrung. Meine Eltern liebten mich, dennoch waren sie damals nicht in der Lage, mir die Hilfe zu geben, die ich gebraucht hätte. Mir selbst konnte und kann ich nicht helfen, aber was ich ihr sagen muss, das weiß ich genau. Ich hoffe, es hilft ihr und sie bekommt ihr Leben danach besser in den Griff als ich.

»Wie alt bist du?«, frage ich zunächst.

»In zwei Tagen werde ich 17.«

Ich sehe in ihr Gesicht. Sie sieht viel jünger aus.

Mir schnürt sich die Kehle zu.

Es ist für mich unfassbar, dass jemand fähig ist, auf ein so jugendlich unschuldiges und zartes Gesicht dermaßen brutal einzuschlagen! Zudem ist ihr Körper zierlich und dünn, sie ist sicher unter 1,60 Meter und hat feine Glieder – wie konnte sie dieses Martyrium nur ertragen? Wobei ich annehme, dass sie nicht von Haus aus so eine dünne Statur besitzt, sondern eher abgemagert ist, weil sie nicht genug zu essen hatte.

Als sie vorhin aufwachte, hatte ich zuerst Horror davor, dass sie zu schwer traumatisiert und nur eine Last für uns sein würde. Ich weiß, ich sollte nicht so denken. Da merkt man wieder, dass ich keine Heilige bin. Aber wir stecken nun mal in einer Situation, in der wir gesunde, kräftige Menschen brauchen, die arbeiten können, um unser aller Überleben zu sichern. Während sie erzählte, habe ich jedoch Hoffnung geschöpft und ich wünsche mir, dass meine Worte ihr eine Starthilfe geben, um dieses Trauma zu überwinden.

Ich drücke ihre Hand. Ihr Gesicht ist zerschlagen, die Würgemale an ihrem Hals schüren den Zorn in mir. Entschlossen schaue ich ihr direkt in die Augen, von denen eines ja immer noch lila und zugeschwollen ist.

»Zuallererst mach dir klar, dass Karl dich von Anfang an manipuliert und in diese Rolle gezwungen hat. Du hattest keine echte Wahl. Du wolltest nur überleben. Und dass du an irgendetwas selbst Schuld hast, ist vollkommener Bullshit!«

Ich warte, bis das bei ihr gesackt ist, und sie nickt, erst dann fahre ich fort: »Und das zu überleben, was du durchgemacht, ist ein Wunder. Du hast eine rebellische Natur und bist viel stärker, als du denkst. Darauf kannst du verdammt stolz sein! Du hast diese Schweine überlebt. Jetzt bist du frei und hast dein Leben zurück, also mach auch was draus. Zeig es denen! Werde die, die du sein willst. Und wenn sie dich in deinen Erinnerungen heimsuchen, dann spuck ihnen ins Gesicht und schrei sie mit all deiner Wut an! Wehr dich mit der ganzen Kraft deines starken, rebellischen Herzens, wenn die Erinnerung dich unter ihren Stiefeln zerquetschen will!«

Ich habe angefangen zu schreien und stoppe mich, atme tief durch.

»Mir ist ein Name für mich eingefallen«, sagt sie leise.

»Und der wäre?«

»Phönix. Wie der Vogel, der aus seiner eigenen Asche neu geboren wird.«

»Okay, Phönix. Das passt. Aber was hältst du davon, wenn wir ihn für Freunde abkürzen? Wie wär’s mit Nixi?« Das klingt wenigstens ein bisschen nach Mädchen.

»Wenn du meinst, dann Nixi für euch«, erwidert sie immer noch viel zu leise.

Ich hoffe, sie schafft es. Aber selbst wenn, wird ihr Weg hart und steinig werden.

Nachdem ich Nixi mit mehr Paracetamol versorgt habe, entschuldige ich mich, um Eier aus dem Hühnerstall zu holen und zu versuchen, der Kuh ein bisschen Milch abzuringen. Aber um ehrlich zu sein, muss ich unbedingt raus und Abstand gewinnen. Das war alles zu viel für mich. Meine eigenen Erinnerungen lassen mich schon eine Weile die Kiefer aufeinanderpressen. Ich hab mich eisern zusammengerissen, um nicht zu heulen oder mich zu übergeben. Für Nixi wollte ich stark sein. Aber nun habe ich das Gefühl, mich selbst nicht mehr zu spüren. Obwohl ich nicht renne, flüchte ich aus der guten Stube und schließe die Tür hinter mir. Jetzt möchte ich nur noch schnell durch die Küche nach draußen in den Hof stürmen, um da meine Fassung wiederzuerlangen. Doch Marc fängt mich mit seiner Hand an meinem Arm in der Küche ab.

Da die Tür von der Küche zur guten Stube vorhin ein Stück offen stand, hat er sicher jedes Wort mitgehört, als er den Ofen angefeuert und Wasser aufgesetzt hat.

»Komm her«, flüstert er und zieht mich näher an sich.

»Nicht jetzt«, protestiere ich, denn ich spüre schon, wie mich ein Schwall Tränen überwältigen will.

Aber Marc hält mich weiter fest.

»Doch genau jetzt, Jessy. Lass es raus.«

»Ich kann nicht«, sage ich mit abgewandtem Blick und blinzle stur gegen die Tränen an.

»Doch, bei mir schon.«

Er schließt mich in seine starken Arme.

Als er auch noch über meinen Rücken streichelt und meinen Haaransatz küsst, kann ich die Flut nicht mehr aufhalten. Ich heule Rotz und Wasser, aber ganz leise, damit Nixi mich nicht hört.

Nach einer Weile geht es mir tatsächlich besser.

»Ich danke dir, Marc.« Mal wieder.

So oft war er schon für mich da! Immer im richtigen Augenblick. Er hat es echt drauf.

Als ich mich von ihm löse, um in den Stall zu gehen, hält er mich am Unterarm kurz zurück.

»Es wird Zeit, dass du mir alles erzählst, Jessy. Deine Vergangenheit steht oft zwischen uns und ich will wenigstens wissen, womit ich es zu tun habe.«

Abrupt wende ich den Blick zu Boden.

»Irgendwann, Marc, irgendwann.«

Das ist ihm wohl nicht genug und er will nachhaken, doch ich reiße mich los und flüchte, diesmal schnellen Schrittes, nach draußen.

Zeit zum Überleben - Zukunft

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