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8. Kapitel

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8. Kapitel

Der Regen wollte den ganzen Tag über nicht nachlassen und hielt an bis in die Nacht. Aber noch ehe der Morgen graute, ließ er nach, und gegen zehn schien die Sonne. Sie hatte es zwar anfangs noch schwer, sich gegen die schwarzen Wolken zu behaupten, aber je mehr Zeit verstrich, umso intensiver strahlte sie. Gegen Nachmittag, wenn es schon auf den Abend zugehen würde, würde vielleicht gar keine Wolke mehr am Himmel hängen. Doch das war Zukunftsmusik.

Für Sabine war das Wetter unwichtig. Es interessierte sie nicht im Mindesten. Sie hatte Wichtigeres im Sinn.

Da war zum einen die Sache mit ihrem Bruder. Bis gestern hatte sie nicht einmal etwas geahnt von seiner Existenz, und nun zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie ihn finden konnte. Zum anderen wusste sie plötzlich nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie ihren Bruder überhaupt aufsuchen? Oder war es vielleicht doch besser, sie ließ ihn sein Leben leben, ohne sich einzumischen? Auch, wenn das vielleicht hieß …

Na und? Passieren wird es ohnehin! Ob er es nun weiß oder nicht. Hast du dir schon mal überlegt, dass Unwissenheit vielleicht gar nicht so schlecht ist? Dass es vielleicht ganz gut ist, wenn es einen aus heiterem Himmel trifft? Was ich meine, ist Folgendes: Du setzt alles daran, ihn zu finden und ihn über diesen vermaledeiten Familienfluch aufzuklären. Dabei ist es vielleicht viel besser, er weiß davon gar nichts. Schicksalsschläge geschehen schließlich immer wieder, auch ohne Fluch: Unfälle ereignen sich, Krankheiten brechen aus, nahe Menschen sterben überraschend und, und, und. Verstehst du, was ich meine? Du bist so überzeugt davon, das Richtige zu tun, dass du vollkommen übersiehst, was Wahrheit bedeutet! Was sie heißt. Was sie verändert. Und vor allem, und das ist wohl das Wichtigste, wie sie schmerzt!

All dies geisterte Sabine im Kopf herum, und es klang alles ziemlich überzeugend. Sie, Sabine, hatte die Wahrheit unbedingt wissen wollen. Doch das hieß noch lange nicht, dass es bei ihrem Bruder auch so war. Vielleicht war er ja ganz anders gestrickt? Vielleicht wollte er von alldem gar nichts wissen und in aller Ruhe sein Leben weiterleben? Schließlich bestand diese Möglichkeit durchaus. Sie kannte ihren Bruder nicht. Vielleicht war er anders als sie. Vielleicht …

Verdammt, Sabine. Dieses ganze Gerede, vielleicht und wenn und aber … es hält dich nur ab und bringt dich nicht weiter! Triff eine Entscheidung! Aber überlege gut! Es kann schon begonnen haben. Dann bist du die einzige, die darüber Bescheid weiß!

Sie machte es sich nicht leicht. Sie dachte über alles nach und wog alles gegeneinander ab. Um ein Haar war sie drauf und dran, ihren Bruder sein Leben einfach leben zu lassen. Sie war kurz davor, die Sache zu vergessen und sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Was sie davon abhielt, war ein einziger Gedanke. Oder vielmehr eine Frage: Hatte er Kinder?

Bei dieser Vorstellung schauderte sie. Wenn dem so war, sah die Sache anders aus. Kinder waren unschuldig. Sie waren noch klein, sie sollten etwas vom Leben haben. Und, rein vom Logischen her, musste er Kinder haben. Schließlich musste, so makaber es auch klingen mochte, der Fluch fortgesetzt werden. Sie, Sabine, hatte keine. Blieb also nur er.

Schön und gut. Sabine hatte sich also insofern mit sich selbst geeinigt, dass sie etwas unternehmen musste. Blieb noch immer die Frage, wie dieses „etwas“ aussehen sollte. Was das anging, hatte sie keinen blassen Schimmer. Sie tappte im Dunkeln. Und wie es schien, würde das noch ein Weilchen so bleiben.

Sie saß nun schon seit längerem auf der Couch, hatte die Füße an sich gezogen, die Hände umfassten ihre Füße und hielten sie fest, die Knie waren nah bei ihrem Gesicht. So saß sie einfach nur da, ohne etwas zu tun. Und war erschrocken darüber, wie machtlos sie war. Selbst wenn sie ihn fand, machte das einen Unterschied? Würde es etwas nützen? Würde sich dadurch auch nur im Ansatz etwas ändern?

Wahrscheinlich nicht. Trotzdem musste sie etwas tun. Es war ihr Bruder, verdammt, nicht irgendein Familienmitglied, nein, ihr leiblicher Bruder. Sie hatten ein und dieselbe Mutter, und wenn die keine Dummheiten gemacht hatte, auch den gleichen Vater …

Sabines Kopf brummte wie ein Dieselgenerator. Wie oft hatte sie sich nun schon die Frage nach der Richtigkeit ihres Vorhabens gestellt? Wie oft? Und noch immer war sie zu keinem Entschluss gekommen.

Sie hielt das Stück Papier, das sie gestern in Eile geschrieben hatte, in den Händen wie eine vollgeschissene Windel, mit den Fingerspitzen, ein Stück vom Körper entfernt. Dennoch musste sie es in der Hand halten. Und sie musste es lesen, immer und immer wieder. Das Papier war schon völlig zerknittert, es sah inzwischen so ramponiert aus, als sei es durch tausend Hände gewandert. Dabei war es nur einen Tag alt.

Auf dem Zettel hatte sie ein paar interessante Dinge vermerkt. Allerdings war das nicht bewusst geschehen. Oh nein, sie hatte einfach alles aufgeschrieben, was sie in der Chronik gesehen hatte. Um es dann, zuhause, in sich aufzunehmen.

Dieser Moment war nun gekommen und schon wieder gegangen, und seitdem saß sie reglos auf der Couch, starrte Löcher in die Luft und machte den Eindruck einer geistig verwirrten Frau – zumindest von einer, die in Gedanken so weit von der Realität entfernt ist, dass man sie als durchgeknallt hätte betrachten können.

Doch Sabine war keineswegs durchgeknallt, und sie war auch nicht verwirrt. Sie war nur in sich gekehrt. Und das musste sie auch, schließlich hatte sie über etwas nachzugrübeln, was in seinen Auswirkungen so mächtig war, dass es nicht nur ihr Leben betraf, sondern auch das ihres Bruders und seiner Familie. Er hatte ganz gewiss eine Familie. Schließlich musste der Fluch ja weiterhin Bestand haben …

Das Brummen des Dieselgenerators in ihrem Kopf nahm zu; jetzt klang es wie ein vollgeladener Öltanker, der schwerfällig durch die Wellen der Ozeane pflügt.

Auf diesem Zettel, diesem dreimal verdammten Zettel, stand etwas, das sie gestern nicht registriert hatte. Entweder war sie dafür zu aufgeregt gewesen oder (das war das Wahrscheinlichste) oder sie hatte es einfach verdrängt, weil es zu viel für sie geworden war. Was es auch gewesen war: Es hatte einen Zweck erfüllt. Hätte sie es gestern schon gemerkt, hätte sie nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollte. Vielleicht wäre sie so überwältigt gewesen, dass sie schreiend durchs Haus gestürmt wäre.

Alles in allem war es gar nicht so viel, was da noch auf dem Zettel stand, nur ein Datum und die Adresse eines Kinderheims.

Diese Adresse war es, die ihr zu schaffen machte. Sie führte ihr nämlich etwas vor Augen: Alles, was sie in den letzten Tagen erlebt, an Eindrücke gesammelt, gedacht und gefühlt hatte, war real. Und alles lief auf eine bestimmte Sache hinaus. Nämlich, dass ihre Familie schon lange, schon sehr, sehr lange unter dem Fluch litt. Und dass sie, Sabine, leider nicht die erste war, die etwas dagegen zu unternehmen versuchte. Alles deutete darauf hin, dass auch ihre Eltern dagegen zu kämpfen versucht hatten. Warum sonst hätten sie ihren erstgeborenen Sohn weggegeben? Nur weil sie sich erhofften, ihn so in Sicherheit zu wissen!

Aber leider (und das hatte ihr Vater schließlich einsehen müssen) ließ der Fluch sich nicht so einfach austricksen. Das bewiesen die Lebensläufe der anderen. Sie verstreuten sich über den halben Erdball, hinterließen Spuren auf jedem Kontinent. Und das taten sie gewiss nur, um dem Fluch zu entkommen. Wahrscheinlich glaubte jeder, so wie auch Sabine, ausgerechnet er könne etwas dagegen unternehmen, das Verhängnis endlich beenden. Doch dem war nicht so, wie die Familienchronik bewies. Egal, wohin sie auch verschwanden, wohin sie auswanderten oder wie viele Meilen sie zwischen sich und ihren Geburtsort brachten: Am Ende war es immer der Fluch, der triumphierte.

Genau das machte ihr Angst. Bislang hatte sie geglaubt, sie sei die erste, die etwas dagegen tun wollte. Aber so wie es jetzt aussah, schien es, als sei der Kampf gegen den Fluch ebenso alt wie der Fluch selbst. Das aber war nicht das eigentlich Schlimme. Nein, das wirklich Entsetzliche war, dass sie nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatten. Sollte es tatsächlich so sein, dass es absolut nichts gab, was man unternehmen konnte? War alles immer schon zum Scheitern verurteilt?

Jeder andere hätte an dieser Stelle aufgegeben. Warum kämpfen, wenn man ohnehin verlor? Aber Sabine nicht. Sie war eine Kämpferin. Sie versuchte es selbst dann noch, wenn der Kampf längst verloren schien. Darum nagte diese Erkenntnis zwar an ihr, aber sie schaffte es nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

Zu dem Datum stand nichts weiter. Aber sie vermutete, dass es entweder das Datum der Geburt ihres Bruders war oder der Tag, an dem er in das Kinderheim gebracht worden war. Egal, was es war: Es war auf jeden Fall eine heiße Spur.

Sabine kannte die Adresse inzwischen auswendig. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Heim. Zumindest malte sie sich aus, wie es aussehen mochte. Und zwar sollte es ein riesiges Schloss sein, mit zwei gigantischen Türmen, hoch in den Himmel ragend. Der Eingang war ein gewaltiges Tor, bewacht von einer Zugbrücke, die in der Nacht hochgezogen wurde, ein breiter Graben umgab das Schloss, und es lag in einem Wald, wo die Kinder spielten …

Doch dann ließ sie von diesem Bild, dieser Vision ab. Sie merkte, dass sie alles andere als realistisch war. In Wirklichkeit sah kein Kinderheim so aus. Im Gegenteil, es war eher wahrscheinlich, dass es eine sterile Kaserne war, mit Gittern vor den Fenstern und strengen Erziehern, die keinen Spaß an ihrer Arbeit hatten. Wenn sie es so sah, mochte ihr Bruder alles andere als eine Bilderbuchkindheit gehabt haben. Zumindest keine, um die sie ihn beneidete. Da stellte sich ihr noch eine Frage: Wie würde er es aufnehmen, dass sie, Sabine, so plötzlich aus dem Nichts erschien? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm eröffnete, dass er zwar in einem Waisenhaus gelebt hatte, er aber keineswegs eine Waise gewesen war? Dass seine leiblichen Eltern sogar recht wohlhabend gewesen waren? Er hätte es gut haben können. Stattdessen hatte er seine Kindheit in einem Heim verbringen müssen, ohne Eltern, ohne Geschwister. Bestimmt würde er sich fragen, warum.

Da plötzlich tauchte in ihrem Denken noch etwas auf. Und dieses Etwas war hochinteressant. Es war die Frage, warum ihre Eltern sie, Sabine, nicht weggegeben hatten. Warum hatte ihr Vater sie unbeirrt großgezogen? Und nur zwei Jahre zuvor seinen einzigen Sohn weggegeben? Was hatte sich in dieser Zeit verändert? Was war anders geworden? Warum hatte er …?

Da beantwortete diese Frage sich von selbst. Es hatte sich tatsächlich etwas verändert. Etwas Verheerendes. Ihre Mutter, Jennifer, war gestorben. Sie war überraschend von ihm gegangen, und da hatte er nicht mehr weitergewusst. Gewiss war er verzweifelt gewesen. Und um nicht ganz allein zu sein, hatte er sie, seine Tochter, behalten. Vielleicht hatte er Angst gehabt, allein zu sein. Vielleicht hat er auch nur eingesehen, dass es egal war, ob sie woanders war oder bei ihm, weil am Ende der Fluch ohnehin siegte. Und da wollte er sie doch lieber bei sich wissen, als irgendwo ganz auf sich allein gestellt …

Doch noch einmal zurück zu der Frage, wie ihr Bruder dieses Wissen aufnehmen würde. Das konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Was sie aber wusste, war, dass sie es ihm unbedingt sagen musste. Falls er es nicht schon wusste … Die ganzen Wenns und Abers machten sie verrückt! Sei’s drum: Es gab wirklich Schlimmeres als so einen richtig schönen, hausgemachten Gehirndünnschiss, nicht wahr? Au ja, nämlich genau das, worin sie gerade steckte.

Sie nahm ihren Blick zum ersten Mal seit Stunden von dem Papier, und ihr wurde schwummerig vor Augen. Doch das legte sich schnell wieder, und nun sah sie aus dem Fenster. Der Wolkenbruch hatte auf den Scheiben Schlieren hinterlassen, doch die waren ihr egal. Wäre alles noch beim Alten, wie noch vor einigen Wochen, hätte sie jetzt wahrscheinlich die Fenster geputzt. Aber da das nun einmal nicht der Fall war, waren schmutzige Fenster nicht mehr wichtig.

Endlich erhob sie sich, allerdings schwerfällig wie ein Tattergreis. Ihre Knochen knackten wie trockene Zweige, und ihre Muskeln ächzten. Dennoch ließ sie sich von den Geräuschen nicht beirren und bewegte sie sich einfach weiter, ignorierte die Schmerzen, richtete sich auf. Dann stand sie da, starrte noch immer in Richtung Fenster und hatte damit zu tun, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Doch irgendwann ging auch das fast von allein, und sie konnte es riskieren, sich in Bewegung zu setzen. Sie musste noch einmal in den Keller und nachschauen, ob sie noch etwas fand, was ihr weiterhalf. Und wenn es nur einen Schnipsel gab. Es musste einfach etwas zu finden sein!

Warum ihr Vater sie nicht weggegeben hatte, gab ihr immer noch zu denken. Lag es wirklich nur daran, dass er nach dem plötzlichen Tod seiner Frau allein gewesen war? Oder gab es noch einen anderen Grund? Und wenn ja, welchen? Gewiss hatte es auch damit zu tun, dass er zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, es sei egal, ob die Kinder bei ihm waren oder nicht; der Fluch würde sie ohnehin finden. Aber das war es bestimmt nicht nur allein. Nein, da war noch mehr. Mehr, als sie jetzt ahnte. Und darum musste sie noch einmal in den Keller. Auch, wenn sie es nicht wollte und am liebsten keinen Fuß mehr dorthin gesetzt hätte.

Nach mehr als drei Stunden intensiver Suche gab sie auf. Sie hatte nichts gefunden und war fix und fertig. Die Kopfschmerzen hatten zugenommen und hämmerten jetzt nicht mehr nur wie ein Dieselaggregat, sondern dröhnten und kreischten wie ein Bataillon Panzer. Und auch ihre Muskeln wollten nicht mehr. Sie fühlten sich an, als hätte sie einen Marathon hinter sich und bräuchte unbedingt ein paar Tage frei. Ihre Glieder zitterten vor Erschöpfung, und ihre Augen fielen schon fast von allein zu. Es war wirklich besser, wenn sie sich ein bisschen ausruhte. Sie konnte ja immer noch…

Genau, das konnte sie. Sie würde nur ein wenig ruhen, aber sie würde die Suche nicht aufgeben. Nur ein paar Stunden schlafen, ein bisschen an der Matratze lauschen und dann gestärkt wieder ans Werk gehen. Das würde ihr guttun.

Es blieb aber noch ein Problem. Sie war nämlich so fertig, dass es ihr unmöglich erschien, sich hinauf ins Obergeschoss zu schleppen. Hier unten bleiben wollte sie aber auch nicht. Eher würde sie sich quälen und die zwei Etagen meistern. So hatte sie zumindest gedacht. Doch das Ende vom Liedes sah anders aus: Sie schaffte es gerade einmal, sich aus dem Keller zu schleppen und bis in die Stube. Dann versiegte ihre Kraft. Doch wenigstens hatte sie es bis hierher geschafft und schlief nicht im dunklen Keller. Nicht, dass sie Angst hatte, es war eher ein beklemmendes Gefühl, wenn sie dort unten war. Sie war schon früher nicht allzu gern dort unten gewesen, aber seit ihr Vater dort unten gestorben war, hatte sie noch weniger das Verlangen, dort zu sein.

Bis zum Schlafzimmer fehlte ihr eine Treppe, das war eine Etage höher, aber man musste nehmen, was man bekam. So ziemlich alles war besser, als in der Dunkelheit zu liegen, die eigene Hand nicht vor Augen zu sehen und nicht zu wissen, was in der Finsternis kreuchte und fleuchte. Dann schon lieber die Couch hier in der Stube. Hier riskierte sie wenigstens nicht, dass sie wach wurde, weil irgendetwas über ihre Hand kroch, oder schlimmer noch, etwas Glitschiges nach ihr griff …

Kurz bevor Sabine einschlief, sinnierte sie, warum sie eigentlich im Keller gewesen war. Sie hatte es vor lauter Müdigkeit vergessen. Es war wichtig gewesen. Vielleicht aber auch nicht. Momentan war es ihr gleichgültig. Denn noch ehe sie diesen Gedanken weiterführen konnte, war sie auch schon eingeschlafen. Und ebenso schnell, wie sie eingeschlafen war, begann sie zu träumen.

Und sie träumte …

Sie lief durch dichten Wald. Der Weg war schmal und von Unkraut überwuchert. Er war fast nicht auszumachen. Das einzige, was ihn kennzeichnete, war der Umstand, dass hier keine Bäume wuchsen. Und auch die kamen ihr seltsam vor. Sie standen so dicht beieinander und waren so artenreich, wie sie es noch nie gesehen hatte: Da stand eine Buche neben einer Kiefer, eine Eiche wuchs im Schatten einer Fichte, und eine Tanne erhob sich neben einer Birke. In dem Wald herrschte einfach keine Ordnung. Und doch sah es aus, als sollte alles so sein, als hätte alles seine Richtigkeit. Vielleicht ja gerade, weil hier alles scheinbar aufs Geratewohl spross. Auch der Waldboden sah eigenartig aus. Da gab es Jungwuchs, der im Schutz der Bäume wucherte, Moos schimmerte an den mächtigen Stämmen, und Farne rankten sich wild an ihnen empor.

Sabine blieb einen Moment stehen und lauschte in den Wald hinein. Irgendwie kam er ihr befremdlich vor, gleichzeitig aber so, dass er ganz genauso aussehen musste. So und nicht anders. Geräusche schwappten ihr wie eine Welle entgegen: Unterholz knackte, Vögel zwitscherten, Spechte klopften. Und wie es neben und vor ihren Füßen raschelte!

Es war wunderbar. Und diese Luft. Ein Hochgenuss. Es machte Freude, sie einzuatmen.

Sabine setzte sich in Bewegung, während die Sonne ihr ins Gesicht schien und der leise Wind mit ihrem Haar spielte. Es war angenehm, hier zu wandern. Auch wenn sie gar nicht wusste, wo sie war. Doch das war egal. Warum sollte sie es wissen? Warum? Was änderte das?

Sie schlenderte den zugewucherten Weg entlang, und plötzlich hörte sie Stimmen. Sie drangen aus dem Nichts. Eben noch hatte sie nur die Geräusche des Waldes gehört, und jetzt kamen Stimmen dazu. Sie waren laut, so laut, dass sie die des Waldes verdrängten.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie stehen geblieben war. Aber nicht nur das, nein, sie machte ihren Hals lang und reckte ihren Kopf in die Höhe. Das überraschte und belustigte sie. Sabine hatte nicht mit Menschen gerechnet. Sie hatte geglaubt, dieses Paradies gehöre ihr allein. Na, da hatte sie sich offenbar getäuscht …

Sie lief weiter in Richtung der Stimmen. Sie waren ganz nah, mussten hinter der nächsten Anhöhe sein, die sich kaum zwanzig Schritte vor ihr erhob und gerade hoch genug war, um nicht drüber gucken zu können. Sie ging ohne Scheu auf sie zu und verringerte ihr Tempo. Sie tat es unbewusst, als hätten ihre Beine einen eigenen Willen. Ihre Schritte wurden langsamer und langsamer und setzten schließlich sogar aus. Also, das ist ja … da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt! Sabine war überrascht. Warum taten ihre Beine nicht, was sie sollten?

Und dann taten sie es doch. Sie liefen weiter, aber nicht so, wie Sabine es gewollt hatte. Sie führten sie vom Weg hinunter, in den Wald hinein. Was sollte das nun wieder? Nun begannen sie auch noch zu rennen, und Sabine konnte nichts tun, als zu parieren. Was ging hier vor? Sie rannte ungefähr dreißig, vierzig Schritte in den Wald, blieb kurz stehen, sah sich um, rannte noch einmal ein paar Schritte, scheinbar aufs Geratewohl, in irgendeine Richtung und warf sich in eine Senke. Also wirklich, nun war es aber genug!

Dummerweise blieb ihr nichts anderes übrig. Sie lag jetzt hier in dieser Senke, in die sie spektakulär gesprungen war wie eine Stuntwoman. Die Sache war oscarreif: mit dem Kopf voran, todesmutig, ohne auch nur zu wissen, wie tief sie war oder ob etwas Gefährliches darin lag, ein spitzer Ast etwa, der aus dem Boden lugte und sie aufspießen konnte wie ein Speer ...

Ihr wurde immer mulmiger zumute. Was ging hier vor? Warum sauste sie wie ein Wirbelwind durch den Wald und warf sich todesmutig in ein Loch, das sie gar nicht kannte?

Da plötzlich dämmerte es ihr: Sie wollte von den Besitzern der Stimmen nicht gesehen werden. Das war der einzige plausible Grund. Aber warum? Sie wusste doch weder, wer sie waren noch, wohin sie wollten. Bis eben noch hatte sie geglaubt, allein hier zu sein. Wo auch immer dieses „hier“ sein mochte. Ja, verdammt noch mal, sie wusste noch nicht einmal das!

Na schön, na schön. Sie flüchtete also wie die Beute vor seinem Jäger. Und da ihr nichts anderes übrig blieb, würde sie damit irgendwie leben. Es sprach aber bestimmt nichts dagegen, mal einen Blick zu riskieren, oder? Neugier ist schließlich eine Tugend, und was das anging, war sie die Tugend in Person!

Sie robbte etwas nach vorn, nicht viel, nur so weit, um aus der Senke spähen zu können.

Da kamen die Besitzer der Stimmen auch schon über die Anhöhe. Es waren vier Frauen. Das überraschte Sabine; schließlich hatten die Stimmen sehr markant geklungen, eigentlich mehr wie die von Männern. Und noch etwas überraschte sie: Es waren die Kleider, die sie trugen. Sie passten nicht in die Gegenwart. Sie waren ganz anders als alles, was Sabine bisher gesehen hatte … Nein, etwas Ähnliches hatte sie schon einmal gesehen. Aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie wusste, wann das gewesen war und in welchem Zusammenhang!

Die Frauen dort trugen, so sah sie, seltsame Beinlinge, die ihnen bis zu den Knien reichten, dazu weite Filzkittel, bei denen Sabine unweigerlich an einen Lumpensammler denken musste. Ihre Tracht war seltsam grau und eintönig, und sie war schmutzig. Sie war richtig schmutzig, sie stand regelrecht vor Dreck. Sabine schüttelte es schon vom puren Ansehen.

Dann waren die vier Frauen auch schon wieder vorbei, und Sabine war sprachlos. Sie lag auf dem Boden in ihrer Senke, die Augen weit aufgerissen und ungläubig hinter ihnen her starrend. Was ging hier vor? Wo bin ich hier nur gelandet? Und, verdammt noch mal, wann?

Doch sie hatte keine Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen, denn in diesem Moment begannen ihre Beine wieder mit ihrem Eigenleben. Und wie zuvor blieb ihr nichts anderes übrig, als ihnen zu gehorchen. Sie pirschte sich zwischen den Bäumen entlang, immer auf Höhe der vier Frauen. Und es grenzte schier an ein Wunder, dass sie sich nicht die Knochen brach, während sie über etwas stolperte – und das tat sie fast pausenlos. Doch seltsamerweise erzeugte sie keine Geräusche, obwohl sie wie ein wildgewordener Derwisch wütete.

Noch etwas kam ihr seltsam vor. Sie wusste, dass es lächerlich war, aber sie glaubte, eine der Frauen zu kennen. Aber woher? Sabine war sich sicher, keine von ihnen je gesehen zu haben. Dennoch, sie spürte es. Es war da und ließ sich nicht leugnen. Eine dieser Personen war ihr vertraut. Sie wusste nur noch nicht, welche.

Sie hastete weiter zwischen den Bäumen entlang, nur einen Steinwurf von den Weibern entfernt. Sie hätten ihre Anwesenheit schon längst mitkriegen müssen, verdammt! Wenn nicht durch die nicht vorhandenen Geräusche, dann, weil sie so verdammt nah an ihnen dran war. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu …

Und dann wurde es plötzlich schwarz.

Und als es wieder hell um sie herum wurde, fand sie sich auf einem großen Platz wieder, inmitten einer Menschenmenge. Es waren bestimmt an die dreihundert Leute, vielleicht sogar mehr. Und sie waren alle seltsam gekleidet. Sabine kam sich ziemlich verlassen vor, und sie hatte Angst – am meisten wohl davor, entdeckt zu werden. Wie würden die Menschen reagieren, wenn sie merkten, dass die Frau da in ihrer Mitte nicht zu ihnen gehörte?

Doch darüber brauchte sie sich nicht den Kopf zerbrechen, wie sie eben feststellte. Sie trug nämlich plötzlich ebenso seltsame Gewänder. Doch das war noch nicht alles, nein, das ganze merkwürdige Drumherum ging fröhlich weiter: Ihre Hände waren schmutzig und schwielig, die Fingernägel abgekaut und ihre Arme zerkratzt.

Eigentlich hätte es ihr ihre Angst machen müssen, aber sie wunderte sich über gar nichts mehr. Sabine hatte sich damit abgefunden, dass hier seltsame Dinge geschahen. Und da sie es ohnehin nicht ändern konnte und ihr scheinbar keine Gefahr drohte, beließ sie es einfach dabei und widmete sich stattdessen dem Schauspiel. Sie war sogar ein wenig gespannt auf das, was noch kommen würde.

Die Menschenmasse grölte und brüllte. Es war eine Stimmung wie auf dem Jahrmarkt. Sabine hatte fast den Eindruck, in einem Footballstadion zu stehen, inmitten von Tausenden begeisterter Fans, die ihrer Mannschaft zujubelten: Yes, Baby, das war ein Touchdown! Mach´s noch mal, du verdammter Schweinehund! Führ uns zum Sieg!

Dann wurde es wieder schwarz.

Und als es dann wieder hell wurde, war die Stimmung eine ganz andere. Als sie wegtrat, war sie ausgelassen gewesen und fröhlich, und als sie wiederkam, war das blanke Gegenteil der Fall. Es herrschte ein Schweigen, dass einem eine Gänsehaut den Rücken hinunterkriechen konnte.

Eine Sekunde später begriff Sabine, dass das Schweigen besser gewesen wäre. Jedenfalls besser als das, was sie jetzt hörte. Jetzt redete nämlich eine Stimme. Und was sie zu sagen hatte, war alles andere als erfreulich. Sie bewirkte weit mehr als eine läppische Gänsehaut. Viel mehr.

Denn nun begann in der Menschenmasse, die bis eben ruhig gewesen war, eine Bewegung. Sie begann ganz langsam, wurde aber schneller. Jetzt bemerkte Sabine noch etwas anderes: Die Bewegung führte von ihr weg. Aber sie war nicht der Grund. Nein, es war eine andere Frau. Und zwar die, die vor ihr stand. Es war eine von den Weibern, die sie im Wald gesehen hatte. Sie war die einzige, die nicht vor ihr zurückwich. Sabine und die Frau standen jetzt in einem Kreis, der sich um sie gebildet hatte. Hatte sie etwa irgendeine ansteckende Krankheit? Warum wichen die Menschen vor ihr zurück?

Und da schnitt jene Stimme sich tief in ihr Bewusstsein.

„Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage! Du hast dir diesmal die Falsche ausgesucht! Diesmal hast du ins Schwarze getroffen! Ich bin eine Hexe! Alle deine Familienmitglieder und auch die, die es in Zukunft noch werden, werden einen frühen, unerwarteten und schmerzhaften Tod sterben!“

Sabine traute ihren Augen kaum. Da stand tatsächlich eine Frau auf dem Scheiterhaufen. Und sie loderte wie eine Fackel, aber brachte es tatsächlich fertig, dabei abwechselnd lauthals zu lachen und immer wieder diesen Fluch auszustoßen. Um sie herum erbrachen sich die Menschen, kippten ohnmächtig nach hinten oder standen nur fassungslos da.

Und da, ganz plötzlich, von einem Augenblick auf den nächsten, verschwand die brennende Gestalt. Sie löste sich in Luft auf. In der einen Sekunde war sie noch auf den Scheiterhaufen gebunden, in der nächsten war sie weg. Auch das Feuer war aus. Noch nicht einmal das Holz glomm nach. So, als hätte dies alles nie stattgefunden. Das einzige, was Zeugnis von dem Vorfall ablegte, war das Echo ihrer Worte. Noch minutenlang tönte über ihren Köpfen der Satz: Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage!

Da konnte auch Sabine sich nicht mehr zurückhalten und erbrach sich zwischen ihre Füße. Es stank nach verbranntem Fleisch, verbrannten Kleidern und verbrannten Haaren.

Erst nach einiger Zeit hatte sie sich entleert. Ihr Hals schmerzte, er schien blutig zu sein. Konnte ein Mensch so viel erbrechen, dass es ihm die Kehle von innen aufriss? Zwischen ihren Schläfen hämmerte ein Schmerz, der jeder Beschreibung spottete. Aber sonst schien es ihr bestens zu gehen, zumindest im Anbetracht der Umstände.

Auch die anderen Menschen erholten sich langsam. Das Erbrechen ließ allmählich nach, und seit einigen Minuten war schon niemand mehr in Ohnmacht gefallen. Aber das Schweigen hielt noch an.

Der Kreis um sie war seit dem Verschwinden der Hexe noch größer geworden. Er hatte jetzt einen Durchmesser von bestimmt zwanzig Schritten und machte nicht den Anschein, mit dem Wachsen aufhören zu wollen. In seiner Mitte standen nur zwei Personen: die Frau und Sabine. Sie konnte von ihr nur den Rücken sehen.

Allmählich wurde das Schweigen abgelöst von leisem Murmeln. Sabine konnte sich vorstellen, was da getuschelt wurde. Und sie fühlte sich beobachtet. Doch das war ja auch gar kein Wunder, schließlich stand sie in der Mitte.

Jetzt begann die Frau vor ihr, sich zu bewegen, und augenblicklich verstummte das Murmeln. Alle Augenpaare richteten sich auf diese Person, und Sabine hatte mehr und mehr den Eindruck, auf der Anklagebank zu sitzen. Ach, könnte sie doch nur von hier verschwinden! Wäre sie noch hier, wenn sie es könnte? Wäre sie nicht schon längst verschwunden? Eben das war der springende Punkt: Ihre Beine wollten wieder einmal nicht so, wie sie sollten. Ihr ganzer Körper, ihre Muskeln, schienen nicht mehr ihr zu gehören. Sie blieb stehen, konnte sich nicht bewegen, konnte keinen einzigen Finger rühren. Und wollte weit weg sein.

Das Schweigen klingelte ihr in den Ohren, vor allem nach dem infernalischen Gekreische, als diese … diese Hexe lichterloh gebrannt hatte. Und nur einen Augenblick später war sie dann verschwunden.

Sabine ging ein Stück auf sie zu. Sie wollte nicht, aber ihre Beine machten, was sie wollten. Jetzt war sie bis auf Armeslänge bei ihr, konnte sie berühren. Doch dazu fehlte ihr das Verlangen. Warum sollte sie das tun?

Und da drehte sie sich langsam um. Sie bewegte sich so steif wie eine Mumie im Horrorfilm. Sie tat Sabine fast leid, aber wenn man bedachte, dass sie ja selbst dafür verantwortlich war, hielt es sich doch wieder in Grenzen. Die Hexe hätte ja nicht so eine gequirlte Kacke erzählen müssen! Es hatte sie keiner dazu gezwungen! Oh ja, es hätte so schön sein können. Sie hätte niemanden der Hexerei beschuldigt, niemand wäre auf dem Scheiterhaufen gelandet, und nie wäre jener Fluch ausgesprochen wurden. Jeder hätte fröhlich in den Tag hineinleben können. Aber nein, dieses Miststück von einem Weibsbild hatte sein Schandmaul einfach nicht halten können! Und wenn man es von dieser Seite aus betrachtete, hielt Sabines Mitleid wirklich nicht lange vor.

Einen Augenblick später hatte sie sich gänzlich umgedreht, und Sabine sah ihr in die Augen. Sie erschrak. Es waren die Augen einer Toten; nichtssagend blickten sie in die Menge, und es machte auch nicht den Anschein, dass sie sahen, was sie sahen. Ihr Unterkiefer mahlte in der Luft, als vertilge sie ein saftiges Steak. Und sie wippte mit den Füßen auf und nieder wie eine Geisteskranke.

Sie hob die Arme und ließ sie wieder kraftlos zu Boden sinken, hob sie noch einmal und ließ sie schließlich doch nur wieder fallen. Sie tat es apathisch, ohne zu merken, dass sie es tat. Als sie dann auch noch einen Schritt nach vorn tat, erhob sich lautes Stimmengemurmel, bei dem einem fast das Trommelfell riss.

Schließlich setzte sie sich in Bewegung und lief mit einem staksigen Mumiengang auf die Menge zu, an Sabine vorbei. Sie schien sie gar nicht wahrzunehmen. Sie lief an ihr vorbei, starrte nur geradeaus und kaute auf der Luft herum. Sabine sah ihr nach und empfand für einen kurzen Moment noch einmal so etwas wie Mitleid. Aber wirklich nur für einen Moment.

Die Frau lief weiter auf die Menge zu, und als sie sie erreichte, teilte sie sich vor ihr wie sich das Meer vor Moses geteilt hatte. Und als sie sie passiert hatte, schloss sie sich wieder hinter ihr. Und das war das Letzte, was Sabine von ihr sah.

Sie wollte hinter ihr her, doch auch diesmal verweigerten ihre Beine ihr den Dienst.

Und hier, genau an dieser Stelle, endete der Traum mit einem Filmriss. Eben noch war sie mitten im Geschehen, und jetzt war es schon wieder vorbei. Der Traum ging über in einen anderen, der nicht halb so spektakulär war. Und an den sie sich nach dem Aufwachen nicht einmal erinnern sollte.

An den anderen jedoch sollte sie sich erinnern.

Die Nacht auf dem Sofa war nicht halb so bequem gewesen wie im Bett. Sabine hatte einen steifen Hals und Rückenschmerzen. Aber sonst ging es ihr gut. Wenn nur dieser Traum nicht gewesen wäre! Er war so unheimlich. Vor allem, weil sie genau wusste, was da geschehen war. Was sich seit diesem Tag in ihrer Familie verändert hatte. Wie viel Leid seither geschehen war.

Aber letztlich war es nur ein Traum gewesen, oder? Nur ein Traum, weiter nichts … Mit einem Hintergrund, der zwar tatsächlich einmal stattgefunden hatte, der aber schon Jahrhunderte zurücklag. Aber dennoch … nur ein Traum.

Sabine rekelte und streckte sich. Kurz stach es in ihrem Rücken, aber dann war es schon vorbei. Wenn es so schnell vorbei war, konnte sie sich ja auch aufrichten. Zumindest sollte sie es versuchen.

„Aua!“, stöhnte sie, als ihre Kniegelenke protestierend knackten, „meine Fresse, ich glaube fast, ich werde langsam alt! Kann nicht mehr lange dauern und ich gehe am Stock!“

Sie machte dennoch weiter, ignorierte das Ziehen und Zerren in ihren Muskeln und hatte sich Augenblicke später aufgerichtet. Nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatte, stapfte sie in die Küche, setzte sich Kaffee auf, öffnete das Fenster und schnappte frische Luft, während der Kaffee durchlief.

Fünf Minuten später war sie wieder bei der Couch, trank Kaffee und kaute appetitlos auf einem Brötchen herum.

Auf dem Tisch vor ihr lag der Zettel mit den Notizen vom Standesamt. Die anderen alten Dokumente wollte sie nicht mehr ansehen. Sie hatte genug von Tod und Verderben. Die waren doch alle tot. Denen konnte sie nicht mehr helfen. Ihrem Bruder aber schon.

Auf dem Zettel war die Adresse eines Waisenhauses in der Schweiz. Dort konnte man ihr gewiss helfen. Es lag nur an ihr. Sie musste sich entscheiden: Wollte sie ihr Vorhaben beginnen, dann bräuchte sie nur dorthin zu fahren. Zog sie es aber vor, einfach ihr eigenes Leben weiter zu leben, musste sie die Adresse nur vernichten.

Sie brauchte nicht nachzudenken. Es war schon längst beschlossene Sache. Sie war es ihrem Vater und jetzt auch ihrem Bruder schuldig. Und wenn das hieß, dass sie dafür in die Schweiz musste, tja, dann würde sie eben in drei Teufels Namen dorthin fahren. Irgendwo musste sie ja schließlich anfangen! Und da war die Schweiz ebenso gut wie jeder andere Ort.

Der Zorn der Hexe

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