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4. Kapitel
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Drei Uhr früh. Sabine saß am Küchentisch, und um sie herum war alles hell erleuchtet. Vor ihr lag ein riesiger Stapel mit Schriftstücken, die sie aus dem Keller geholt hatte. Nur deshalb war sie noch einmal unten gewesen – und das auch nur so lange, bis sie so viel hatte, wie sie tragen konnte. Dann war sie wieder nach oben gegangen und hatte die Kellertür fest hinter sich verschlossen.
Sie war müde und zugleich hellwach. Eine seltsame Mischung, aber keineswegs unangenehm. Wie ein Junkie auf einem Trip. So richtig genießen konnte sie es jedoch nicht. Schließlich kam ein Großteil dieses Trips von dem, was auf den Blättern stand. Und das war der Grund, warum sie so putzmunter war. Wer konnte bei alledem denn bitteschön an Schlaf denken?
Ihre Frisur war eine Katastrophe, sie sah aus wie ein Waldschrat: ungekämmt, zauselig, zum Fürchten. Hätte sie in einen Spiegel geblickt, hätte sie sich nicht vor sich selbst erschreckt und einen Schreikrampf bekommen. Aber wer konnte bei so etwas schon Wert auf sein Äußeres legen? Und erst die Augenringe unter ihren müden Augen! Da hätte es schon einer ganzen Menge Make-up bedurft, um das zu korrigieren. Aber wer konnte bei so was schon ans Schminken denken?
Die Blätter lagen ausgebreitet vor ihr auf dem Küchentisch und sahen sie vorwurfsvoll an. Sie schienen sie regelrecht zu verspotten. Tja, sagten sie, ist dann wohl nichts mit lebe glücklich und zufrieden in den Tag hinein, was? An so was war aber auch wirklich nicht zu denken!
Sabine blickte missmutig zur Decke. Sie musste ihre Augen auf etwas anderes richten, sie taten ihr schon weh. Außerdem bekam sie langsam Kopfschmerzen. War ja auch kein Wunder. Seit Stunden starrte sie nun diese vermaledeiten Blätter an, klar, dass ihr Kopf allmählich in Wallung geriet. Mal was anderes zu sehen tat richtig gut. Ihr Gehirn schien sich langsam zu entspannen – zumindest sah sie jetzt nicht mehr ganz so viele schwarze Punkte.
Sie rieb sich noch einmal die müden, trockenen Augen und sah dann wieder auf die Blätter vor ihr. Diese vermaledeiten Blätter … Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Ihr Vater hatte sie ihr vorzuenthalten versucht und jetzt, im Nachhinein betrachtet, konnte sie verstehen, warum. Sicher, ohne das, was in ihnen stand, wäre sie blindlings hineingetappt in ihr Unglück. Wäre das aber wirklich so schlimm gewesen? War es jetzt so viel besser? Nein, ganz und gar nicht. Ach, hätte sie doch nur nicht so vehement darauf bestanden! Aber alles Jammern und Zeitschinden nützte nichts mehr; für einen Rückzieher war es zu spät.
Wütend ließ sie ihre Faust auf den Tisch knallen und zischte wie eine giftige Schlange. Aber auch das war nur die Tat einer Verzweifelten. Denn in Wirklichkeit war sie weder stark noch hatte sie eine Alternative. Und das alles nur wegen dieser verdammten Blätter! Die in der Schrift ihres Vaters beschrieben waren, und die ihr Leben und ihre Zukunft auf den Kopf stellten. Ach, hätte sie doch nur … Aber Jammern nützte jetzt nichts mehr. Sie wusste es. Und seither war nichts mehr wie früher.
Und nur wegen dieser verdammten Blätter.
Dabei beinhalten sie nur ein paar Daten, die schon weit zurück lagen, ein paar Namen, die ihr nichts bedeuteten und deren Besitzer schon seit Jahrhunderten tot waren. Außerdem eine kurze Beschreibung ihres Dahinscheidens. Eigentlich war das nichts, was sie direkt betraf, aber dennoch …
Die erste Aufzeichnung war datiert mit 1540, es war aber anzunehmen, dass andere noch um einiges weiter zurückreichten. Und da Sabine sich einfach irgendetwas gegriffen hatte, ging es querbeet durch die Jahrhunderte, ohne irgendeine chronologische Reihenfolge. Aber das war egal. Es war auch so schon erschreckend genug.
Hier war die Rede von einer Familie, der Mann und die Frau so um die dreißig, was für damalige Verhältnisse wohl schon ziemlich alt gewesen sein musste. Sie hatten sechs Kinder, zwei Mädchen und vier Jungen. Ihre Hütte brannte eines Nachts bis auf die Grundmauern nieder. Überlebt hatte es niemand; sie wurden alle im Schlaf vom Feuer überrascht.
Das war alles. Mehr stand dazu nicht. Sabine wusste jedoch, dass diese Familie zwar ausgelöscht worden war, dass aber dieser Mann oder diese Frau eine Schwester oder einen Bruder gehabt hatten, der den Familiennamen weitertragen konnte. Schließlich endete hier nicht der Stammbaum, sondern nur ein Zweig. Und das war etwas völlig anderes. Schließlich hatte die Hexe ja gesagt, sie verfluche jeden. Allerdings war klar, dass viele erst dann ein Opfer ihres Fluches werden konnten, wenn sie brav Nachkommen gezeugt hatten. Denn was hätte die Hexe sonst für einen Spaß gehabt, wenn sie den ganzen Stammbaum gefällt hätte? Nein, sie hatte es anders angestellt: Sie hatte stets nur einen Zweig abgebrochen, eine Nebenlinie ausgelöscht. So war sicher, dass die Familie fortbestand. Und genau das lag in ihrem Interesse. Sie wollte, dass die Enkel und Urenkel dieser Frau verflucht wurden, dass man Jahrhunderte später noch davon sprach und vor ihr erzitterte. Und das konnte sie nur erreichen, wenn sie immer nur kleine Zweig abbrach, nie jedoch den Stamm fällte.
Sabine musste sich dieses Blatt wohl schon an die hundert Mal durchgelesen haben, aber egal wie oft sie es tat, es war noch immer beängstigend. Endlich legte sie es beiseite, etwa so, wie man etwas Ekelhaftes, Abstoßendes beiseitelegt: Sie griff es nur mit den Fingerspitzen und schob es ein Stück weg. Sie wusste, dass sie es in spätestens zwanzig Minuten wieder in ihren Händen halten würde. Weil sie es dann wieder nicht glauben konnte und sich überzeugen musste. Aber momentan schob sie es weg. Und griff sich das nächste Blatt. Es war kleiner, enger beschrieben und obendrein mit Fettspritzern benetzt. Als hätte ein Student es beim Donut essen geschrieben – vielleicht waren es aber auch nur Pommes gewesen. Aber egal, wie es aussah: Die Schrift war noch lesbar. Und nur das zählte. Auch wenn sie es nach wie vor nicht lesen wollte.
Diesmal war von einer Frau die Rede. Gleich nach Erreichen ihres dreißigsten Lebensjahres fiel sie einer seltsamen Krankheit zu Opfer. Es begann damit, dass ihr rechter Fuß schwarz wurde, einfach so. Er entzündete sich, begann zu riechen und fiel schließlich ab. Aber damit noch nicht genug: Die Entzündung befiel auch ihr gesamtes rechtes Bein, mit dem gleichen schrecklichen Ergebnis. Und dann starb sie. Und das war zweifellos eine Erlösung.
Angewidert schüttelte Sabine den Kopf. Die Vorstellung, bei lebendigem Leibe langsam zu zerfallen … es war einfach zu grausam, um es sich vorstellen zu können. Was hatte diese arme Frau leiden müssen!
Aber damit war es noch nicht genug. Hier stand noch mehr.
„Verdammt, verdammt, verdammt, auf was habe ich mich da nur eingelassen?“
Sie fragte sich schon jetzt, was noch alles auf sie zukommen mochte – dabei war noch nicht einmal ein Bruchteil des Verhängnisses enthüllt.
Auf dem nächsten Blatt war von einer Frau die Rede, die ihre acht Jungen im Dreißigjährigen Krieg verlor, nur ihr jüngstes Kind, eine Tochter, blieb verschont. Ob ihr dieses Glück wohl auch hold geblieben wäre, wenn es ein Junge gewesen wäre?
Diesmal zerknüllte Sabine das Papier in ihrer Hand. Aber sie wusste schon jetzt, dass es vergebliche Mühe war: In spätestens einer Stunde würde sie genau dieses Blatt wieder in den Händen halten und ebenso fassungslos die paar Zeilen lesen – so wie sie es jetzt getan hatte und schon einige Male vorher. Sie war regelrecht in einem Teufelskreis gefangen, wie sie da ohne Unterlass Schriftstücke durchkaute und sich, wenn sie das Letzte durchgelesen hatte, wieder das erste vornahm. Und es dann genauso fassungslos verschlang wie vorher auch schon und das nächste Mal auch …
Das Papier war jetzt nur noch ein Ball mit Tälern und Schluchten und Bergen. Sabine warf ihn quer durch die Küche in eine Ecke. Sie bezweifelte, dass er lange dort liegen würde. Nein, wahrscheinlicher war, dass …
Stop, Stop, Stop, Sabine, reiß dich zusammen! Was würde Vater sagen, wenn er dich so dasitzen sehen könnte? Wäre er nicht enttäuscht? Wäre er nicht …?
„Schnauze! Er ist nun mal nicht hier! Und das ist die verdammte Schuld dieser Hexe!“
Du glaubst doch nicht wirklich, dass …?
„Was? Was soll ich nicht glauben?“
Dass an dieser Sache irgendwas dran ist! Das sind doch alles nur Hirngespinste! Nichts weiter!
„Und wie erklärst du dir dann, dass ausgerechnet in unserer Familie so viel geschrieben wurde? Das war doch bei anderen nicht so!“
Nun, einen möglichen Grund hat Vater dir doch schon gesagt: Ihr wart und seid nicht eben schlecht betucht. Da hat man viel Zeit zum Schreiben und Grübeln. Und noch ein Grund ist, dass der Verfolgungswahn in eurer Familie recht ausgeprägt sein muss …
„Was soll das denn nun wieder heißen?“
Dass eure Sippe ganz schön abergläubisch ist und scheinbar jeden Schwachsinn für bare Münze hält!
Von da an hatte Sabine keine Lust mehr, mit ihrer inneren Stimme zu diskutieren. Sie spie ein weiteres „Schnauze!“ in die leere Küche. Dann sah sie noch einmal auf das zerknüllte Stück Papier, das ein Stück neben ihr auf dem Boden lag – und griff sich ein neues.
Diesmal war es eines, das nicht ganz so weit zurückreichte. Es ging um eine Tante Margarethe, die mit ihrer Familie an der Jungfernfahrt der Titanic teilnahm. Die kleine Olivia, damals kaum sechs Jahre alt, war die einzige, die den Untergang des Schiffes überlebte. Die restlichen Mitglieder ihrer Familie folgten dem stolzen Dampfer in die dunklen Tiefen des Atlantiks.
Diesmal schauerte Sabine. Es ging zwar nicht so blutig zu wie in den Episoden zuvor, dafür war das aber noch gar nicht so lange her. Sie hatte davon in der Schule gehört, und nicht zuletzt hatte sie den Film mit Leonardo Di Caprio und Kate Winslet gesehen. Und das führte ihr das Ganze doch sehr real vor Augen. Jedenfalls viel realer, als es irgendeine Frau geschafft hatte, der vor dreihundert oder vierhundert Jahren der Körper bei lebendigem Leib verfaulte. Schon seltsam, ging es ihr durch den Kopf, wenn man selbst was damit verbindet, kommt es einem viel schrecklicher vor …
Sie schob das Blatt beiseite – und hatte auch schon das nächste gegriffen, obwohl sie es am liebsten nicht getan hätte. Ihretwegen konnte der ganze Scheiß ihr langsam gestohlen bleiben! Doch die angeborene Neugier in ihr war anderer Meinung. Sie steckte nämlich ihre Nase liebend gern in Neuigkeiten. Sie sog sie regelrecht auf, wie ein Schwamm.
1830 war es gewesen, stand da, da lag Europa im Würgegriff der Cholera. Trotz der Einnahme großer Dosen von Kalomel, einer Quecksilberverbindung, die man gewöhnlich als Abführmittel nutzte und sogar Rizinusöl, starb ein Großteil der Familie. Jedoch, und das musste man dazu sagen, fiel das zu dieser Zeit nicht auf, da die Menschen überall tot vor den Häusern und auf der Straße lagen. Ihre Lippen waren blau, und die wenigen, die noch nicht tot waren, zuckten unter Muskelkrämpfen. Es war ein Bericht, der weit in die Vergangenheit zurückreichte, und gewiss starben durch diese Krankheit Unzählige, aber weil es schon so weit zurücklag, kam es Sabine nicht halb so schrecklich vor wie der Untergang der Titanic.
Doch es ging noch weiter.
England, die Grafschaft Cornwall um 1703. Wieder einmal war ein Familienmitglied ausgewandert. Das war damals gang und gäbe; schließlich wollte man die Welt kennenlernen. Man hatte ja das nötige Kleingeld. Der Auswanderer hieß Henry Crifford. Er hatte seinen Familiennamen geändert; vielleicht glaubte er so, dem Fluch entkommen zu können. Nun, seine Rechnung ging nicht auf: Er, seine Frau und seine drei Kinder wurden Opfer eines Orkans, der in diesem Jahr über England hinwegtobte. Man kann es nur vermuten, aber da die Grafschaft als erste von der mächtigen Flutwelle heimgesucht wurde, mussten sie zu denen gehört haben, die in ihr den Tod fanden …
Sabine hatte nun wirklich genug. Sie wollte nicht mehr, und sie konnte auch nicht mehr. Aber ihre Neugier, ihre verdammte Neugier, die sie schon mehr als einmal in Teufels Küche gebracht hatte, machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Diese Neugier veranlasste sie nämlich, ein neues Blatt zur Hand zu nehmen.
Mitten in den Wirren des Ersten Weltkrieges. Millionen Soldaten lagen sich in den Schützengräben gegenüber. Aber es war nicht nur der Kriegsgegner, gegen den sie kämpfen mussten. Nein, auch die Grippe mischte ordentlich mit. Sie forderte mehr Menschenleben als das Giftgas und alle Maschinengewehre zusammen. Auch viele Zivilisten wurden Opfer des Influenzavirus. Und ganz besonders unsere Familie hatte darunter zu leiden. Sie kämpften nicht an der Front, dafür aber gegen die Grippe. Es war so verheerend, dass nicht mehr als fünf Angehörige unserer Familie überlebten. Unter ihnen mein Urgroßvater, Fritz Borger, den ich selbst noch kennen lernen durfte.
Diesen Satz hatte ihr Vater handschriftlich geschrieben, vielleicht weil er so persönlich war. Schließlich war es das erste Mal, dass jemand direkt mit seinem Namen genannt wurde und weil dieser Jemand einen Eindruck hinterlassen hatte.
Und da es so war, bewirkte es auch bei Sabine etwas. Bis jetzt hatte sie dagesessen und gelesen. Doch jetzt brach sie zusammen. Ihr Kopf war schwer geworden, und sie ließ ihn auf den Tisch fallen. Dann begann sie zu heulen. Jämmerlich und laut und schluchzend. Als wäre Fritz Borger ein Freund von ihr gewesen. Und er eben erst von ihr gegangen.
Nach ein paar Minuten hörte sie auf. Ihre Tränen waren versiegt, ihre Trauer jedoch keineswegs. Vielleicht war es aber nicht nur Trauer allein? Vielleicht lag es daran, dass dies hier immer groteskere Formen annahm und sie es längst nicht mehr kontrollieren konnte? Aber gab es jemals etwas zu kontrollieren? War das hier nicht immer schon gegen ihren Zugriff gefeit gewesen?
Jetzt hatte sie sich wieder etwas unter Kontrolle; als sie aber erneut auf die Blätter sah, wollte die Tränen erneut losbrechen. So viele grausige Schicksale, das konnte doch wirklich alles kein Zufall sein! Oder doch? Aber diese Frage konnte sie sich nur selbst beantworten. Und dazu musste sie weiterlesen. So schwer es ihr auch fiel.
Wieder eine Episode aus der jüngsten Vergangenheit.
Der 17. Februar 1962. Ein Nordwestorkan mit Windstärken zwischen zehn und zwölf treibt während der Nacht das Wasser der Elbe flussaufwärts. Hamburgs veraltete Deiche können den Wassermassen nichts entgegensetzen und brechen. Mehr als ein Fünftel des Stadtgebietes werden überschwemmt. Und es gibt Tote, viele Tote, die meisten werden im Schlaf überrascht. Wahrscheinlich schläft auch Vivienne, es ist ja mitten in der Nacht. Jedenfalls haben sie, ihr Mann und ihre drei Kinder keine Chance. Sie kommen in den Fluten ums Leben.
Das knabberte wirklich an ihr. 1962, das waren ja nur ein paar Jahre vor ihrer Geburt! Und bei dem Namen, Vivienne, klingelte etwas. War das nicht die Schwester ihres Vaters gewesen? Schon möglich. Sie sollte vier oder fünf Jahre älter gewesen sein. Es kam hin. Hatte ihr Vater nicht mal etwas Derartiges erwähnt? Das war wirklich interessant. Allerdings lag es schon weit in der Vergangenheit zurück, und selbst wenn ihr Vater mal etwas davon gesagt hatte, war sie da bestimmt noch ein kleines Kind gewesen und konnte sich nicht mehr daran erinnern. Schließlich hatte ihr Vater seit dem frühen Tod ihrer Mutter nicht mehr über die Familie geredet … Plötzlich kam ihr noch etwas in den Sinn. War ihre Mutter etwa auch ein Opfer des Fluches geworden? Sabine war noch ganz klein gewesen, als sie starb. Sie wusste nur das, was ihr Vater ihr darüber erzählt hatte. Und er hatte nur gesagt, sie sei sehr krank gewesen. Mehr hatte er dazu nicht verlauten lassen. Doch jetzt, da Sabine all diese grausamen Schicksale kannte und von dem Fluch wusste, sah sie den Tod ihrer Mutter in einem anderen Licht. Ihr alter Herr hatte ihr einen Großteil der Wahrheit verheimlicht! Ganz bestimmt hatte er das! Sie war gewiss nicht an einer Krankheit gestorben, oh nein, sie war ein Opfer des Fluches geworden …
Und Sabine hatte alle Zeit, den wahren Grund ihres frühen Todes zu erfahren – vorausgesetzt, ihr Vater hatte auch diesen Vorfall in seinen Notizen niedergelegt. Doch hier hegte Sabine Zweifel. Wer weiß, vielleicht war ihm das selbst zu schrecklich, als dass er es tun konnte? Vielleicht hatte er nie ganz Abschied von ihr genommen und sie nie schriftlich erwähnt? Vielleicht hatte er diese Endgültigkeit gescheut? Sabine konnte das gut nachempfinden. Sie hätte es wahrscheinlich ebenso gemacht. Sie hätte eine solche Tragödie nie in ihren Notizen aufgeführt – weil es zu endgültig war und sie Endgültigkeit scheute …
Aber alles Kopfzerbrechen half nichts: Entweder war das Schicksal ihrer Mutter in diesen Unterlagen aufgeführt oder nicht. Gewissheit würde sie nur bekommen, wenn sie noch einmal in den Keller ging und alle Schriftstücke heraufholte und durcharbeitete. Früher oder später würde sie das tun. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht ließ sie sie da unten, bis sie Schimmel ansetzten und zu Staub zerfielen. Das würde ihr sogar ziemlich gut in den Kram passen …
Aber zugleich machte sie sich wenig Hoffnung. Sie kannte sich: Sabine wäre nicht Sabine, wenn sie ihren Arsch nicht eben genau dorthin bewegen würde. Aber warum verschwendete sie jetzt ihre Gedanken an so etwas? So weit war sie noch gar nicht. Im Moment hatte sie hier oben doch wohl genug, um ihre Neugier zu befriedigen, oder? Hier lag noch ein ganzer Haufen Schriftstücke. Hier konnte sie ihre Neugier voll und ganz befriedigen. Und genau da lag der Hund begraben: Sie wollte nicht mehr. Anfangs hatte Sabine es für einen Streich ihres alten Herren gehalten, für einen gut durchdachten zwar, aber für einen Streich. Als er dann gestorben war, begann sie daran zu zweifeln, und jetzt, da sie die ganze Tragweite des Verhängnisses kannte, war sie sich sicher, dass es kein Streich gewesen war. Am liebsten hätte sie die Zeit zurückgedreht. Das hier war ihr ein wenig zu groß. Zu weitreichend, zu kolossal schrecklich, als dass sie damit zu tun haben wollte.
Dummerweise konnte sie sich das aber nicht aussuchen. Sie musste sich damit befassen, weil es sie selbst betraf, weil es in ihrem Interesse lag, darüber Bescheid zu wissen. Warum tat es das? Warum sollte es in ihrem Interesse liegen? Was konnte sie als einzelne Person schon leisten? Darauf hatte sie keine Antwort, aber bei den zwei Wörtern „einzeln“ und „Person“ klingelte etwas in ihrem Oberstübchen. Allerdings war es momentan noch zu schwach, um es entschlüsseln zu können. Aber vielleicht ja mit der Zeit. Wenn ihr Kopf weniger angefüllt war.
Sabine legte das Blatt beiseite und wollte gerade nach einem neuen greifen, als ihre Hand mitten im Vorwärtsstreben innehielt. Sie fror einfach in der Luft fest, als wäre sie auf eine unsichtbare Wand gestoßen. Sie konnte sie nicht mehr bewegen. Ob sie es nun nicht konnte oder nur nicht wollte, war ungewiss. Sicher war nur, dass sie dem Ganzen fasziniert zusah. Ihre Hand zitterte leicht, wie ein Blatt im Herbstwind. Und die kleinen blonden Härchen an ihrem Arm waren steil aufgerichtet. Und Sabine spürte eine Gänsehaut, die ihr den Rücken hinunterkroch.
Ein, zwei Sekunden später war es vorbei. Die Gänsehaut wich, und die Hand bewegte sich wieder in Richtung nächstes Blatt. Nur ihre Hand zitterte noch ein wenig. Das war das einzige, was auf das eben Geschehene hindeutete. Sonst war es so, als hätte es nie stattgefunden.
Sie griff das Blatt und zog es heran. Und da kroch ihr Entsetzen durch Mark und Bein: Auf dem Papier stand etwas, das sie nicht erwartet hatte. Da stand in großen Buchstaben: „Du bist die nächste.“
Doch in dieser Sekunde verschwand die Schrift, und alles war wieder beim Alten. Sie hatte es sich bestimmt nur eingebildet. Ihre Augen mussten ihr einen Streich gespielt haben. Denn nun war der Satz verschwunden, und sie sah nur wieder, was vorher auf dem Blatt gestanden hatte – eine Tragödie, die einem Mitglied ihrer Familie zugestoßen war.
Nun hatte sie endgültig genug. Sie wollte nichts mehr davon wissen. Es reichte. Das Maß war voll. Sabine warf das Blatt wie einen Frisbee von sich. Natürlich flog es nicht so gut wie eine Scheibe, aber es reichte, um es wegzukriegen. Und das wollte sie. Sie wollte es weghaben. Als wäre es ein bösartiges Geschwür. Und in gewisser Weise war es das ja auch.
Sie sah dem Blatt beim Davonsegeln zu, wie es sich so um seine eigene Achse drehte und sich mal hierhin und mal dorthin bog, als könne es keiner Fliege etwas zu Leide tun. Eigentlich konnte es das ja auch nicht, doch sein Inhalt hatte es in sich. Er war das, was sie fürchtete. Früher hatte sie einmal geglaubt, es gäbe nichts, wovor sie Angst haben musste. Doch diesbezüglich hatte sich ihre Meinung geändert. Sie wusste jetzt, dass es sehr viel gab, viel zu viel, um genau zu sein, wovor sie Angst haben musste. Und sie hatte Angst. Mehr Angst, als sie je gedacht hatte ausstehen zu müssen.
Oh ja, ihr Vater hatte recht damit behalten, wenn er gemeint hatte, sie würde dieses Wissen verfluchen. Jetzt, im Nachhinein, stimmte sie ihm zu. Doch nun war es zu spät. Es ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Wenn sie darüber nachdachte, wusste sie jedoch, dass Unwissenheit sie nicht geschützt hätte. Also, wozu sich noch darüber den Kopf zerbrechen? Weil es so einfach war, ihrem Vater die Schuld in die Schuhe zu schieben. Freilich konnte er nichts für den Fluch. Was das anging, war er so schuldig wie sie. Nein, sie machte ihn dafür verantwortlich, dass er ihr halbwegs geordnetes Leben durcheinandergewirbelt hatte. Konnte sie das denn überhaupt? Genauso konnte sie einen Mann dafür verantwortlich machen, dass sie nachts seinetwegen kein Auge zubekam, dass sie weiche Knie bekam, wenn sie ihn sah, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte wegen ihm. War das nicht genau das Gleiche? Einerseits ja, anderseits aber auch wiederum nicht …
Verdammt, Sabine, reiß dich zusammen! Es bringt nichts, einen Schuldigen für das Theater hier zu suchen! Die einzige, die wirklich Schuld hat, ist schon seit Jahrhunderten tot. Also lass deinen Vater endlich ruhen. Er hat bestimmt mehr für dich getan, als ihm möglich war. Er hat dir diese Sammlung hinterlassen, arbeite also damit! Mach sie dir zunutze!
„Was soll das denn nun wieder? Wie soll mir das denn bitteschön nutzen? Und, was noch viel wichtiger ist: Warum sollte ich es tun?“
Willst du denn gar nichts gegen diesen schrecklichen Fluch tun? Willst du, dass es Generation um Generation immer so weitergeht? Willst du …?
„Was? Was hast du eben gesagt?“
Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl. Sie hatte es schon vor ein paar Minuten gespürt; nur war es da nicht halb so stark gewesen. Vielleicht konnte sie ihm jetzt auf den Grund gehen. Vielleicht würde sie nun endlich erfahren, was es ihr sagen wollte. Es war auf jeden Fall etwas Wichtiges; sie hatte nämlich schon die ganze Zeit ein Gefühl im Bauch, als hätte ihr jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt.
Willst du wirklich, dass es bis zum Ende aller Tage so weitergeht?
Autsch, jetzt tat es richtig weh, als würden ihre Magenwände mit einem Presslufthammer bearbeitet.
Na schön, na schön, ich weiß, dass du mir was sagen willst! Schieß los, ich bin bereit! Beende aber bitte diese Schmerzen! Das ist ja nicht auszuhalten!
In Gedanken betete sie diesen Text herunter und hoffte inständig, dass die Schmerzen nachließen. Sie richtete dieses Flehen an sich selbst, denn sie wusste, dass nur sie selbst es beenden konnte. Und enden würde es nur dann, wenn sie endlich den Grund für diesen Schmerz erfuhr. Ihr blieb also gar nichts anderes übrig, als ihre grauen Zellen anzustrengen.
Na dann, wollen doch mal sehen, wie wir dem Ganzen auf den Grund gehen können.
Was, meine Beste, gab dir den Anstoß?
Hm, mal überlegen … Meine weibliche Intuition faselte etwas davon, dass sie etwas gegen den Fluch unternehmen wolle. Stimmt, das war es! Aber da war noch was … Etwas viel Wichtigeres. Nur was? Ah, jetzt hab ich’s!
Ja? Was denn?
Sie fragte, ob es noch Generation um Generation so weitergehen soll.
Na und?
Begreifst du denn nicht?
Nicht wirklich.
Doch da begriff sie es. Sie begriff plötzlich alles. Und es war so einfach. Es war wirklich so einfach.
Die ganze Sache mit dem Fluch machte nur dann einen Sinn, wenn sie ihn weiterführen würde. Nicht wahr? Ist doch so, oder etwa nicht? Und genau das war das Gute daran. Wenn sie nämlich so an sich heruntersah und sich ihre Vergangenheit zu Gemüte führte, musste sie zugeben, dass es keineswegs so aussah, als würde sie ihrerseits für Nachwuchs sorgen. Und das war nun wirklich sehr interessant. Denn das hieß ja, das …
Stop! Stop! Stop! Nur keine voreiligen Schlüsse!
Okay, okay. Einverstanden.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Und war das ein Wunder? Eben noch hörte sie von dieser schrecklichen Neuigkeit, und einen Wimpernschlag später schien es sich schon wieder in Wohlgefallen aufzulösen. Schließlich hatte sie kein Kind. Sie war nicht Mutter. Sie war einmal kurz davor gewesen, die Freuden der Mutterschaft zu genießen, doch sie hatte es bei einer Fehlgeburt verloren. Und dieser klitzekleine Punkt ließ das Ganze in einem völlig anderen Licht erscheinen. Wenn sie nämlich keine Mutter war (und das war sie zweifelsfrei nicht) konnte der Fluch auch nicht auf die nächste Generation überspringen.
Doch da wurde ihre Freude gedämpft. Hatte ihr Vater nicht behauptet, dass es schon vorgekommen sei, dass in ihrer Familie eine Frau ohne den dazugehörigen Mann schwanger geworden war? Ja, hatte er. Allerdings war das Kind nie geboren wurden. Es verbrannte mit der werdenden Mutter auf dem Scheiterhaufen.
Doch heutzutage wurden nicht mehr allzu viele Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und außerdem war dieser Aspekt auch irrelevant; ein Kind dieser Frau hatte die Familie ja schon vor längerer Zeit verlassen, damit sie fortbestehen konnte. Also war diese Schwangerschaft nichts als ein Trick dieser Hexe gewesen, damit die andere Hexe, die sich deine Vorfahrin schimpft, ebenfalls auf dem Scheiterhaufen grillen konnte. So wie sie das selbst ja auch gemusst hatte …
Wow, recht kompliziert das alles, aber Sabine begriff dennoch jedes Wort. So wie sich das anhörte, würde es mit ihr aufhören. Sie hatte sich zwar Kinder gewünscht, aber angesichts dieser Tatsachen konnte sie darauf verzichten. Sie ließ ihren Familiennamen lieber enden, als dass dieses Leid sich seinen Weg durch die Zukunft bahnen konnte. Es lag in ihrer Macht, es zu beenden. Und das würde sie tun, bei allen Göttern. Amen.
Doch schemenhaft und verschwommen erschien in ihren Gedankengängen ein anderer Satz. Er lautete: Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist? Und gleich im Anschluss ein weiterer: Wenn es das wäre, warum bist du dann die erste, die darauf gekommen ist? Glaubst du wirklich, die anderen waren alle Dorftrottel?
Der Einwand war berechtigt. So viele Generationen vor ihr. Das müssten ja dann alles ausgemachte Idioten gewesen sein. Oder wie ließ es sich sonst erklären, dass ausgerechnet sie diejenige sein sollte, die eine Lösung des Problems parat hatte? Nein, an der Sache musste einfach mehr dran sein … Aber wieso? Sie hatte die Lösung gefunden, und etwas anderes gab es nicht. Eigentlich war es ganz einfach: Wenn sie Zeit ihres Lebens kein Kind in die Welt setzte, müsste der Fluch mit ihr enden. So einfach war es, nicht mehr und nicht weniger. Beruhigend.
Am Anfang hatte sie noch mit dem Gedanken gespielt, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte so nicht weitermachen wollen. Aber das brauchte sie gar nicht. Sie konnte fröhlich ihr Leben leben, ohne Angst vor einem Morgen. Sie bräuchte nur darauf zu achten, nicht schwanger zu werden. Es war so einfach. Die ganze Sache war so lächerlich einfach, dass sie um ein Haar in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre. Das einzige, was sie davon abhielt, war ein Gedanke: Waren ihre Vorfahren wirklich so kurzsichtig gewesen? Konnten sie all die Jahrhunderte so blind gewesen sein? War das möglich?
Und dann ging ihr noch ein Gedanke durch den Kopf. Er kam so plötzlich, dass sie gar nicht mehr wusste, ob es nicht vielleicht auch an ihm lag, dass sie nicht in schallendes Gelächter ausbrach.
War sie von Anfang an belogen wurden? Zeit ihres Lebens? War sie vielleicht gar kein Einzelkind? Hatte sie Familienangehörige, von denen sie nichts wusste, einen Onkel oder eine Tante? Hatte sie vielleicht gar einen Bruder oder eine Schwester? Wie sie aus den Unterlagen entnommen hatte, war ihre Familie im Laufe der Zeit über den halben Erdball verstreut worden. Es hatte immer welche gegeben, die ihr Glück anderswo versuchten. So viel also zum Thema: alle nur hirnamputierte Idioten. Nun musste sie die Sache doch noch einmal überdenken. Wenn sie nämlich nicht der letzte Zweig ihres Stammbaums war, würde der Fluch keineswegs mit ihr enden. Ganz und gar nicht. Dann würde es immer so weitergehen …
Vielleicht wusste diese andere Person gar nichts von ihrem Schicksal. Vielleicht lebte sie fröhlich in den Tag hinein und ahnte nicht das Geringste. Dieser Gedanke ließ Sabine aufschrecken. Wenn es diese Person wirklich gab, durfte sie sie nicht blind in ihr Unglück tappen lassen.
Und da wurde ihr noch etwas klar: Es war gut möglich, dass es so war. Dass ihre Vermutung richtig war. Allerdings gab es nur einen Weg, die Wahrheit zu erfahren: Sie musste noch einmal in den Keller.