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3. Kapitel

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3. Kapitel

Seit drei Tagen war Sabine nicht mehr im Keller gewesen. Und in dieser Zeit hatte sie so wenig wie möglich an dort unten gedacht. Sie hatte noch nicht einmal einen Blick in die Schriftstücke geworfen. Sie hatte sie nur hinaufgebracht und dann irgendwo achtlos fallen gelassen. Wo sie wahrscheinlich auch heute noch lagen.

Die letzten drei Tage waren alles andere als produktiv gewesen. Und das passte ihr auch ziemlich gut so. Hatte sie allen Ernstes geglaubt, sie wolle dieses dunkle Geheimnis ergründen? Anfangs ja, aber nachdem sie aus dem Keller geflüchtet war, kamen ihr nicht nur Zweifel, sie fühlte sich von dem Schock, den die Begegnung mit dem düsteren Raum und den unzähligen Dokumenten ausgelöst hatte, ernüchtert. Jetzt war sie nicht mehr so begeistert. Vielmehr hatte nacktes Entsetzen sie gepackt, Grauen. Und das war selbst für ihre neugierige Ader zu viel.

Doch das war vor drei Tagen gewesen. Seitdem hatte sich manches verändert. Nun war sie wieder interessierter. Vielleicht lag es daran, dass sie Abstand gewonnen hatte. Vielleicht aber auch nur daran, dass ihre Neugier langsam doch wieder die Oberhand gewann. Aus welchen Gründen auch immer: Als sie heute Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, wusste sie mit einem Mal, dass sie etwas unternehmen musste, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie musste endlich wieder die Fäden in den Händen halten. Das war sie ihrem Vater schuldig. Er hatte ihr nicht beigebracht, die Hände in den Schoß zu legen, passiv zu leiden. Nein, hatte er nicht. Er hatte ihr einen gewissen Tatendrang eingebläut. Und eben dieser Tatendrang verlangte von ihr, aktiv zu werden. Ihr Vater hätte sich in seinem frischen Grab umgedreht, wenn er gewusst hätte, wie faul sie hier auf ihrem Hosenboden saß!

Sie griff sich also die alten Dokumente, die kreuz und quer im Haus herumlagen und ging mit ihnen in die Küche, in deren Mitte ein großer Arbeitsbereich war. Das war praktisch, denn die Küche war ein heller Raum, der noch dazu über jede Menge Lampen verfügte. Und das war nötig.

Sabine hätte es nie laut gesagt und sie hätte es sich auch nie eingestanden – aber sie hatte Angst. Sogar eine gehörige Portion davon. Sie hatte buchstäblich die Hosen gestrichen voll. Und da war es beruhigend, in einem Raum zu sitzen, der nicht nur groß war, sondern auch taghell. Mal sehen, vielleicht wirkte es ja, und ihre Angst hielt sich so in Grenzen. Gewünscht hätte sie es sich jedenfalls.

Das Papier fühlte sich eigenartig rau an, hart und grob, aber vielleicht waren ihre Finger auch nur zu empfindlich. Vielleicht saß ihre Angst so tief, dass sie sich vor jedem Wimpernschlag erschreckte? Das alte Blatt zitterte in ihren Händen wie Espenlaub. Das war jedoch nicht verwunderlich, denn ihren Händen erging es kaum anders. Bei denen war es sogar noch schlimmer.

Im ersten Augenblick sah sie verständnislos auf das Blatt, ohne überhaupt etwas zu sehen. Dann aber formten sich schemenhaft die ersten Buchstaben. Lesen konnte sie es trotzdem nicht – als wäre der Text vor ihr in einer fremden Sprache geschrieben, die sie weder lesen noch verstehen konnte.

Auch nach einer weiteren Minute konnte sie es nicht lesen.

Und nach einer weiteren auch nicht.

Sie saß nur da, hielt das Blatt in der Hand und starrte darauf. Allmählich begann sie an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Hatte sie etwa zu lesen verlernt? Es konnte eigentlich gar nicht anders sein. Warum hätte ihr Vater diese Texte in einer anderen Sprache verfassen sollen? Nein, das hatte er nicht. Sie konnte es nur nicht lesen, und das war beängstigend. Lesen war doch etwas Natürliches, Selbstverständliches, etwas, ohne das man gar nicht mehr auskam in dieser Welt. Und doch, sie schien es verlernt zu haben. So merkwürdig es auch klingen mochte: Sie schien es tatsächlich verlernt zu haben.

Mittlerweile war eine weitere Minute vergangen, in der sie verständnislos das Blatt angestarrt hatte. Falls sie noch Zweifel hatte, nun hätten sie eigentlich beseitigt sein müssen. Das Blatt vor ihr war von oben bis unten beschrieben. Doch sie begriff den Text nicht. Sie begriff ihn einfach nicht.

Eine weitere Minute verstrich.

Und dann noch eine.

An den Buchstaben konnte es nicht liegen, die lagen direkt vor ihr. Und da begriff sie es endlich: Es war gar nicht der Text, den sie nicht begriff, sondern der Inhalt. Denn nun konnte sie den Text lesen, und damit kam ihr die Erkenntnis. Es war einzig und allein der Inhalt, der sich ihrem Verständnis entzog. Der Inhalt mit all seinen unschönen Einzelheiten. Ihn konnte und wollte sie nicht begreifen. Ihr Gehirn sträubte sich dagegen, das Gelesene zu verarbeiten, es zu etwas Verständlichem zu machen. Es beließ es lieber so, wie es war, als ein Kauderwelsch, den Sabine zwar lesen konnte, den sie aber nicht verstand.

Da stellte Sabine sich endlich die Frage: War sie bereit? War sie wirklich dazu bereit?

„Ja, natürlich, verdammt noch mal! Warum sitze ich sonst hier? Warum bin ich sonst in diesen Keller gegangen?“

Es gab niemandem, an den sie die Fragen richtete. Es war vielmehr so, dass sie die Worte unbedingt sagen musste. Sie musste sie mit ihren eigenen Ohren hören, weil sie dann anders klangen. Oh ja, verdammt, sie war bereit dazu. Und wie. Bereiter ging es schon gar nicht mehr. Ihr Herr Vater wäre stolz auf sie gewesen!

Und da das nun geklärt war, verstand sie auch endlich den Text.

Sabine saß lange da, las immer und immer wieder die paar Blätter und hatte dabei ihren Unterkiefer bis fast an die Brust heruntergeklappt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und ihre Mundwinkel flatterten wie die Flügel eines Kolibris. Doch sonst war sie ruhig. Sie zitterte nicht, und ihr lief auch kein Schweiß über die Stirn. Sie war so ruhig, wie man nur sein konnte, als säße sie entspannt auf dem Sofa, eine Tüte Chips in der Hand. Nichts und gleichzeitig alles deutete darauf hin, dass etwas Merkwürdiges, vielleicht Angsteinflößendes auf diesen Blättern stand.

Geschlagene zwei Stunden saß sie so da und bewegte sich so gut wie nicht. Nur ab und an nahm sie ein Blatt, und wenn sie mit ihm durch war und sie es wer weiß wie oft gelesen hatte, nahm sie ein anderes – so lange, bis sie mit allen durch war und dann wieder von vorn begann. Das waren so ziemlich die einzigen Bewegungen, und dazu natürlich noch das Heben und Senken ihres Brustkorbs. Aber sonst saß sie nur bewegungslos da und schüttelte nicht einmal den Kopf, wenn sie etwas nicht glauben konnte. Und das kam mehr als einmal vor.

Irgendwann gab sie sich dann einen Ruck und ging in den Keller hinunter.

Der Zorn der Hexe

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