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7. Kapitel

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7. Kapitel

Sabine erwachte gegen zehn. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte – sie glaubte, knapp zehn Stunden. Sie fühlte sich jedoch, als könne sie gleich noch einmal so lange schlafen. Und ihre Blase erst, die war zum Bersten gefüllt!

Sie stand mühsam auf, ging sich erleichtern und wollte sich Kaffee aufsetzen. Doch als sie die Küche betrat, lag bereits ein Duft von gebrühtem Kaffee in der Luft. Als sei nichts von alledem geschehen. Als wäre ihr Vater vor ihr aufgestanden und hätte ihn schon aufgesetzt … So war das nämlich immer: Wenn sie endlich aufstand, duftete es schon nach frisch gebrühtem Kaffee.

In der Kanne war tatsächlich Kaffee, dieses köstliche, schwarze Getränk, und einen Augenblick lang glaubte sie tatsächlich, sie hätte die letzten Tage nur geträumt. Alles war nur ein Traum gewesen, gleich würde ihr alter Herr in die Küche kommen, ein „Guten Morgen“ grummeln, sich den Kopf kratzen, wie er es immer tat und sie beide gemeinsam frühstücken.

Doch dann begriff sie, dass es leider nicht so war. Der Kaffee war nur der, den sie selbst sich gekocht hatte, bevor sie eingeschlafen war. Und das hieß leider auch: Es war leider kein Traum gewesen, sondern die bittere Wirklichkeit.

Sie schaltete das Radio an und hörte noch den letzten Refrain von Bon Jovis „It´s my Life“. Meins ist echt beschissen, dachte sie und wollte es schon wieder ausmachen, als die Moderatorin sagte, welcher Tag heute war und wieviel Uhr. Die Uhrzeit bekam sie schon nicht mehr mit. Dazu war sie zu überrascht. Heute war der einundzwanzigste, und nach ihrer Rechnung war gestern doch erst der neunzehnte gewesen? Tja, da hatte man ihr doch tatsächlich einen ganzen Tag geklaut! So was machte man doch nicht, das war wirklich rotzfrech!

Während sie das noch dachte, kam ihr in den Sinn, dass es nicht stimmen konnte. Tage konnte man sich nicht klauen lassen, egal wie schusselig man war. Und da es nun einmal nicht möglich war, blieb nur eines: Sie hatte einen ganzen Tag verschlafen. Sie hatte doch tatsächlich einen ganzen beschissenen Tag verpennt! Meine Herren, das nenne ich aber mal erfolgreich an der Matratze gelauscht!

War das möglich? Konnte sie wirklich so lange geschlafen haben? Na ja, wenn man bedachte, dass sie vorher drei Tage durchgemacht hatte, war es möglich. Schwer vorstellbar, das gebe ich zu, aber möglich.

Sie kratzte sich den Kopf, wie ihr Vater es getan hatte, gähnte und konnte nicht anders: Sie begann zu lachen. Es war so komisch, obwohl eigentlich überhaupt nichts komisch war. Sie lachte und lachte und war zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig gut drauf. Schlaf war eben doch die beste Medizin!

Da stand sie nun, um einen Tag gealtert, um einen bestohlen und wusste nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Der lange Schlaf hatte ihr zwar gut getan, sie hatte sich erholt. Aber er hatte auch ihren Kopf leergefegt; sie wusste rein gar nichts mehr. Blieb nur zu hoffen, dass sich das wieder ändern würde …

Wie wäre es mit Frühstück? Hm, ein guter Plan.

Sie schüttete den uralten Kaffee in den Ausguss und setzte sich neuen auf. Kaffee war wichtig. Was zum Kauen eher zweitrangig.

Eine knappe Stunde später war sie fertig. Sie hatte sich gestärkt und konnte endlich mit etwas Nützlichem beginnen.

Inzwischen sah die Welt anders aus. Ihr Kopf war nicht mehr ganz so leer. Sie konnte sich endlich Gedanken machen, wie das hier weitergehen sollte. Wie sie herauskriegen konnte, ob ihr Vater wirklich noch lebende Verwandte hatte. Denn dieses Geheimnis galt es nun zu ergründen, das hatte oberste Priorität. Es war sogar noch wichtiger als der vermaledeite Fluch und die Opfer, die er bis jetzt gefordert hatte. Sie waren schon tot, aber dieser Verwandte, wenn es ihn gab, war es noch nicht. Er erfreute sich noch seines Lebens, wusste wahrscheinlich nicht einmal, was ihm blühte und war unvorbereitet. Sabine aber wusste davon, und sie musste dieses Wissen weitergeben. Sie konnte es nicht verheimlichen.

Sie war in ihren Gedankengängen schon so weit gekommen, dass es am besten sein würde, im Geburtenregister der Stadt nachzusehen. Sie wusste, ihr Vater war hier geboren, und so standen die Chancen bestimmt gut, dass ein eventueller Verwandter auch hier geboren war. Es war zumindest anzunehmen. Und irgendwo musste sie ja schließlich anfangen, nicht wahr? Wenn sie nur Zuhause rumsaß, würde sie niemanden retten.

Ihr Plan war also schon ausgereift. Nun, das war doch schon mal was! Sie wusste nur nicht, ob sie die Unterlagen einsehen durfte. Aber das war bestimmt der Fall. Schließlich standen da ja keine Staatsgeheimnisse drin, sondern nur Angaben über ihre Familie. Außerdem wollte sie ja nicht die ganze Stadt auskundschaften.

Sabine trank den letzten Schluck Kaffee, stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, wusch sich, zog sich an und machte sich auf den Weg ins Standesamt.

Kräftig schüttelte Sabine den Schirm aus, denn den hatte sie gebraucht. Es hatte so stark zu regnen begonnen, dass es einem Inferno gleichkam. Als sie vom Anwesen losgefahren war, hatte es leicht zu tröpfeln begonnen. Aber es war schnell kräftiger geworden, und jetzt regnete es so stark, dass sie für die paar Schritte vom Auto zum Standesamt einen Schirm brauchte, um nicht bis auf die Knochen durchzuweichen. Sie hatte nur mit Schrittgeschwindigkeit fahren können, weil die Straßen unter Wasser standen.

Hier drinnen war es überraschend kühl, doch vielleicht war nur der Regen schuld daran, dass es ihr so vorkam. Wenigstens war es trocken.

Eigentlich hatte Sabine geschäftiges Treiben erwartet. Oder zumindest etwas, das darauf hindeutete, dass hier gearbeitet wurde. Aber hier war tote Hose, wie sie überrascht feststellte. Entweder wurde hier aus Prinzip nicht gearbeitet und es war der ruhigste Posten der Welt, oder aber sie war einfach nur zur Mittagszeit aufgekreuzt. Mal schauen, woran es lag!

Langsam ging sie zu der Informationstheke, hinter der eine gertenschlanke, uralte Frau saß, die sie schon die ganze Zeit missmutig über ihre dicke Hornbrille hinweg beobachtet hatte. Als sie die alte Hexe da so sitzen sah, fröstelte sie gleich noch ein wenig mehr. Schau sie dir nur an, wisperte es in ihr, wenn das keine Hexe ist, fresse ich einen Besen! Und dafür brauche ich noch nicht mal Salz, den krieg ich nämlich so runter. Die ist doch für euren verdammten Scheißfamilienfluch verantwortlich, das steht ihr doch buchstäblich ins Gesicht geschrieben! Und dann, weil es so schön war, fügte sie noch hinzu: Sieh sie dir doch nur mal an!

Und Sabine sah sie sich tatsächlich genau an – jedoch nicht, ohne sich nicht zu fragen, ob sie vielleicht ein paar Tage ausspannen sollte. Wenn es nämlich schon so weit war, dass sie jede alte Frau für eine Hexe hielt, war es dafür wirklich höchste Zeit.

Die gute Frau hinter der Infotheke sah aber auch wirklich … Nun ist es aber genug!

„Einen wunderschönen guten Tag. Ich hätte da mal eine Frage.“

„Fragen Sie! Fragen Sie!“

Trotz des ersten Eindruckes schien die Alte ein freundliches Persönchen zu sein. Sie schwang sich jedenfalls auf keinen Besen und flog kreischend von dannen. Sabine, reiß dich gefälligst zusammen! Sie ist keine Hexe, okay? Deine Nerven liegen einfach nur blank. Du bist erschöpft, überspannt, gereizt …

Ja, ja, schon gut, ab jetzt halte ich den Ball flach, ich verspreche es!

Fein, aber kann ich mich darauf auch verlassen?

Ja, verdammt!

„Mein … mein Vater ist letzte Woche leider gestorben.“

„Oh, das tut mir wirklich sehr leid, mein Kind.“

„Es war … ein Herzinfarkt. Es ging aber sehr schnell. Er musste nicht lange leiden.“

„Das freut mich für ihn.“

Warum, zum Geier, erzählst du ihr das? Glaubst du tatsächlich, sie interessiert sich dafür? Nein, das glaubte sie nicht. Aber sie wusste einfach nicht, wie sie die richtigen Worte finden sollte. Und ehe Schweigen zwischen ihnen lag, redete sie lieber. Schließlich wollte sie die Frau bei der Stange halten. Doch während sie das dachte, hatte sie ein paar Sekunden geschwiegen.

„Nun sagen Sie schon, mein Kind: Was kann ich für Sie tun?“

„Ich … ich möchte ihn nächste Woche beerdigen, und ich weiß, dass er sich gewünscht hätte, dass die ganze Familie da endlich mal wieder beisammen ist. Doch genau da gibt es ein Problem. Unsere Familie ist nämlich in alle Himmelsrichtungen verstreut, und dementsprechend schwer ist es, sie alle zu informieren.“ Das war natürlich schlichtweg gelogen. Ihr Vater war längst beerdigt, aber das musste die Frau nicht wissen.

„Ich verstehe.“ An dem Kommentar war nicht zu erkennen, was sie davon hielt.

„Und genau dabei bräuchte ich Ihre Hilfe.“

„Was kann ich denn da für Sie tun?“

„Nun, ich würde gerne wissen, ob es so etwas wie ein Geburtenregister gibt. Und ob ich da wohl einen Blick hineinwerfen könnte?“

„Im Prinzip spricht nichts dagegen. Sie müssen sich nur ausweisen und natürlich die Geburtsurkunde Ihres Vaters vorlegen. Dann steht dem eigentlich nichts im Wege.“

Was denn? So einfach ging das? Sabine war überrascht. Sie hatte nicht gewusst, dass es so einfach ging. Sie hat mit Schwierigkeiten gerechnet und dass man ihren Wunsch abwehren würde. Dass es so schnell und fast unbürokratisch funktionieren sollte, daran hatte sie in ihren wildesten Träumen nicht glauben wollen. Ihren Ausweis hatte sie ohnehin immer bei sich, und sogar die Geburtsurkunde ihres Vaters hatte sie vorausschauend mit eingepackt.

„Das ist wirklich sehr lieb von Ihnen. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.“

„Nun übertreiben Sie aber, mein Kind! Es ist Ihr Bürgerrecht, Einsicht in familiäre Akten zu erhalten. Es gibt natürlich Standesämter, bei denen das nicht so schnell möglich ist. Aber bei uns ist es das. Soll ich Ihnen verraten, wieso?“

„Ja, bitte …“

Sabine war noch immer so überrascht, dass sie lammfromm war. In diesem Zustand konnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun.

„Ganz einfach: In anderen Standesämtern ist es üblich, die Geburten, wie auch die Sterbedaten, nach Jahren einzutragen.“

Anscheinend guckte Sabine ratlos, denn die Alte fuhr gleich fort, es ihr zu erklären: „Jeder Ordner beinhaltet normalerweise die Daten der Sterbenden und der Lebenden, und zwar für ein ganzes Jahr: vom ersten Januar null Uhr bis zum einunddreißigsten Dezember dreiundzwanzig Uhr neunundfünfzig. Und, wenn Sie so wollen, neunundfünfzig Sekunden. Aber bei uns ist das nicht der Fall. Wir tun noch ein klein wenig mehr. Wir haben eine Abteilung, die das genauso macht, aber dann noch eine, die es für die einzelnen Familien tut. Und deshalb können wir Ihnen so einfach Einblick gewähren. Sie sehen nur die Daten ihrer Familie, und so bleibt der Datenschutz gewährt.“

„Interessant.“

Das war es wirklich. Den Bruchteil einer Sekunde lang merkte sie, dass es nicht nur interessant war, nein, mehr als das: Es war phänomenal, zumindest, was ihr Anliegen anging. So konnte sie nämlich beliebig die Zeit zurückblättern bis … ja, bis wann eigentlich?

„Eine Frage hätte ich aber noch.“

„Nur zu. Ich sitze einzig und allein hier, um Fragen zu beantworten.“

Wieder musste Sabine einen ersten Eindruck revidieren. Sie hatte diese Frau, noch ehe sie ein Wort mit ihr gewechselt hatte, nur nach ihrem Aussehen beurteilt, und das hatte sich als völlig ungerecht herausgestellt. Sie war weder eine Hexe noch für ihren, Sabines, Familienfluch verantwortlich. Ganz im Gegenteil: Sie war eine wahre Rarität, sie gehörte nämlich zum Schlag jener Menschen, die hilfsbereit waren und freundlich. Damit gehörte sie einer aussterbenden Rasse an.

„Seit wann ist das hier schon so?“

„Sie meinen, seit wann wir hier diese Eintragungen vornehmen?“

„Ja. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich ein bisschen umständlich daherkomme. Der Tod meines Vaters steckt mir doch noch sehr in den Knochen …“

„Das verstehe ich sehr gut, mein Kind. Sie müssen sich dafür nicht entschuldigen. Um ihre Frage zu beantworten: Seit 1951 wird jede Geburt und jeder Sterbefall notiert. Davor war es ein wenig schwieriger; gerade im Zweiten Weltkrieg war es fast unmöglich. Da sind die Unterlagen sehr bruchstückhaft. In den Jahren zwischen den Kriegen ist es wieder etwas besser. Aber natürlich lange nicht befriedigend.“

„Und seit wann werden diese Eintragungen vorgenommen?“

„Begonnen wurde damit um 1920, wobei ich dazu sagen muss, dass erst seit den fünfziger Jahren wirklich jeder aufgeführt ist.“

„Haben Sie vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.“

„Gern geschehen, mein Kind.“

Seltsam, diese völlig fremde Frau sagte nun schon zum wievielten Male mein Kind? Und Sabine schraubte sich dabei nicht wütend durch die Decke? Wozu auch. Sie war diejenige, die etwas von ihr wollte, da musste man schon ein bisschen freundlich sein. Und außerdem: Sie war schließlich nur eine Fremde. Da wollte sie nicht gleich vor Wut platzen.

„Haben Sie denn nun die Geburtsurkunde Ihres Herrn Vaters und Ihren Ausweis dabei, bitte?“

„Ach so, ja! Das habe ich doch ganz vergessen! Wie dumm von mir! Ich habe alles da. Warten Sie einen Moment, ich suche sie nur schnell in meiner Handtasche.“

Sie kramte darin herum, förderte eine Packung Tictac und einen Zehnerstreifen Wrigley´s hervor – und schließlich auch die nötigen Unterlagen.

„So, da haben wir sie ja!“

Die Frau studierte alles über ihre Hornbrille hinweg. Wozu brauchte sie das Ding eigentlich? Sie schien doch bestens sehen zu können!

„Hm“, blubberte sie vor sich hin.

„Was? Was ist denn?“

Sabine war in Sorge. Bis eben hatte alles so gut geklappt. Sollte doch noch etwas schiefgehen?

„Wie ich gerade sehe, wurde Ihr Herr Vater 1938 geboren.“

„Und?“ Sie kam sich vor wie auf glühenden Kohlen.

„Nun, wie ich Ihnen bereits mitteilte, könnte es sein, dass Ihr Vater gar nicht aufgeführt ist.“

„Ich verstehe.“

Doch eigentlich verstand sie gar nichts.

Die Alte schien das zu spüren, denn sie erklärte: „Wie ich ihnen bereits mitteilte, können die Aufzeichnungen in dieser Zeit etwas … nun ja, lückenhaft sein.“

„Selbstverständlich.“

Als hätte sie es gewusst. Aber so war Sabine schon immer gewesen: Sie ließ sich höchst ungern belehren. Sie kam sich dann immer dumm und unwissend vor. Diesmal hielt es sich jedoch in Grenzen; sie konnte ihre Unkonzentriertheit immer noch auf den Tod ihres Vaters schieben.

„Einen kleinen Moment noch. Ich klingele kurz durch. Es ist möglich, dass die zuständige Mitarbeiterin heute woanders tätig ist oder vielleicht sogar frei hat.“

„Tun Sie das bitte.“

Keine drei Minuten später betrat Sabine den Fahrstuhl, der sie in den vierten Stock bringen sollte. Die zuständige Mitarbeiterin war anwesend, und sie hatte auch ein paar Minuten Zeit für Sabine. Mehr brauchte sie nicht. Sie sollte ja nur die Unterlagen ihrer Familie heraussuchen, ihr geben, und damit war ihre Aufgabe auch schon erledigt.

Die Frau, die sie erwartete, war nicht halb so alt wie die an der Rezeption. Und sie war auch, was Freundlichkeit und Zuvorkommen anging, eher zugeknöpft. Fast wirkte sie ein wenig grimmig. Aber, was soll’s? Sabine wollte sie ja nicht zur Freundin haben. Sie wollte von ihr nur den Ordner über ihre Familie kriegen, und dann konnte sie ihr gestohlen bleiben …

Sie nahm in einem Kämmerlein Platz, in dem es kühl war, fast noch kühler als auf der Straße. Der Regen prasselte gegen das Fenster und wirkte einschläfernd. Aber um sich zu entspannen, war sie viel zu aufgeregt. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals. Und in diesem stillen Kämmerlein klang das so laut, als wolle es explodieren. In der Mitte des Raums stand ein kleiner Schreibtisch mit einer Schreiblampe und einem Stuhl. Sie knipste sie an, denn sie wollte in dem Schummerlicht nicht müde werden und vielleicht noch einschlafen.

Der Raum war spärlich eingerichtet, nur der Stuhl in der Mitte, eine Gardine vor dem Fenster und ein paar Stadtansichten an den Wänden. Aber das war Sabine so gleichgültig wie der Missmut der Beamtin. Sie stand noch einmal auf, legte den Mantel ab, hängte ihn an den Haken, setzte sich wieder, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, bis die Frau zurückkam.

Vielleicht war Sabine kurz weggedämmert, vielleicht war sie auch nur kurz in Gedanken woanders gewesen, jedenfalls stand die unfreundliche Frau plötzlich vor ihr wie aus dem Nichts und blickte missmutig zu ihr herab. Unter ihrem rechten Arm hielt sie einen schwarzen Ordner geklemmt, der nicht sehr dick war, allenfalls zwanzig Seiten mochte er haben. Aha, dachte Sabine, da drin ist also alles verzeichnet. Viel ist es ja nicht.

Die Frau legte die Akte mit mürrischem Gesicht auf den Tisch, und wenn Sabine sich nicht täuschte, grummelte sie dabei leise vor sich hin. Was stimmte mit ihr nicht? Hatte Sabine ihr irgendetwas getan? Außer ihr Arbeit zu beschaffen und ihre Ruhe zu stören? Doch dann besann sie sich. Es war nicht wert, dass sie sich darüber den Kopf zerbrach. Sie hatte andere Aufgaben.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

Das klang freundlich, aber das Mienenspiel ihres Gesichts und ihre Augen verrieten, dass sie es keineswegs so meinte. Dieses Miststück wünschte wohl jedem die Pest an den Hals, was?

„Nein, danke. Ich hab alles, was ich brauche. Vielen Dank.“

„Gut. Wenn Sie mich brauchen, ich bin nebenan.“

Das sagte ihr Mund, doch der Rest ihres Körpers sagte: Wenn sie was brauchen, lassen sie mich bloß in Ruhe!

Sabine ließ sich von dem eigenartigen Unmut nicht ins Bockshorn jagen. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und säuselte süß: „Haben Sie nochmals vielen Dank“

Das Luder zog nur die Augenbrauen empor, machte kehrt und verließ den Raum. Sabine weinte ihr keine Träne nach. In ihrer Studentenzeit hatte sie für Weiber solchen Schlages nur einen Satz übrig gehabt: Die gehört mal wieder so richtig durchgefickt. Aber diese Zeiten lagen weit zurück, und seitdem hatte sich vieles verändert. Auch sie selbst.

Doch der Satz brachte noch etwas zurück in ihre Erinnerung, etwas, von dem sie meinte, es eigentlich längst überwunden zu haben. Der Drang nämlich, eine Zigarette zu rauchen. Als Studentin hatte sie die Dinger gefressen, und wenn sie erkältet gewesen war, hatte sie eben Mentholzigaretten geraucht. Hauptsache, es qualmte und stank. Wenn es das tat, war sie zufrieden.

Für diese Erinnerungen war sie der Frau böse, richtig böse. Ein Glück, dass sie erst dann überkommen hatten, als sie den Raum verlassen hatte! Vielleicht war es auch nur der Stress der letzten Tage, der ihr Fell dünner hatte werden lassen. Jedenfalls war sie froh, endlich allein zu sein.

Der Regen pladderte an das Fenster. Unter anderen Umständen und wenn noch im Kamin ein schönes Feuerchen gebrannt hätte, hätte es fast romantisch sein können. Doch das war es nicht. Und ihr stand auch nicht der Sinn nach Romantik.

Sabine schloss kurz die Augen, versuchte, ihren Kopf von derartigen sinnlosen Gedanken freizubekommenen, öffnete sie wieder und konzentrierte sich endlich auf ihr Anliegen.

Der Ordner lag vor ihr, in einem schlichtem Grün, das die Stadt wahrscheinlich zu Hunderten geordert hatte. Dennoch kam er ihr ein wenig so vor, als sei er der Heilige Gral und verspräche ihr das Ewige Leben. Nun, den Kopf freizukriegen, schien ihr noch immer nicht ganz gelungen zu sein …

Aber sie konnte nicht Ewigkeiten hier hocken bleiben und die Zeit vertrödeln, sie musste endlich den Arsch hochkriegen, den verdammten Ordner aufklappen und lesen, was in ihm stand! Konnte es tatsächlich sein, dass sie, trotz aller Mühen, die endgültige Gewissheit scheute? War das möglich?

Und da hatte sie ihn aufgeschlagen. Siehst du, Sabine, war doch gar nicht so schwer, was?

Das erste Blatt beinhaltete nur die Adresse und konnte somit getrost überblättert werden. Aber dann wurde es interessant. Und schmerzhaft.

In den Papieren stand etwas, an das sie lieber nicht hatte denken wollen. Sie blätterte von einer Seite zur nächsten, und dann plötzlich sah sie es. Und obwohl es ihre eigene Familiengeschichte war, war sie so überrascht, dass es ihr Tränen in die Augen trieb. Sie hatte es vermieden, alle die Namen zu lesen, die in allen diesen Zeiten geboren und wieder gegangen waren. Doch bei einem Namen war das anders. Obwohl sie ihn nicht gelesen hatte, blieb ihr Blick an ihm haften. Es war der Name ihrer Mutter. Als sie ihn sah, wurde ihr klar, dass sie darauf nicht vorbereitet gewesen war. In keinster Weise.

Der Name ihrer Mutter war Jennifer. Und da sie jetzt auch noch ihren Geburtsnamen las, wusste sie endlich, dass ihre Mutter eine Nachfahrin der Hexe war. Sie war es, die den Fluch weitergegeben hatte. Bislang hatte sie immer geglaubt, ihr Vater sei es gewesen. Doch das war ein Irrtum. Ihr Vater hatte bei der Hochzeit den Namen seiner Braut angenommen: Jennifer Harms, stand da, und dann das Geburtsdatum, der 27. Juli 1949.

Sie war also mehr als zehn Jahre jünger gewesen als ihr Mann, Sabines Vater. Der Todestag trieb ihr weitere Tränen in die Augen: 12. August 1972. Gerade einmal zwei Monate nach Sabines Geburt. Hatte ihr Vater nicht gesagt, sie sei plötzlich schwer krank geworden? War es nicht eher so, dass sie dem Fluch zum Opfer gefallen war?

Halt! Halt! Halt! Wir wollen doch keine voreiligen Schlüsse ziehen!, protestierte es energisch in ihrem Inneren. Dass es so gewesen ist, ist gar nicht sicher! Ebenso kann es stimmen, was dein Vater gesagt hat! Außerdem: Du bist nicht wegen deiner Mutter hier! Also reiß dich gefälligst zusammen und blättere endlich weiter!

Na also, geht doch.

Sabine blätterte schweren Herzens weiter. Und fand auf der nächsten Seite das, wonach sie gesucht hatte. Da stand er nämlich, der Name ihres Vaters. Und während sie ihn sah, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie bis eben den Geburtsnamen ihres Vaters nicht gekannt hatte. Sie hatte fälschlicherweise angenommen, ihr Vater sei es gewesen, der den Fluch weitergegeben hatte.

Patrick Harms, geborener Hauser, stand da. He, einen Moment mal bitte, ja? Wenn es nicht ihr Vater war, war es ja eigentlich völlig egal, ob er einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte, oder? Dann sollte ich vielleicht mal bei meiner Mom nachsehen. Und tatsächlich: Jetzt, wo ihr der Gedanke gekommen war, sah sie, dass bei ihrem Vater nichts weiter stand. Doch das war auch nicht weiter verwunderlich; er war ja nur angeheiratet. Wollte man mehr über ihn wissen, musste man die Chronik seiner Familie, der Familie Hauser, aufschlagen.

Sie blätterte wieder eine Seite zurück. Wenigstens war sie jetzt vorbereitet und wurde von dem, was da stand, nicht ganz so arg durchgewirbelt. Am 27. Juli 1949 war sie also geboren. Seltsamerweise hatte Sabine auch das bis eben nicht gewusst. Ihr Todestag war der 12. August 1972. Sie war noch jung gewesen, als sie hatte sterben müssen, gerade einmal dreiundzwanzig, das war kein Alter …

Sie las das Blatt bis zum Ende und las es dann noch einmal und dann noch einmal und schließlich sogar noch einmal.

Doch eine Antwort auf ihre Frage fand sie auch hier nicht. Sie musste woanders suchen. In der Familienchronik war sie schon richtig, aber da sie nach einer Schwester oder einem Bruder ihrer Mutter suchte, musste sie weiterblättern. Dann fand sie sie vielleicht auf einem anderen Blatt.

Sabine pflügte durch den Ordner, als gälte es, so viele Seiten wie nur möglich herauszureißen. Doch selbst dazu war sie zu aufgeregt. Sie zog und zerrte nur an ihnen, während sie hastig umblätterte.

Und dann hatte sie etwas gefunden. Aber es war ganz und gar nicht das, wonach sie gesucht hatte. Ihre Mutter schien ein Einzelkind gewesen zu sein. Absolut nichts deutete darauf hin, dass sie noch einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte. Aus den Unterlagen war ersichtlich, dass ihre Eltern, also Sabines Großeltern, nur ein Kind gehabten hatten. Nämlich Jennifer.

Da hatte Sabine schon aufgeben wollen. Doch sie blätterte noch einmal durch den ganzen Ordner, und endlich entdeckte sie die Wahrheit, die sie übersehen hatte. Bis jetzt hatte sie immer schnell geblättert, und da sie sich dabei auch noch auf die Daten ihrer Mutter konzentriert hatte, hatte sie das wirklich Interessante übersehen. Aber jetzt brannte es sich in ihre Augen. Sie starrte das Blatt an und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Auf diesem Dokument stand, dass sie, Sabine, einen Bruder hatte. Ihre Mutter war ein Einzelkind gewesen, zumindest deutete nichts auf etwas anderes hin. Aber sie selbst war es nicht. Sabine hatte einen Bruder. Und wie sie den Daten entnehmen konnte, war er knapp zwei Jahre älter als sie selbst.

Ihren Zustand mit einem Schock zu beschreiben wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie schlotterte am ganzen Leib und konnte einfach nicht glauben, was sie las. Sie, Sabine, sollte einen Bruder haben? Sie sollte tatsächlich einen Bruder haben?

An das, was dann geschah, konnte sie sich später nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie kramte mit zittrigen Händen in ihrer Handtasche nach einem Stift und einem Stück Papier, schrieb den Namen und das, was sonst noch über ihn stand, hastig ab mit Kritzelschrift, stand auf (wobei der Stuhl quietschend über den Boden rutschte) und stürmte aus dem Raum.

Draußen, auf dem Korridor, schien sie regelrecht zu schweben. Sie schwebte wie eine Feder im Wind auf den Fahrstuhl zu, und dann stand sie plötzlich wieder an der Rezeption, wo die freundliche alte Dame ihr etwas zurief, was sie nicht verstand. Sie hob wie zum Abschied die Hand, und dann war sie auch schon draußen, vor der Tür.

Der Regen musste noch zugenommen haben, denn er schmetterte die Tropfen mit brachialer Gewalt in ihr Gesicht. Der Wind hätte sie fast umgeworfen. Ja, einen Moment war sie drauf und dran, das Gleichgewicht zu verlieren, zu stürzen. Sie schwankte wie ein betrunkener Seemann auf Landgang.

Doch dann war sie plötzlich an ihrem Auto und saß schon darin. Alles kam ihr vor wie ein Traum. Die Zeit schien wie im Zeitraffer zu laufen: Eben noch war sie dort gewesen, und gleich darauf schon wieder anderswo, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Einen Moment dachte sie, sie müsste gleich schreien und im nächsten, sie müsste sich totlachen. Endlich fragte sie sich, warum sie eigentlich so durch den Wind war. Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Zugegeben: Das, was sie gefunden hatte, wich von dem, was sie gesucht hatte, ganz schön ab. Aber, verdammt noch mal, wichtig war nur, dass sie eine Spur hatte. Es hätte auch ganz anders kommen können. Dann wäre sie genauso schlau gewesen wie vorher. Wäre das wirklich so toll gewesen?

Doch sich selbst solche Dinge zu fragen, war in etwa so, als versuche sie, einer Türklinke die Relativitätstheorie zu erklären. Sie begriff einfach nichts und dachte noch weniger. Ihr Kopf war wie leergepustet, wie ein Kürbis, dem man zu Halloween das Fleisch herausgeschabt hat und der nur noch eine Maske ist.

So vieles hatte sich verändert. Sie war kein Einzelkind mehr, sie hatte jetzt einen Bruder. Einen älteren Bruder. Sie hatte …

Sie hatte eine Aufgabe, verdammt noch mal. Eben weil sie einen Bruder hatte.

Nervös huschte ihre Hand in die Handtasche. Einen Moment glaubte sie, den Zettel verloren zu haben. Doch er war noch darin. Er raschelte zwischen ihren Fingern.

Der Regen prasselte gegen die Scheiben und auf das Dach, und hier drinnen klang es, als feuerte ein Maschinengewehr. Es platschte und knatterte. Allmählich beschlugen die Scheiben. Sabine konnte schon jetzt kaum noch etwas sehen.

Sie startete den Motor, schaltete die Klimaanlage an und blieb noch ein paar Minuten stehen. Der Motor brummte im Leerlauf, und mit der Zeit wurden die Scheiben frei. Trotzdem fuhr sie noch nicht los. Sie musste erst einen freien Kopf bekommen.

Der Zorn der Hexe

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