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1. Kapitel

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1. Kapitel

Es war ein Wunder, dass Sabine keine schweren Verletzungen erlitt, als sie mit ihrem Pferd stürzte. Das Glück schien diesmal auf ihrer Seite zu sein. Leider konnte man das bei dem Pferd nicht behaupten: Es musste eingeschläfert werden. Seine Knochen waren gleich an mehreren Stellen gebrochen und drei Rippen zersplittert. Es tat ihr zwar im Herzen weh, doch es war bestimmt das Beste für das arme Tier. Doch als es dann schließlich so weit war, konnte sie den Anblick nicht ertragen und flüchtete aus dem Stall. Sabine hatte sehr an dem edlen Tier gehangen und ihr war, als ginge ein guter Freund für immer von ihr.

Sie hastete durch den nahen Wald, der die nördliche Grenze des Grundstücks bildete und ließ seinen kühlen Schatten schnell hinter sich. Sie rannte und rannte, vorbei an Wiesen und Feldern, bis sie das Meer erreichte.

Die Küste war an dieser Stelle nichts als eine Felswand, die steil ins Meer stürzte. An ihrem steinigen Fuß brachen sich die Wellen, und an ihrem Scheitelpunkt blies steifer Nordwind. Alles in allem nicht unbedingt ein gemütlicher Ort. Es gab noch nicht einmal einen Weg, auf dem man zwischen den mannshohen Gesteinsbrocken gefahrlos hätte gehen können. Dennoch liebte sie diese Stelle. Hierher verirrte sich kaum eine Menschenseele und wenn doch, nahm sie angesichts der rauen Umgebung schnell wieder Reißaus. Hier war das letzte Fleckchen Erde, das Sabine für sich allein haben konnte. Immer, wenn sie etwas plagte, etwas verunsicherte, sie sich ängstigte oder sie einfach nur in Ruhe nachdenken wollte, ging sie hierher und lauschte dem Rauschen des Windes und dem Toben der Brandung.

Sabine kannte den Platz seit ihrer Kindheit. Seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal mit ihrem Vater hier gewesen war, hatte der Ort nichts von seinem Reiz verloren. Die Ruhe, das Pfeifen des Windes, das Kreischen der Möwen, all das war ihr ans Herz gewachsen. Und sie wollte keinen dieser Momente missen. Wie oft hatten sie hier oben gesessen, ihr alter Herr und sie, hatten aufs Meer hinausgesehen und hinter den Schiffen her, bis sie am Horizont verschwanden? Wie oft? Sie wusste es nicht. Es mussten unzählige Male gewesen sein. Manchmal hatten sie einfach nur geschwiegen und die raue Schönheit in sich aufgesogen.

Sabine konnte sich noch gut an den Moment erinnern, da sie den Vater gefragt hatte, wohin all die Schiffe verschwanden, wenn sie nicht mehr zu sehen waren. Sie hatte tatsächlich geglaubt, sie versänken im Ozean. Der Vater fuhr ihr liebevoll mit der Hand über den Zopf; das tat er immer, wenn er ihr etwas erklären wollte. Es war seine Art, nach Worten zu suchen. Er musste ihr oft etwas erklären, denn Sabine war ein neugieriges Kind. So erfuhr sie, dass die Erde eine Kugel war und die Schiffe keineswegs im Meer versanken, sondern einfach nicht mehr zu sehen waren, weil sich zwischen sie und das Schiff die Krümmung der Erdoberfläche schob.

„Du musst es dir ungefähr so vorstellen“, hatte er gesagt, „wenn du am Fuß eines Berges stehst, kannst du auch nicht über ihn hinweg auf die andere Seite sehen. Und genauso ist es mit den Schiffen: Die Erde, in diesem Fall das Wasser, ist im Weg.“

Sie hatte den Vater angesehen und gelächelt. Und er wusste, sie hatte verstanden. Egal, wie umständlich er sich auch manchmal ausdrückte, irgendwann konnte sie seinen Gedankengängen folgen.

Ihre Mutter war früh gestorben. Sabine konnte sich kaum noch an sie erinnern. Doch sie musste schön gewesen sein. Überall im Haus standen Fotos von ihr, in jedem Zimmer. Auch an den Wänden hingen Fotos, und immer, wenn Sabine eines der Bilder betrachtete, stellte sie fest, dass sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sie hätten Zwillingsschwestern sein können, nur dass die eine eben schon ein paar Jährchen älter war.

Sie hatte den Vater einmal auf den Grund ihres frühen Todes angesprochen, doch er hatte nur gesagt, sie sei sehr krank geworden und irgendwann einmal würde sie alles darüber erfahren. Irgendwann, eines Tages, wenn die Zeit reif war. Durch seine Augen war dabei etwas gehuscht, das wie Angst aussah. Danach hatte er das Thema gewechselt, und das war das Zeichen gewesen, dass darüber genug geredet worden war.

Wenn die Sonne im Meer versank, war es am schönsten. Ihr glutrotes Licht verwandelte alles in ein Farbkonzert, und es schien, als explodiere sie in einem gigantischen roten Ball. Der beständige Wellengang gab dem Ganzen zugleich eine gespenstische Atmosphäre. Je höher die Wellen schlugen, umso farbenprächtiger und eindrucksvoller war das Spektakel.

Jetzt aber war es noch nicht Abend. Noch lange nicht. Allerhöchstens früher Vormittag, und das Meer breitete sich ruhig unter ihr aus, was für diesen Landstrich ungewöhnlich war. Sie sah weit aufs offene Wasser hinaus. Ihr war heiß; Schweiß rann an ihr herunter, und ihr Herz raste in der Brust.

Sabine war eine schöne junge Frau, Mitte zwanzig, gesund und wohlhabend. Ihre weiblichen Rundungen waren genau dort, wo sie hingehörten, und ihr langes blondes Haar strahlte wie die Sonne. Sie zog die Blicke der Männer reihenweise auf sich. Doch leider war es bisher erst zweien gelungen, ihr Herz zu erobern. Der erste (es war wohl mehr eine Art Jugendliebe, schließlich war sie erst sechzehn und er einundzwanzig) hatte ihre Liebe nicht verdient, wie sie inzwischen dachte. Es schien ihm Spaß zu machen, sie hinter ihrem Rücken im Akkord zu betrügen. Als sie ihn endlich durchschaute, war die Enttäuschung tief. Sie durchschnitt das zarte Band, das ihre Liebe gewesen war, und sie schwur sich, nie wieder einen Mann so nahe an sich heranzulassen.

Es dauerte vier Jahre, bis sie ihre Einstellung überdachte, und dann kam der zweite. Er war das Gegenteil seines Vorgängers. Schnell erwies er sich als Mann ihrer Träume. Bedauerlicherweise war auch diesmal das Schicksal anderer Meinung. Es ließ ihn in einer Kurve die Kontrolle über sein Motorrad verlieren. Dabei war sie nicht einmal besonders gefährlich, vielmehr langgezogen und übersichtlich. Er soll nicht lange gelitten haben, hatte man ihr später gesagt, es musste schnell gegangen sein.

Das mochte vielleicht auf ihn zutreffen, dachte sie, als sie seine Identität bezeugte, doch keinesfalls auf sie. Sie war überzeugt davon, nie wieder den Anblick seines leblosen Körpers vergessen zu können. Zwar hatte er, wie er es ihr hoch und heilig versprochen hatte, einen Helm getragen, aber von Motorradhandschuhen hielt er nicht viel. Seine Leiche war in einem guten Zustand, wenn man davon absah, dass sein Genick gleich an mehreren Stellen gebrochen war. Doch das war innerlich, und er war so aufgebahrt worden, dass man als Laie kaum etwas davon sah. Was man jedoch sah, war der Zustand seiner Hände – oder vielmehr das, was von ihnen übrig war. Sie waren nämlich noch nicht bandagiert worden – und dafür verfluchte Sabine denjenigen, der es versäumt hatte.

Später, als sie wieder daheim war und ein Weinkrampf nach dem anderen sie schüttelte, wurde ihr klar, was für den schrecklichen Anblick verantwortlich war. Schon die blanke Vorstellung reichte aus, dass ihr übel wurde. Sie musste sich erbrechen.

Sabine sah den grauenvollen Moment des Unfalls immer wieder vor sich, sah ihn mit seinen Augen. Episoden aus dem Schreckenskabinett. Voller Panik wollte sie ihm helfen, ihn festhalten. Doch es war vergeblich. Sie hatte nicht die geringste Chance.

Durch das Visier des Helms sieht sie die Straße vor sich liegen. Sie ist trocken und eben. Ein kurzer Blick auf das Tachometer und sie weiß, dass sie fast hundertdreißig Stundenkilometer schnell ist. Plötzlich taucht die Kurve vor ihr auf, eng, tückisch. Sie schreit seinen Namen, will mit aller Kraft an der Bremse ziehen; dabei ist ihr, als rissen die Muskeln ihres rechten Armes – dabei erreicht sie nur, dass sie unbeirrt weiterfährt.

Wie ein Rennfahrer legt sie sich in die Kurve, tief und schräg. Wie oft hat sie das als Sozius schon erlebt. Wie oft hat sie das Adrenalin gespürt und ist einfach nur glücklich gewesen, glücklich über das Gefühl der Freiheit und glücklich, bei ihm zu sein.

Bis jetzt ist noch alles in Ordnung. Doch das Unvermeidliche ist nicht aufzuhalten. Das ist es nie. Es würde, musste geschehen, weil es ja schon geschehen war. Plötzlich hat sie das Gefühl zu fliegen; ihre Innereien tun einen Satz nach oben. Das Hinterrad beginnt zu schlingern und rutscht schließlich gänzlich weg. Und auf einmal ist da der Asphalt, direkt vor ihren Augen. Sie reißt entsetzt die Hände hoch.

Und da beginnt der Alptraum.

Da sie mit mehr als hundert Sachen fährt und die Geschwindigkeit nur langsam abnimmt, während sie wie ein Puck über den Asphalt schlittert wie über einen gefrorenen See, muss sie mit ansehen, wie der Belag ihrer Hände (seine Hände) wie eine grob gezahnte Raspel für ein weiches Holz Stück ist. Die Haut und das darunterliegende Fleisch werden bis auf die Knochen Millimeter um Millimeter heruntergescheuert. Sie hört die Schmerzensschreie mit ihren eigenen Ohren. Er leidet vielleicht nicht lange, dafür aber entsetzlich.

Dann, als der Begrenzungspfosten endlich sein Genick bricht, ist es eine Erlösung für beide.

All das geisterte durch ihre Erinnerung, während sie auf der Klippe stand. Es riss die Wunde, die noch nicht einmal zur Hälfte verheilt war, wieder auf – und diesmal sogar um einiges tiefer. Sechs Jahre war es jetzt her, und allmählich hatte sie geglaubt, mit dem Verlust leben zu können. Kurz nach seinem Tod gab es eine Zeit, in der sie fast wieder glücklich war. Damals hatte der Arzt ihr eine Schwangerschaft bescheinigt. Sie war darüber außer sich; auf diese Weise würde wenigstens etwas von ihm weiterleben! Dass sie ein Kind von ihm erwartete, half ihr, mit der Trauer umzugehen. Mit der Zeit begann sie sogar wieder zu lächeln.

Doch auch jetzt wollte das Schicksal ein Wörtchen mitreden. Eines nachts, der Vater des Ungeborenen war nun seit sechs Monaten unter der Erde, erwachte Sabine mit kolikartigen Schmerzen im Unterleib; es war, als ob sie einen großen, schweren, kalten Stein in sich trug. Die Schmerzen kamen und gingen wie Wehen, und ihre erste Vermutung war, dass sie kurz vor der Entbindung stand. Das war durchaus plausibel; vielleicht hatte dieses Kind es ja besonders eilig, die Welt hier draußen kennenzulernen? Wenn es nur halb so neugierig war wie seine Mutter, war das sogar wahrscheinlich.

So laut es ihr unter den Schmerzen möglich war, schrie sie nach ihrem Vater, der eine Etage über ihr schlief. Sie war mittlerweile so benebelt, dass sie davon überzeugt war, er würde sie nie und nimmer hören. Doch es dauerte keine zehn Sekunden, und er stürmte mit sorgenvoller Miene in ihr Zimmer.

„Es geht … es geht …“

Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Doch es reichte aus. Der Vater verstand.

Das nächste, woran sie sich später erinnerte, war das Innere eines Krankenwagens. Es war hell darin und blendete ihre Augen, als blicke sie direkt in die Sonne. Dennoch nahm sie ihre Umgebung nur bruchstückhaft wahr. So viele Ampullen, so viele Verbände! Und die Sirene. Allerdings drang diese nur verschwommen in ihr Bewusstsein …

Die Wehen wurden stärker und stärker, und sie bäumte sich auf der Trage unter Schmerzen. Die Bewegung ließ neue Schmerzen in ihrem Unterleib entstehen. Wie ein Kreislauf aus Schmerz. Schmerz gebar neuen Schmerz.

In diesem Moment spürte sie, wie etwas Spitzes in ihre Armbeuge piekste. Fast augenblicklich verebbte der Schmerz.

Wieder Dunkelheit.

Wieder Stille.

Als Sabine erwachte, lag sie in einem Krankenbett. Der Vater saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett und wimmerte. Sein Blick war zu Boden gerichtet, doch sie brauchte seine Tränen nicht zu sehen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist mit …?“ Ihre Stimme klang schwach und tonlos.

Dem Vater zersprang vor Kummer fast das Herz in der Brust. Nur langsam schaute er auf, als scheue er ihrem Blick.

„Was ist passiert? Was ist mit meinem Kind passiert?“

Er rang damit, nicht die Beherrschung zu verlieren. Seine Hände zitterten wie die eines Drogensüchtigen, der unbedingt einen neuen Schuss braucht, und sein Gesicht war bleich wie die Wand. Sein Körper verkrampfte sich, als er endlich antwortete.

„Die … die Ärzte sagen, es geht dir bald besser. In ein paar Tagen kannst du das Krankenhaus verlassen. Sie wollen nur noch ein paar Tests machen. Alles Routine, kein Grund zur Sorge.“

Seine Augen waren ausdruckslos, schwarz wie Höhleneingänge.

„Daddy“, sie hatte Mühe, ihre Stimme nicht zu erheben. Sie schaffte es, nach Aufbietung ihrer gesamten Kraft, ruhig und gefasst zu klingen. „Was ist passiert? Sag mir, was mit meinem Kind passiert ist!“

Ihre Augen bohrten sich in seine. Ihr Blick war wie ein Dolch, der in seine Netzhaut stach und schmerzte wie Feuer. Lange würde er ihm nicht standhalten können. Er konnte ihr nicht ausweichen. Ihre Augen, ihre Körperhaltung sprach eine nur zu deutliche Sprache. Sie schien bereits zu wissen, was geschehen war und wartete nur noch darauf, dass er es bestätigte.

Seine Hand suchte ihre. Sie war eiskalt, aber gleichzeitig nassgeschwitzt. Sie drückte ihre heftig.

„Habe ich mein Baby verloren?“

Der Vater war wie versteinert. Die ganze Zeit über hatte er nach Worten gesucht, falls es die überhaupt gab, hatte verzweifelt versucht, drumherum zu reden, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, ihre Konzentration auf anderes zu richten. Hatte er auch nur einen Augenblick geglaubt, sein Plan könne aufgehen?

Sabine wartete zwei Sekunden und fragte noch einmal.

„Habe ich mein Baby verloren? Sag es mir! Bitte! Wenn es so ist“, sie musste schlucken, denn die Endgültigkeit, die in dem Satz mitschwang, ließ fast ihre Stimme versagen, „wenn es so ist, will ich es aus deinem Mund hören und nicht von einem wildfremden Arzt, der mich mit trostlosen Augen anstarrt und dabei Mitleid heuchelt. Das könnte ich nicht verkraften. Jetzt nicht, und auch später nicht. Nie! Hörst du, nie! Also sage es mir bitte!“

„Es … es … es … es hatte einen Herzfehler.“

„Ist mein Baby gestorben?“

Ihre Stimme war jetzt gar keine Stimme mehr, nur noch ein Krächzen und Fiepen.

„Sie sagen, es ging so schnell, dass sie nichts gespürt hat.“

Da war er wieder, dieser Satz: Es ging so schnell. Wie sehr sie ihn hasste! Gab es einen abartigeren Satz in der menschlichen Sprache? Nein, nie und nimmer!

„Oh nein, nein, nein! Das stimmt nicht! Das kann nicht stimmen! Du erlaubst dir einen makabren Scherz, oder? Es stimmt nicht, nicht wahr? Sag mir, dass es nicht wahr ist! Sofort! Sie war doch noch nicht einmal geboren, wie soll sie da schon gestorben sein? Es ist nicht wahr! Es darf einfach nicht wahr sein!“

Mit diesen Worten fiel sie zurück in ihre Kissen.

Es schmerzte ihn, seine Tochter so leiden sehen zu müssen. Es tat ihm in der Seele weh. Aber er musste ihr die Wahrheit sagen. Er musste es tun, damit sie irgendwann loslassen und trauern konnte. Er wusste, wie wichtig Trauer war – erst recht, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat. Er wusste, dass er das Richtige getan hatte – und doch hasste er sich in diesem Moment dafür. Er wusste, dass dieses Gefühl ihn nun eine Weile nicht mehr loslassen würde.

„Es ist wahr, leider.“

Nun konnte auch der Vater seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie klammerten sich aneinander, schmiegten sich in die Arme des anderen und versuchten, einander ein wenig Trost zu spenden.

„Ich wollte doch noch so viel mit ihr unternehmen“, brachte sie stöhnend heraus, „sogar einen Namen hatte ich schon für sie: Sarah Gil!“

„Sarah Gil“, wiederholte der Vater. „Davon hast du mir gar nichts gesagt. Ein schöner Name. Bedeutet er etwas?“

„Ich weiß nicht. Aber er klingt nach etwas Besonderem, und weil mein Kind etwas Besonderes für mich ist, wollte ich ihm einen besonderen Namen geben.“

„Das verstehe ich.“

Sie saßen wortlos einander gegenüber. Jeder kämpfte mit Trauer und Wut. Irgendwie mussten sie beide damit fertig werden, dass der Tod schon wieder in ihr Leben gedrungen war, er schon wieder etwas unendliches Wertvolles zerstört hatte.

„Sabine, ich muss dir etwas über unsere Familie erzählen. Etwas, das schlimm und schrecklich ist, das aber mit der Zeit zu einem Teil von uns wurde. Wir, das heißt, du und ich …“

„Daddy, würde es dir etwas ausmachen, mich allein zu lassen? Ich brauche Zeit für mich. Sei mir bitte nicht böse. Ich will einfach allein sein. Bitte fahr jetzt nach Hause. Und mach dir um mich keine Sorgen, ich komme schon klar.“

„Bist du sicher?“

„Ja, das bin ich.“

„Kann ich dich morgen sehen?“

„Ich ruf dich an, wenn du wieder kommen kannst. Ja? Geh jetzt bitte. Und sei mir nicht böse.“

Sie dachte jetzt zurück an jenes Gespräch, während sie auf den Klippen stand und auf das weite, dunkle Meer sah. Inzwischen wehte ein schwacher Wind, der ihr Haar ausgelassen tanzen ließ.

Weit draußen am Horizont verschwand gemächlich ein Schiff. Ein gespenstischer Anblick; man mochte wirklich glauben, es würde langsam in die Tiefe gezogen.

Sabine fröstelte. Das Wetter hatte merklich umgeschlagen, doch das geschah in diesen Breiten öfter. Aus dem Sonnenschein war raueres Wetter geworden. Die Sonne versteckte sich hinter einer Armee von Wolken, und auch der Wind wurde stürmischer.

Ihr Vater hatte ihr an diesem Tag etwas Wichtiges sagen wollen, und seine Miene dabei hatte ihr keineswegs gefallen, hatte ihr sogar Angst gemacht. Die Falten in seinem Gesicht schienen plötzlich tiefer und zerfurchter, seine Augen blitzten dunkel, und seine Mundwinkel zitterten, als weigerten sie sich, etwas Dunkles preiszugeben.

Sie hatte an diesem Tag nichts davon wissen wollen; zu tief saß der Schock über den Tod ihrer ungeborenen Tochter. Träume und Pläne waren durch einen einzigen Satz zerstört worden. Doch es gab noch etwas, was sie sogar noch mehr schmerzte als ihr plötzlicher Tod. Es war die Frage, ob sie es hätte verhindern können. Hatte es irgendwelche Anzeichen dafür gegeben? Hatte das Baby vielleicht einmal besonders heftig getreten? Und hatte es seine Mutter dadurch auf sich aufmerksam machen wollen? Hatte es ihr sagen wollen: He, Mama, hier drinnen stimmt etwas nicht? Und wenn ja, warum hatte sie es nicht bemerkt? War sie am Ende für seinen Tod verantwortlich?

All das ließ sie an diesem Tag und viele weitere Tage nicht zur Ruhe kommen. Schließlich tat sie das einzige, was ihr in diesem Moment einfiel: Sie bat um Freiraum, um ihre Gedanken zu ordnen. Und so brauchte der Mund des Vaters an diesem Tag sein Geheimnis, so schrecklich und grausam es auch sein mochte, nicht preiszugeben.

Noch nicht.

Es verging Zeit, bis Sabine den Tod ihrer Tochter verwunden hatte. Verwunden ist wahrscheinlich der falsche Ausdruck; nicht mehr ständig davon gequält zu werden, träfe wohl eher zu. Der Schmerz saß tief, so tief, dass er ihr zeitweilig noch immer den Verstand zu rauben drohte. Doch sie machte damit ihren Frieden, sie ließ ihn zu. Sie hatte das Schlimmste hinter sich; von nun an konnte es eigentlich nur noch bergauf gehen.

All diese schrecklichen Erinnerungen jedoch waren mit dem Einschläfern des Pferdes, mit seinem Tod, plötzlich wieder auf sie eingestürzt, und das war einfach zu viel gewesen. Manchmal genügte ein Wink, ein Fingerzeig, irgendetwas, es musste nicht einmal groß sein, um ihr die Schmerzen, das Leid, die Trauer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dann waren sie wieder da, obwohl sie längst geglaubt hatte, sie überwunden zu haben. Und dann, von einer Sekunde auf die nächste, war sie wieder am Boden zerstört. Dann war sie wieder in dem schrecklichen dunklen Loch, das sich Verzweiflung nannte.

Der Wind zerwühlte ihr Haar, spielte damit und trocknete zugleich ihre Tränen. In der letzten Zeit hatte sie wahrlich viel geweint. Zu viel für ein Leben. Eigentlich sollte es nun genug sein. Ihr Leben konnte nicht nur aus Tränen bestehen. Da musste es doch auch noch etwas anderes geben. Irgendwann musste auch mal sie wieder einmal lachen können, auch wenn es ihr im Moment unmöglich erschien.

Sie wartete ein paar Minuten, horchte in sich hinein, ob der Weinkrampf noch einmal ausbrechen wollte (manchmal tat er das: Sie glaubte, ihn überwunden zu haben, und dann brach er wieder los); dann drehte sie dem Meer den Rücken zu und ging langsamen Schrittes zurück zum Haus. Das Rauschen der Wellen begleitete sie noch ein Stück, wurde aber mit jedem Schritt schwächer und schwächer und verschwand schließlich.

Auf dem Hinweg hatte sie Vögel zwitschern gehört, doch jetzt schwiegen sie. Sie sah zerstreut auf ihre Armbanduhr und erschrak: Als sie zum Strand hinuntergegangen war, war es früher Vormittag gewesen – und jetzt war es später Abend. Doch nicht dies erschreckte sie, sondern die Dunkelheit, die sich langsam um sie ausbreitete. Sabine hatte nichts von ihr mitbekommen; viel zu sehr war sie in ihre Gedanken vertieft gewesen. Konnte man sich wirklich so vergessen, dass einem selbst etwas so Alltägliches wie der Untergang der Sonne entglitt?

Normalerweise hätte sie in der Dunkelheit hier draußen Angst gespürt. Aber nicht heute. Heute schien ein besonderer Tag zu sein. Vielleicht wurde heute alles besser? Der Tod ihrer ungeborenen Tochter konnte zwar nicht ungeschehen gemacht werden, aber ihr schien plötzlich, als hätte sie eine Stufe erreicht, auf der sie mit dem Schicksalsschlag würde leben können. Und das war gewiss die Voraussetzung, um ein einigermaßen glückliches, zufriedenes Leben führen zu können. Ab heute, da war sie sich sicher, würde es wieder bergauf gehen. Und weil sie so fühlte, war sie nicht nur ohne den kleinsten Funken von Angst, nein, sie war hervorragender Stimmung. Sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr.

Sabine kam über die Anhöhe, erblickte das hellerleuchtete Anwesen ihres Vaters und wusste, dass sie ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte.

Sie lief noch ein paar Meter weiter und blieb plötzlich stehen. Sie stand wie angewurzelt da, bevor sie wusste, wie ihr geschah. Warum sie so abrupt stehen blieb, wusste sie nicht. Irgendetwas war vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht, doch noch ehe sie danach greifen konnte, war es wieder verschwunden. Was konnte es gewesen sein?

Sie überlegte, was es war. Was konnte so wichtig gewesen sein? Und wichtig war es zweifellos. Was, in drei Teufels Namen?

Wie ein Steingötze stand sie da, unbeweglich und mit ernster Miene. Sie nahm weder die Dunkelheit um sie herum wahr noch die Kälte, die langsam durch ihre Kleider drang. Alles in ihr konzentrierte sich so sehr, dass sie nichts davon bemerkte. Alle ihre Zellen richteten sich auf diesen einzigen Punkt aus.

Und ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, fiel es ihr wieder ein, und schlagartig begriff sie auch, warum sie es vergessen hatte: Es war genau der Tag, an dem sie ihre Tochter verloren hatte. Damals hatte ihr der Vater etwas sagen wollen. Etwas, das ihn, sie selbst und ihre Familie betraf. Etwas, bei dem ihr alter Herr ganz anders gewesen war als sonst. Wie, konnte sie nicht in Worte fassen. Aber auf jeden Fall anders. Auf beunruhigende Art anders.

Jetzt, da es ihr wieder eingefallen war, fragte sie sich, wie sie es eigentlich hatte vergessen können. Doch im selben Augenblick, als sie sich die Ereignisse, die zeitgleich geschahen, wieder ins Gedächtnis rief, beantwortete sich ihre Frage von selbst.

Sabine atmete einmal tief ein und wieder aus. Der Atem wurde vor ihrem Gesicht zu einer weißen Wolke, die sich rasch auflöste. Nun wurde sie auch der Kälte gewahr und entschied sich, endlich hineinzugehen, einen heißen Tee zu trinken, dabei ein gutes Buch zu lesen – und ganz nebenbei ihren alten Herren zu fragen, was es denn so Wichtiges gab, dass ihre ganze Familie betraf.

So in etwa stellte sie es sich vor, doch als sie im Inneren des Hauses war, gewann ihre Neugier schnell die Oberhand, und sie verzichtete auf den Tee – was nun wirklich unvernünftig war, denn sie war durchgefroren und glich einem Eisklotz auf zwei Beinen. Das Buch, das sie hatte lesen wollen, sah nicht einmal an und stürmte stattdessen ins Lesezimmer ihres Vaters.

Der Vater saß im Schaukelstuhl und hielt ein Buch in den Händen. Ihn einmal nicht in einem solchen Stuhl anzutreffen, war alles andere als einfach. Er liebte diese Dinger und hatte in fast jedem Zimmer einen aufgestellt. Besuchern, die ihn darauf ansprachen, erklärte er, dass er sie für unglaublich bequem halte.

Als Sabine wie ein Wirbelwind hereingestürmt kam, sah er sie über die Lesebrille hinweg erstaunt an. „Kindchen, da bist du ja endlich! Wo warst du denn die ganze Zeit?“

Zwei Dinge konnte Sabine an ihrem Vater nicht ausstehen: Wenn er sie wie einen Teenager behandelte, schwoll ihr jedes Mal die Galle bis auf Kürbisgröße. Das war aber noch nichts verglichen mit dem, was sie am meisten hasste. So richtig in Rage geriet sie, wenn er sie Kindchen nannte. Dann war wirklich alles zu spät, und sie fürchtete, gleich Amok zu laufen. Auch diesmal spürte sie, wie ihre Magensäure gefährlich anstieg …

Doch statt einen Wutausbruch zu bekommen, biss sie die Zähne zusammen, schluckte ihren Groll hinunter und sah ihren Vater unverhohlen an. Das war das einzig Richtige, was sie tun konnte, denn Wut wäre der falsche Begleiter gewesen; sie hätte mehr geschadet als genutzt. Sabine beherrschte sich sogar so weit, dass es ihr gelang, ein Schmunzeln auf ihre Lippen zu zaubern. Sie beschloss, seinen Kommentar zu ignorieren.

„Hi, Dad. Du liest ein Buch? Schön. Ist es gut? Ich hoffe, es ist kein lahmer Schinken?“ Sie plauderte drauflos wie ein Wasserfall. Ihr Vater konnte ihr kaum folgen. „Wie war dein Tag? Erzähl doch mal!“

„Ist alles mit dir in Ordnung?“, fragte der Vater, und in seiner Stimme schwang Sorge mit.

„Freilich. Was soll mit mir nicht in Ordnung sein?“

Er suchte offensichtlich nach Worten. Seine Augen und sein ernstes Gesicht ließen erkennen, dass er überlegte, was er sagen sollte. Er dachte nach, entschied sich für etwas, sann noch einmal nach und verwarf es schließlich wieder. Schließlich platzte er doch heraus mit der Sprache.

„Na ja, wegen deinem Pferd. Der Gaul. Du weißt schon.“

Von allen Möglichkeiten, die er hatte, musste er ausgerechnet die Holzhammermethode wählen. Gute Wahl, dachte Sabine sarkastisch. Jetzt, da es raus war, biss er sich auf die Lippen. Er hätte wirklich sanfter mit ihr umgehen können. Schließlich hatte sie ihren Gaul, wie er ihn nannte, ins Herz geschlossen. Sie entschloss sich, auch das zu ignorieren. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er es nicht böse meinte. Es war nur seine Art, das Kind beim Namen zu nennen. Manche Menschen mochten sich daran stoßen, aber so war er eben: Immer mit dem Kopf durch die Wand und munter drauflos geschwatzt.

„Es … es tut weh“, war ihre knappe Antwort.

„Komm, setz dich zu mir. Du siehst müde aus, mein Kleines.“

Da war es schon wieder. Er hatte es tatsächlich schon wieder gesagt, obwohl er genau wusste, dass es sie auf die Palme brachte. Warum tut er das, überlegte Sabine. Allmählich kam ihr der Gedanke: Er tut es mit Bedacht. Aber nein, nein. Das tut er bestimmt nicht. Oder doch?

„Nein, nein. Lass gut sein. Es geht schon. Mir geht’s wirklich gut.“

„Sicher?“

„Ja, ganz sicher. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.“

Er sah sie noch um einiges eindringlicher an, legte die Stirn in Falten und versenkte seinen Blick schließlich wieder in das Buch vor ihm. Ein unverständliches Blubbern kam aus seinem Mund. Aber Sabine verstand ihn.

„Na gut, wenn’s so ist, dann ist’s gut. Und wenn nicht, dann komm halt wieder vorbei.“

Eine Minute verharrten sie so. Sabine stand da wie eine Statue, und ihr Vater las. Er war so vertieft, dass er sie gar nicht mehr wahrnahm. Er glaubte, sie hätte das Zimmer verlassen.

Und so verging eine Minute.

Und dann noch eine.

Und schließlich noch eine.

Sabine räusperte sich, und erst jetzt bemerkte ihr Vater, dass sie nicht gegangen war.

„Ähm … ist sonst noch irgendwas?“

„Warum? Wie kommst du darauf?“

„Oh, ganz einfach. Weil du wie ein Ölgötze hier rumstehst und Maulaffen feil hältst! Das sieht dir gar nicht ähnlich. Also, heraus mit der Sprache: Was bedrückt dich?“

Sabine grinste. Hatte sie das wirklich getan? Davon hatte sie gar nichts mitgekriegt.

„Nun ja …“, begann sie, aber das war auch schon alles.

„Was du nicht sagst! Dann ist ja alles klar“, spottete ihr Vater. Kein feiner Zug von ihm, aber so war er nun mal. Das ist durch Prügel nicht mehr zu korrigieren, ging es ihr durch den Kopf, aber bei dem Gedanken, sie würde hinter ihrem alten Herrn her wetzen, einen Gürtel in der Hand, musste sie grinsen.

„Als ich eben auf dem Heimweg war, fiel mir ein, dass du mir mal was erzählen wolltest. Es hatte irgendwas mit unserer Familie zu tun. Ich glaube, es war zu der Zeit, als ich meine Fehlgeburt hatte. Ja, ich glaube, da war es“, bestätigte sie es sich selbst und fuhr dann fort: „Bis eben hatte ich es total vergessen. Wahrscheinlich hatte ich den Kopf mit anderen Dingen voll (ach was, sprach da ihre innere Stimme, du hast doch bloß den Tod deiner ungeborenen Tochter und den ihres Vaters betrauert! Im Großen und Ganzen also nichts Besonderes, wie? Hahahaha). Wie dem auch sei: Jedenfalls dachte ich mir, wenn es meine Familie betrifft, geht es auch mich was an. Das ergibt sich zwangsläufig, findest du nicht auch?“

Während sie sprach, wurde das Gesicht ihres Vaters immer leerer und ausdrucksloser, fast schon erschreckend. Im Gegensatz zu ihr konnte er sich an die Situation im Krankenzimmer gut erinnern. Viel zu gut. Wie so oft hatte sein Mund schneller gearbeitet als sein Gehirn; es war ihm einfach so rausgerutscht. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht. Er war damals in einer deprimierten Stimmung gewesen und nach all diesen Tragödien so sentimental und rührselig, dass er sein altes Schandmaul nicht im Zaum hatte halten können. Doch kaum, dass er ihr Zimmer verlassen hatte, hatte er sich einen alten Tölpel geschimpft. Vielleicht, dachte er damals, rieselt mir doch schon Kalk durch die Adern. Und als dann Sabine entlassen wurde, kam sie nicht mehr darauf zu sprechen; sie musste mit anderen Dingen fertigwerden. Es erleichterte ihn ungemein, doch gleichzeitig fürchtete er den Tag, an dem ihre Erinnerung zurückkehren würde. Allem Anschein nach war er jetzt gekommen. Das hast du nun davon, alter Narr.

„Es ist besser, wir lassen das.“

„Aber damals …“

„Damals hätte ich fast einen Fehler begangen – und das bereue ich. Ich weiß, dass ich nicht damit hätte anfangen dürfen. Aber die Situation … du weißt schon, was ich meine, war auch für mich zu viel. Auch ich war überfordert, und als Konsequenz davon ist mir das herausgerutscht. Das tut mir leid. Ich bin nichts als ein geschwätziger alter Narr.“

„Aber … aber …“

„Nichts aber. Glaub mir, es ist besser, wenn du diese Unterhaltung aus deinem Gedächtnis streichst. Tu einfach so, als hätte es sie nie gegeben. Und jetzt geh!“

Fast wäre Sabine tatsächlich gegangen; der grobe Ton erschreckte sie. So ungehobelt hatte sie ihn noch nie erlebt. Erst als sie bereits die Türklinke in der Hand hatte, besann sie sich, dass sie keine acht Jahre mehr war und ihr Vater ihr nichts mehr zu befehlen hatte. Sie wartete noch eine Sekunde, füllte ihre Lungen mit Luft und drehte sich langsam wieder um. In ihren Augen stand wilde Entschlossenheit (sie blitzten einem geradezu entgegen), und ihr Gesicht war hart wie Stein. Ihr alter Herr konnte davon freilich nichts sehen, denn seine Augen hatten im Laufe der Jahre nachgelassen.

„Hör zu, Daddy! Ich bin kein kleines Mädchen mehr!“

Der Klang ihrer Stimme überraschte sie beide, Sabine sogar noch mehr. Sie strotzte geradezu vor Entschlossenheit und Willensstärke. Und ihre Stimme, die kein bisschen zitterte oder schwächlich klang, bewirkte, dass sie sich ihrer Entscheidung sicher war. Jeder Zweifel wurde von dieser Stimme weggewischt wie ein Schmutzfleck von einer Fliese. Und da sie in ihrem Selbstvertrauen um einige Punkte nach oben geschnellt war, gab es jetzt kein Zurück mehr.

„Ich bin kein kleines Mädchen mehr“, begann sie von neuem.

„Ja, ich weiß. Aber …“

„Warum behandelst du mich dann so?“

„Aber Kindchen, das tue ich doch gar nicht. Das bildest du dir ein.“

„Da! Schon wieder! Du tust es schon wieder!“

„Was denn? Was tue ich schon wieder?“

Gott, konnte man wirklich so begriffsstutzig sein? War das möglich? Oder war es nur ein Ablenkungsmanöver? Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr Vater so was versuchte. Es war schon immer eine Unart von ihm gewesen, unangenehmen Fragen auszuweichen. Aber diesmal werde ich den Spieß umdrehen. Nicht mit mir, mein Lieber. Diesmal nicht!

„Ach, vergiss es einfach. Das interessiert mich nicht im Geringsten.“

Ihr Vater zuckte zusammen. Nicht viel, aber Sabine nahm es befriedigt und mit Genugtuung zur Kenntnis. Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung: Er wollte vom Thema ablenken. Aber nicht diesmal. Oh nein, diesmal nicht! Es wird allmählich Zeit, fortzufahren, wurde sie von ihrer inneren Stimme ermahnt, sonst verschwendest du noch mehr Zeit. Und wer weiß, was dann passiert? Recht hat sie, pflichtete Sabine ihr bei und erhob ihre Stimme wieder gegen ihren Vater, ebenso fest und sicher wie zuvor.

„Lass uns den Scheißdreck am besten vergessen! Schmeiß alles, was dir Sorgen bereitet, über Bord, all die Ängste und Bedenken, wirf sie einfach weg und erzähl mir, was es damit auf sich hat. Komm schon! So schwer kann das doch nicht sein!“

„Du hast ja keine Ahnung …“

Er sank ein wenig tiefer in seinen Schaukelstuhl. Auch das erfüllte sie mit Genugtuung. Aber es erwies sich als lange nicht so befriedigend wie beim ersten Mal.

„Warum ist es so schwer? Erzähl es mir! Was soll so schwer daran sein?“

„Weil es … Wenn es nicht so schreck … Vielleicht bleibt es ja aus. Vielleicht hast du ja Glück und es verschont dich.“

Sie sah, dass er sich auf die Lippen biss. So heftig, dass ein Tropfen Blut aus ihnen quoll. Jetzt erwog sie ernsthaft, es zu vergessen, die ganze Sache abzublasen. So wie er reagierte, musste es etwas Schlimmeres sein als irgendein schmutziges kleines Familiengeheimnis. Etwas Gewichtigeres als ein ordinärer Obstdiebstahl aus Nachbars Garten. Ja, so viel stand fest. Aber so einfach konnte sie die Sache nicht vom Tisch fegen und zum Alltag zurückkehren. Ihre Neugier war geweckt, und wenn das erst einmal geschehen war, brauchte es mehr als eine aufgeplatzte Lippe, bis sie davon ablassen würde.

„Was wird mich vielleicht verschonen?“

Der Schaukelstuhl war mit einem Mal so groß wie das Universum und ihr Vater darin so klein wie ein Meteoritensplitter in den schwarzen Tiefen des Alls.

Was habe ich nur angerichtet, fauchte es in ihm. Wie konnte ich das nur tun? Was ist mit mir los? Wie konnte ich mich so von ihr übertölpeln lassen? Ich muss völlig verkalkt sein. Doch halt: Noch ist ja gar nichts ausgesprochen. Noch habe ich eine Chance. Noch weiß sie nicht das Geringste. Ich muss nur ein bisschen vorsichtiger sein und ihr irgendeinen saftigen Brocken hinwerfen – einen, der vor Neuigkeiten nur so trieft. Es muss nur ihr Interesse wecken, mehr nicht. Doch wo gab etwas, was dazu imstande wäre? Fieberhaft überlegte er.

„Was wird mich vielleicht verschonen?“

Diesmal klang ihre Stimme noch fordernder. Langsam ging sie auf ihn zu, näherte sich Schritt für Schritt. Und ihr Vater wurde kleiner und kleiner. Eigentlich hatte er es selbst zu verantworten, dass seine Tochter es unbedingt wissen wollte. Schon seine Haltung, sein Äußeres verrieten, dass er etwas vor ihr verbarg. Wie er unruhig die Hände ineinander rieb, sich selbst verstohlen über die Schulter blickte, als sitze da jemand hinter ihm! Wie ihm der Schweiß von der Stirn rann! Das alles spornte sie nur noch mehr an. Nur, was war es? Es musste wirklich etwas Hundsgemeines sein, sonst würde er kaum so ein Affentheater veranstalten.

„Dad, du bist es mir schuldig. Du musst es mir einfach sagen. Ich verlange, dass du es mir sagst! Auch wenn es schrecklich ist, du musst es mir sagen! Du musst einfach!“

Ihre Stimme klang wie eine Kreissäge, die sich mühsam durch steinhartes Holz fräst. Sie kreischte, aber nicht so, wie man es tut, wenn man etwas will, es aber nicht bekommt, sondern wie jemand, der kurz vor einem apokalyptischen Wutausbruch steht. Das Kreischen bewirkte, dass ihr Vater noch mehr in sich zusammensackte, so sehr, dass er jetzt nicht einmal mehr der Gesteinssplitter eines winzigen Meteoriten war. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich in Luft aufgelöst, wäre verglüht wie eine Sternschnuppe beim Eintritt in die Atmosphäre. Ist doch echt erstaunlich, was eine Stimme so alles bewirken kann.

Doch auf Sabine macht all das keinen Eindruck. Sie beschloss, auch weiter alles zu riskieren. Bis jetzt lief es gut. Sie musste nur weiter ihren Standpunkt vertreten und ihn irgendwie durchboxen. Dann würde alles zu ihrer Zufriedenheit ablaufen.

„Du musst es mir sagen! Du musst! Du musst! Du musst! Ich verlange es!“

„Aber Kind, versteh doch …“

„Ich verstehe, dass du es mir vorzuenthalten versuchst! Das verstehe ich sogar gut! Leider verstehe ich auch, dass du mich noch immer für ein kleines, unwissendes Kind hältst!“ In ihren Augen blitzte Zorn.

„Das tue ich doch gar nicht. Wie kannst du so etwas nur denken? Ich bin doch … ich kann …“

„Ich verspreche dir, dass du es mir sagen wirst. Koste es, was es wolle. Diesmal bleibe ich hart, steinhart, wenn es sein muss!“

„Aber, so hör mir doch mal zu. Es ist nicht so einfach. Und glaube mir: Du würdest dieses Wissen nur verfluchen.“

„Ach was, so schlimm wird es schon nicht sein!“

„O doch, das ist es. Und aus eben diesem Grund …“

„… muss ich es erfahren“, fiel sie ihm ins Wort. „Wenn es wirklich so schlimm ist, wie du sagst und es unsere Familie und somit auch mich betrifft, muss ich es wissen!“

„Aber Kind …“

„Lass endlich dieses dämliche ‘aber Kind’!“

Sie äffte ihn nach. Und obwohl sie schon vorher wütend gewesen war, steigerte sich ihre Wut in dem Moment, als sie es noch einmal aus ihrem eigenen Mund hörte, noch mehr. Sie fühlte, wie das Blut kochend heiß durch ihre Adern rauschte und Magensäure ihr bis hinauf in die Kehle stieg. Sie spürte die Anspannung auf ihrer Haut kribbeln wie Elektrizität. Und ihr Herz schlug so laut, als säße es nicht mehr in ihrer Brust, sondern zwischen ihren Ohren. Alles in ihr wartete auf eine Antwort.

„So hör doch …“ Das war nun ganz und gar nicht das, was sie erhofft hatte.

„Ich will von diesen Ausreden nichts mehr hören! Sag es mir endlich!“

Er hatte seine Tochter noch nie so aufgebracht gesehen, noch nie so wütend und unbeherrscht. Sie strotzte geradezu vor Verbissenheit. Alles an ihr strahlte pure, unverdünnte Angriffslust aus. Er fürchtete, dass ein einziger Funke genügen würde und sie ginge wie eine Dynamitkiste hoch.

Leider, und das musste er sich eingestehen, verstand er ihre Reaktion. Er hätte, wäre er an ihrer Stelle gewesen, genauso reagiert. Es war nicht nur eine bodenlose Gemeinheit, ihr die Wahrheit vorzuenthalten, es war auch eine Beleidigung ihrer Intelligenz. Hatte sie nicht ein Recht darauf, es zu erfahren? Ja, gewiss, das hatte sie. Aber es war so schrecklich. Und allein das war schon Grund genug, ihr nichts davon zu sagen. Doch früher oder später würde sie es ohnehin erfahren. Irgendwann würde er es ihr nicht mehr vorenthalten können …

An dieser Stelle hielt er inne mit seinem inneren Disput. Die Stimme seines Gewissens, mit der er so heftig focht, hatte einen wunden Punkt berührt. Doch nicht nur das: Sie hatte auch verdammt recht. Er war sicher, dass Sabine es irgendwann ohnehin herausfand, auf die eine oder andere Art (ihm war es ja schließlich auch gelungen) – spätestens jedoch, wenn das unerfreuliche Ereignis eintrat. Und jetzt fragte sein Gewissen mit einer Stimme, die ihm eine Gänsehaut bescherte: War nicht schon ein Teil geschehen? Hatte es nicht bereits begonnen? Denk nur an …

Er unterbrach die Stimme in seinem Inneren mitten im Wort. Nichtsdestotrotz konnte er es nicht unterbinden, über das eben Gehörte nachzudenken. Obwohl er schon oft bis zu diesem Punkt gekommen war, war es ihm immer wieder gelungen, zu schweigen. War das ein Fehler gewesen? Schließlich musste sie doch darauf vorbereitet sein. Oder etwa nicht?

Aber vielleicht passierte es ja gar nicht. Vielleicht übersprang es diese Generation und alles bleibt, wie es ist. Obwohl so viele schreckliche Dinge geschehen waren, so viel Schmerz erduldet worden war, schaffte es noch immer ein kleiner Teil seines Verstandes, an dieser mageren Hoffnung festzuhalten. Er pflichtete dieser Stimme sofort bei. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja recht! Gehofft hätte er es allemal. Aber die Stimme seiner Vernunft war anderer Meinung. Du alter Narr, schimpfte sie, wie kannst du, nach allem was geschehen ist, tatsächlich noch an so was glauben? Es ernsthaft in Erwägung ziehen? Wie kann man nur so blöd sein? Es wird kommen, das steht fest! Die ersten giftigen Zeichen sind ja schon da. Denk doch nur an …

Ja, ja, schon gut, ich hab’s ja verstanden, schrie er der Stimme in Gedanken entgegen, noch bevor sie ihren Satz beenden konnte. Augenblicklich verstummte sie wie ein ungezogenes Kind. Er war verdammt froh, dass endlich wieder Ruhe in seinem Oberstübchen herrschte.

Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf seine Tochter und war überrascht, dass sie noch immer wie ein Tasmanischer Teufel durchs Zimmer tobte und Zeter und Mordio schrie.

„Du musst es mir sagen! Du musst! Du musst!“

Sie hatte also noch immer keine neue Platte aufgelegt. Eine seltsame Ruhe überkam ihn. Sie bemächtigte sich seiner wie eine unerwartete Tröstung und bewirkte, dass er sich endlich wieder etwas größer fühlte. Nicht mehr so winzig wie vorhin, als er gefürchtet hatte, in den Ritzen des Schaukelstuhles zu versinken. Je mehr ihn von dieser Ruhe durchströmte, umso größer kam er sich vor.

Sabine donnerte noch immer wie eine Diesellok, aber das war längst nicht mehr so einschüchternd. Natürlich hatte ihm seine Phantasie einen Streich gespielt. Selbstverständlich war er nicht geschrumpft, um keinen Millimeter. Aber es war ihm so vorgekommen. Es war höchst real gewesen, und es hatte ihn geängstigt. Gott sei Dank war es vorbei. Er kam sich nicht mehr wie ein Sandkorn vor, sondern wie ein Mann. Mit Augen, die seit Jahren nicht mehr so klar gewesen waren, sah er seine Tochter an. Sie war so schön, dass es ihm fast in den Augen schmerzte. Aber konnte man sich auf diese Empfindung verlassen? Findet nicht jeder Vater seine Tochter wunderschön? Ist sie nicht für ihn immer die Schönste unter der Sonne?

„Okay, ich sag es dir.“

„Was? Du machst was?“

Diesmal blieb ihr die Spucke weg. Sie hatte gebetet, hatte gefaucht wie eine Raubkatze, hatte gefleht, gebettelt und schließlich sogar mit dem Gedanken geliebäugelt, aus dem Haus zu gehen und nie wiederzukommen. Dann hätte der alte Trottel endlich gesehen, was er von seiner Sturheit hatte! Aber eigentlich hatte sie die Hoffnung schon aufgegeben. Das wäre durchaus keine Niederlage gewesen. Oh nein, sie hätte vielleicht die Schlacht verloren, aber der Krieg war noch nicht entschieden. Doch wie es jetzt aussah, brauchte sie vielleicht doch nicht mehr allzu lange zu warten.

„Ich werde es dir sagen“, wiederholte er, während sie ihn noch immer ungläubig anstarrte. „Es ist besser, du würdest dich setzen. Und vielleicht solltest du dir vorher einen Drink mixen. Einen starken. Du wirst es brauchen.“

Während er ihr das ans Herz legte, veränderte sich sein Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht eines Siebzigjährigen, sondern vielmehr eines Hundertsiebzigjährigen – freilich nur, wenn der Mensch so alt werden könnte. Es war von Altersflecken nur so übersäht, und die Falten in seiner Haut schienen die Größe des Grand Canyons zu haben. Trübsinnig starrten seine Augen auf einen Punkt irgendwo im Zimmer. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Er hätte genauso gut einen Staubfusel beobachten können, es hätte keinen Unterschied gemacht.

Sabine bereitete sich und ihrem Vater einen Drink zu. Sie ging davon aus, dass er auch einen haben wollte. Sein Gesichtsausdruck hatte jedenfalls danach ausgesehen. Einen extra starken. Als sie sich umdrehte und in das fremde, mittlerweile noch mehr gealterte Gesicht sah, kippte sie gleich noch etwas mehr Alkohol in die Gläser. Wer weiß, wozu es gut war! Sein Gesicht war nun nicht mehr das eines Hundertsiebzigjährigen, sondern die Fratze eines tausendjährigen giftigen Trolls. Es war in sich zusammengefallen und stumpf. Und es war vom Grauen gezeichnet.

Das war fast mehr, als sie ertragen konnte. Sabine leerte die zwei Gläser und kehrte zurück an die Bar, um zwei neue zu mixen. Um ein Haar hätte sie die auch wieder in sich hineingeschüttet. Sie musste sich zwingen, es nicht zu tun. Es gelang ihr, einigermaßen sicher zu laufen, obwohl ihre Beine sich anfühlten wie weichgekochte Spaghetti. Um nichts auf der Welt sollte ihr Vater sie so sehen. Der brachte es fertig und blies das Ganze wieder ab!

Als sie ihn schließlich erreichte und ihm den Drink in die Hand drücken wollte, sah sie mit Entsetzen (und der Anblick genügte, ihr einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen), dass nicht nur sein Gesicht erschreckend alt wirkte, sondern seine gesamte Erscheinung: Er machte einen Buckel wie eine Katze, seine Haut ähnelte uraltem Pergament, und seine Glieder zitterten ohne Unterlass. Sie biss erneut die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen.

Langsam ließ sie sich auf einem Sessel neben ihm nieder, nippte ein wenig an ihrem Drink und sah ihn ruhig an. Die beiden anderen begannen bereits zu wirken; sie sah jetzt dem, was kommen mochte, etwas ruhiger entgegen. In ihrem Bauch war es warm, und in ihrem Kopf drehte es sich.

Ihr alter Herr ließ die Fingergelenke knacken. Sie hasste es, wenn er das tat, aber heute registrierte sie es kaum. Viel zu sehr war sie über sein Äußeres bestürzt.

Ungeschickt fingerte er nach seinem Glas und hatte Mühe, es auch nur anzuheben. Es verging fast eine Minute, bis er es endlich an seinen Mund geführt hatte. Die Vorbereitung nahm zwar einige Zeit in Anspruch, aber das Trinken klappte wie von allein: Innerhalb von einer Sekunde war das Glas leer. Der Drink tat verdammt gut, aber auf einem Bein konnte man nicht stehen. Also erhob er sich schwerfällig, wobei seine Knochen knackten, und stolperte zur Hausbar. Und obwohl er mehr schlich als ging und Sabine hochsprang, als er sich erhob, erreichte sie die Bar erst nach ihm.

Keiner der beiden sagte ein Wort, als sie nebeneinander standen und sich einen weiteren Drink mixten. Und sie sprachen auch nicht, als sie wieder zu ihren Plätzen zurückgingen. Sabine wurde schmerzhaft an eine Beerdigung erinnert. Das gleiche Gefühl überkam sie auch jetzt; die Stimmung war genauso erdrückend und ernst. Aber es war nicht nur das – es war noch etwas anderes.

Sie saßen einander ein paar Minuten schweigend gegenüber, nippten an ihren Gläsern und wussten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Natürlich ahnten beide, dass bald eine Veränderung eintreten würde. Doch nur ihr Vater wusste, was diese für Ausmaße haben würde …

Sabine rutschte auf ihrem Sessel herum. Sie konnte keine Sekunde still sitzen. Sie fieberte dem Moment entgegen, wo sie es endlich erfahren würde. Ganz anders ihr Vater. Er wäre am liebsten im Boden versunken. Nur weg von hier, weg, schrie es in seinem Hirn.

Schließlich war Sabine sich nicht mehr sicher, ob sie es wirklich noch wissen wollte. Der besorgte Gesichtsausdruck ihres Vaters und seine kummervoll zusammengesunkene Gestalt gaben ihr doch zu denken. Doch sie verbannte Zweifel und Unentschlossenheit in einen finsteren Kerker, verrammelte die Tür und warf den Schlüssel weg.

„Nun“, begann sie, „du hattest etwas vor!“

„Was? …? Ach so, ja.“

Noch immer dieser Gesichtsausdruck, als wolle er trotz seines Versprechens noch immer schweigen. Für Sabine sah das nach einer erneuten Hinhaltetaktik aus. Doch damit täuschte sie sich. Sie sah nicht das angstvolle Flackern in seinen Augen, bemerkte nicht die Schweißtropfen, die wie Perlen auf seiner Stirn standen. Und selbst wenn sie sie gesehen hätte, wäre es in ihren Augen Ablenkungsmanöver gewesen. Ihrer Meinung nach wollte er sie so lange hinhalten, bis sie das Interesse verlor. Doch darauf konnte er warten, bis er schwarz wurde! Eher mache ich einen Handstand und fange mit meinem Arsch Fliegen, als dass diese Rechnung aufgeht! Das steht fest! Hundertprozentig!

„Und? Wann gedenkst du, es mich wissen zu lassen?“

„Kind, willst du nicht lieber …? Es ist besser, wir vergessen das Ganze und widmen uns wieder der Normalität.“

Also doch, dachte Sabine, hab ich’s doch gewusst.

Ihre Augen schossen giftige Pfeile in seine Richtung. Sie erstarrte, und für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, ihm an den Hals zu springen. Durfte sie so etwas denken? Er war doch ihr Vater! Doch sie war wütender als eine Raubkatze, die beim Fressen gestört wurde und entschlossen, es nicht zu verbergen. Sollte er doch merken, dass es ihr verdammt ernst war!

„Du weißt …, du weißt doch gar nicht, was dich erwartet. Du weißt nicht, was es ist. Nur deswegen bist du so erpicht darauf. Es ist schrecklich. Du kannst dir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie sehr du…“

„Vater, sag es mir endlich! Sonst … sonst … sonst schwöre ich bei Gott, ich gehe durch diese Tür, verlasse dieses Haus und komme nie wieder zurück! Überleg dir, was dir lieber ist!“

Jetzt war es heraus. Sie hatte ihn nicht erpressen wollen, und die Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Aber jetzt, da sie gesagt waren, bereute sie sie nicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie hatte ihrem Vater das Messer an die Brust gesetzt, und nun lag es an ihm, eine Entscheidung zu treffen.

Und er dachte tatsächlich nach – allerdings ganz anders, als Sabine es vermutete. Er wog das Pro und Contra des Vorschlages genau ab. Ja, er nannte es einen Vorschlag, denn auch ihm war der Gedanke schon gekommen. Auch er liebäugelte heimlich damit, sie wegzuschicken, sie wie einen räudigen Kojoten einfach fortzujagen. Und diese Vorstellung übte einen gewissen Reiz auf ihn aus. Er war zwar nicht besonders erpicht darauf, von seiner Tochter getrennt zu sein und sie vielleicht nie wiederzusehen (denn das brachte das Ganze ja mit sich), doch er hatte die vage Hoffnung, dass das das Beste für sie sein könnte. Vielleicht hatte sie ja so eine Chance, IHR zu entkommen? Darüber dachte er nicht zum ersten Mal nach. Oh nein, ganz und gar nicht. Doch wie immer kam er auch diesmal zu dem Ergebnis, dass damit niemandem gedient war, am allerwenigsten ihr. So wäre sie nur auf sich allein gestellt. Und SIE würde ihr zweifellos folgen. Nein, so ging es auch nicht. Dann schon lieber das Geheimnis preisgeben …

Er war überrascht, wie viel Zeit verging, während er diese Gedanken spann. Sein Glas war schon wieder leer, er musste es ausgetrunken haben. Allerdings überraschte es ihn nicht, dass Sabine ihm noch immer gegenüber saß. Er kam sich vor wie bei einem Verhör. Sabine beobachtete jede seiner Bewegungen. Er hatte das Gefühl, dass ihre Augen sich regelrecht in sein Fleisch brannten. Für einen Moment war es so real, dass er sein verkohltes Fleisch sogar zu riechen glaubte … Was für ein Wahnsinn!

„Könntest du wohl mein Glas nachfüllen?“

„Also wirklich … das ist doch.“

Jetzt war es soweit. Jetzt würde sie gleich aufspringen und ihren eigenen Vater, den Menschen, der sie gezeugt hatte, erwürgen. Doch der Drang verflog glücklicherweise wieder, und es gelang ihr schließlich sogar, ein freundliches Lächeln aufzusetzen, in dem allerdings ein Schuss Bitterkeit nicht fehlte.

„Na schön, ich hol dir deine Brühe. Aber dann hörst du endlich damit auf, wie eine Katze um den heißen Brei rumzuschleichen. Einverstanden?“ Sie war erstaunt, wie freundlich ihre Worte klangen.

„Ich denke, ja.“

„Fein. Dann ist ja alles geklärt. Überleg dir schon mal, mit was du anfangen willst! Ich werde schnell wie ein geölter Blitz wieder zurück sein, und dann will ich endlich was hören! Und bitte keine Ausflüchte mehr, sonst kriege ich, glaub ich, einen Schreikrampf, bis es mir die Schädeldecke sprengt!“

Kaum hatte sie ihren Vortrag beendet, da stand sie auch schon auf und mixte neue Drinks. Und als sie sich wenig später wieder neben ihn setzte, begann er endlich zu reden. Und im Stillen pflichtete sie ihrem Vater bei: Im Nachhinein hätte sie gern darauf verzichtet, es zu erfahren. Aber jetzt war es dafür zu spät.

Ihr Vater nippte noch einmal an seinem Drink. Es war unmöglich zu erkennen, ob er ihm schmeckte. Ja, es schien sogar so zu sein, dass er den Geschmack gar nicht bemerkte.

„Ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll …“

„Ich würde vorschlagen, du versuchst es am Anfang“, entgegnete Sabine genervt. Sie vermutete schon wieder Ausflüchte.

„Ja, das wird wohl das Beste sein“, antwortete darauf ihr Vater, der von ihrem Unmut nichts bemerkte.

„Es liegt bereits ein paar Jahrhunderte zurück. Es war … es war die Zeit der Hexenverfolgungen. Du wirst davon gehört haben. Die Zeit, als jede Frau, die rotes Haar trug, Ehebruch beging, bei irgendjemandem Neid erregte oder einfach nur andere Ansichten vertrat als die Kirche, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Ich übertreibe bestimmt nicht, wenn ich behaupte, dass das damals eine ganz schön heiße Zeit war. Zumindest für die, die verbrannt wurden.“

„Das ist nicht dein Ernst. Du erzählst mir …“

Doch er ließ sich nicht beirren. „Heute wissen wir natürlich, dass diese armen Frauen ein Opfer des Aberglaubens wurden. Doch, und das ist in meinen Augen das Tragische, nicht alle starben wegen dieses hirnrissigen Aberglaubens. So manche wurde ein Opfer infamer Lügen und Intrigen. Also im Großen und Ganzen fast das gleiche wie heute. Nennen wir das Kind beim Namen: Wenn jemand, wer auch immer es sein mochte, irgendeine andere Person nicht leiden konnte, aus welchem Grund auch immer, beschuldigte er sie kurzerhand der Schwarzen Magie. Damals war man mit dem Feuer schnell zur Hand – sehr zum Leidwesen der Beschuldigten.“

„Ich verstehe nicht. Was hat das alles mit uns zu tun?“

Er holte noch einmal tief Luft. Er wusste, dass er jetzt nicht mehr viel Zeit hatte und sich beeilen musste. Und er wusste auch, dass das Unvermeidliche bald geschehen würde.

„Für eine ganze Reihe zänkischer Weibsbilder wurde es regelrecht zu einem Sport, jeden, den sie nicht leiden konnten, der Hexerei zu beschuldigen. Und eine von ihnen, eigentlich die Schlimmste von allen, war eine unserer Vorfahren. Sie brachte seinerzeit an die dreißig Frauen auf den Scheiterhaufen. Warum sie das tat, ist aus unseren Annalen leider nicht ersichtlich. Ich vermute aber, dass sie einfach ein gehässiges Miststück war und gar nicht anders konnte. Wenn man einmal vergaß, ihr einen Guten Morgen zu wünschen, fing sie bereits zu geifern an: Sie ist eine Hexe, sie ist eine Hexe, so helft mir doch, sie will mir das Augenlicht rauben! So ähnlich stelle ich es mir jedenfalls vor, und bestimmt liege ich damit nicht ganz falsch. Wie dem auch sei: Sie hat in ihrer Zeit bestimmt mehr Menschen den Tod gebracht als Jack the Ripper. Irgendwann aber, als sie mal wieder ihr ‘Arrgh, sie ist eine Hexe, verbrennt sie, verbrennt sie!’ runtergespult hatte, geriet sie an die Falsche. Es war genauso wie sonst, nur sollte es diesmal anders enden. Es begann schon damit, dass diese Frau nicht wie am Spieß schrie ‘Ich bin keine Hexe, ich bin keine Hexe, ihr irrt euch, ich bin keine Hexe!’ Sondern sich seelenruhig zum Scheiterhaufen führen ließ. Als wüsste sie gar nicht, wie ihr geschah. Vielleicht wusste sie es aber auch nur zu gut. In ihrem Gesicht stand auch nicht Todesangst, wie bei allen anderen. Und dann, als ihr Haar und ihre Kleider bereits lichterloh brannten, schrie sie nicht, wie all die bedauernswerten Frauen vor ihr, sondern begann lauthals zu lachen. Es muss ein schauriges Lachen gewesen sein. Du kannst dir sicher die Gesichter der Anwesenden vorstellen. Damals wollte ja jeder bei so einem Spektakel dabei sein, nur die Hauptrolle übernahm niemand freiwillig … Während sie also lachte, kreischten und schrien die anderen. Doch das war bei weitem nicht das Schlimmste. Nur wenige Augenblicke später nämlich brach ihr Lachen abrupt ab, und sie begann mit fröhlicher, aber unheilverkündender Stimme zu sprechen. Jetzt schrien und kreischten die anderen nicht mehr. Auf einmal herrschte eine gespenstische Ruhe, nur unterbrochen von dieser Stimme. Sie redete, als gäbe es die Flammen auf ihrer Haut gar nicht. Und sie sah dabei dieses Miststück von einer Ahnin an. Es war, als ob sie sie mit ihren Augen durchbohren wollte.

‘Du hast vielen Menschen Unheil und Leid gebracht‘, kam über ihre Lippen, die man im grellen Licht der Flammen kaum sehen konnte, sie schienen regelrecht zu kochen. Die Menge, in deren Mitte unsere feine Verwandte stand, bildete einen Kreis um sie herum, und dieser Kreis wurde mit jedem Wort, das die Brennende sprach, größer. ‘Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage! Du hast dir diesmal die Falsche ausgesucht! Diesmal hast du ins Schwarze getroffen! Ich bin eine Hexe! Alle deine Familienangehörigen und auch die, die es in Zukunft noch werden, werden einen frühen, unerwarteten und schmerzhaften Tod sterben!’ Schließlich loderte sie wie eine Fackel, aber brachte es tatsächlich fertig, wieder lauthals zu lachen. Überall erbrachen sich die Menschen, kippten ohnmächtig nach hinten oder standen nur fassungslos da, zu keiner Regung imstande.

Und da, ganz plötzlich, von einem Augenblick auf den nächsten, verschwand die Brennende. Sie verschwand einfach, löste sich in Luft auf. In der einen Sekunde war sie noch auf dem Scheiterhaufen angebunden, und in der nächsten war sie weg. Auch das Feuer war aus. Noch nicht einmal das Holz glomm noch. So, als hätte das Ganze nie stattgefunden. Das einzige, was Zeugnis von dem Vorfall ablegte, war das Echo ihrer Worte. Noch minutenlang tönte über ihren Köpfen der Satz: ‘Ich verfluche dich, ich verfluche dich und deine Sippe bis zum Ende aller Tage!’

Von da an wurde unsere reizende Verwandte von allen gemieden. Selbst die, die mit dem Verurteilen immer so schnell bei der Hand gewesen waren, machten nun einen Bogen um sie. Ein paar Monate blieb alles ruhig. Doch dann, eines Tages, sie hatte es schon fast vergessen, begann das Sterben in unserer Familie. Sie fielen um wie die Fliegen. Nur ihr jüngster Sohn überlebte. Aber auch nur, damit er eine eigene Familie gründen konnte und dann … na ja, den Rest kannst du dir sicher denken.“

In Sabines Augen stand nacktes Entsetzen, aber auch Unglauben. Das Ganze klang zu phantastisch.

„Was ist aus ihr geworden?“

„Wer? Aus der Hexe oder unserer Ahnin?“

„Also, wenn du mich so fragst: beide!“

„Die Hexe wurde nach ihrer Verbrennung nie wieder gesehen. Und unsere Hexe, dieses Miststück von einer Ahnin, sollte das gleiche Schicksal ereilen. Sie hatte acht Kinder, und als das große Sterben begann, ich will es mal so formulieren, als der Fluch sich bewahrheitete, verlor sie alle, bis auf einen. Und auch ihr Ehemann starb. Er wurde auf dem Feld von seinem eigenen Gaul totgetrampelt.

Ein Jahr nach seinem Tod, mittlerweile war sie ganz allein, auch ihr Jüngster hatte den Hof verlassen, wurde sie schwanger. Und da es ja nun ganz offensichtlich mit dem Teufel zuging, wenn eine Frau ein Kind bekam ohne Mann dazu, wurde auch sie zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Es ist noch heute ein Rätsel, wie die Dorfbewohner davon erfahren hatten, obwohl sie ihr Haus und ihr Grundstück nie verließ. Und Besuch hatte sie auch keinen empfangen. Die hatten doch alle Angst, etwas von dem Fluch könne auf sie überspringen! Sie verbrannten sie in einer sternklaren Nacht, mitsamt dem Ungeborenen im Leib.

Wie gesagt: Es ist noch immer ein Rätsel. Aber ich vermute, die Hexe hat das irgendwie bewerkstelligt. Schließlich beherrschte sie die Zauberei, wie sie ja bereits eindrucksvoll bewiesen hatte. Und es ging bestimmt nicht mit rechten Dingen zu, denn die Angst der anderen war verschwunden, als man sie zum Scheiterhaufen führte. Und ich vermute auch, dass sie dafür sorgte, dass der jüngste Sohn den Ort verließ. Schließlich musste die Familie fortbestehen, damit sich der Fluch immer und immer wieder erfüllen konnte. Bis zum heutigen Tage.“

Mit ruhigem Blick sah er sie an. Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Vielleicht, dass sie geschockt war oder in Tränen ausbrach. Doch Sabine tat nichts dergleichen. Sie sah ihn nur an und machte keineswegs den Eindruck, als ob sie auch nur ein einziges Wort glaubte. Doch auch das konnte er nachvollziehen, wäre es ihm doch, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, ebenso gegangen. Leider nahm der Fluch keine Rücksicht darauf. Ihm war es einerlei, ob sie es glaubte oder ihren alten Herren für einen ausgemachten Schwachkopf hielt. Was auch immer geschehen sollte, würde geschehen. Daran ließ sich, leider Gottes, nichts ändern …

„Du musst zugeben, das Ganze klingt …, nun, sagen wir einfach, ein wenig abwegig“, entfuhr es ihrem Mund nüchtern. „Glaubst du tatsächlich, ich lasse mir so eine Geschichte verkaufen und schlucke sie einfach?“ Ihre Stimme klang erregt. Auch das konnte er nachempfinden.

„Leider ist es die Wahrheit.“

„Ach, komm.“

„So leid es mir auch tut: Es ist so. Es ist die traurige Wahrheit. Wir müssen dieses Schicksal ertragen. Wir leiden noch immer darunter, dass dieses zänkische Weib alles und jeden hasste.“

„Das sind doch alles nur Geschichten, die man sich abends am Lagerfeuer erzählt! Die sind doch von vorn bis hinten an den Haaren herbeigezogen. Und jeder, der sie erzählt, schmückt sie dann etwas aus mit seiner eigenen Phantasie.“

„Ich wünschte, es wäre so. Oh ja, das wünsche ich mir wirklich von Herzen“, seufzte er.

„Was sollte es sonst sein? Was? Ich kann’s dir verraten: Es ist genau das und nichts anderes.“

Sie war überzeugt, dass es nur so sein konnte – so und nicht anders. Doch seine Augen sprachen eine andere Sprache, und irgendwie bereute sie es immer mehr, so hartnäckig auf der Wahrheit bestanden zu haben.

„Es ist schwer zu glauben. Ich weiß. Aber es ist der Fluch unserer Familie. Seit nunmehr fünfhundert Jahren.“

Plötzlich flammte eine Erkenntnis in ihr auf. So makaber es auch klang: Ihr Vater erlaubte sich einen Scherz mit ihr. Er wollte sie auf den Arm nehmen, sie necken und sie mal so richtig aufs Glatteis schicken. Sie hatte keine Zweifel mehr, oh ja, ihr Vater wollte ihr eins auswischen, er wollte sie so richtig verarschen. Aber nicht mit mir, mein Lieber! In die Grube, die du da angelegt hast, werde ich nicht fallen! Diesmal nicht!

„Woher willst du das eigentlich alles wissen? Schließlich hast du ja selbst gesagt, dass das bereits ein halbes Jahrtausend zurückliegt. In dieser Zeit kann viel passieren, das brauche ich dir nicht zu sagen. Woher also nimmst du diese … äh, Informationen?“

„Folge mir bitte.“

„Was?“

„Folge mir einfach.“

„Wohin gehen wir?“

„Du wirst schon sehen. Komm einfach mit.“

Sie verließen den Raum, und Sabine dackelte hinter ihrem Vater her. Sie hatte beschlossen das Spiel mitzuspielen, denn dafür hielt sie es, für ein abgefucktes Spiel. Doch sie würde schon bald den Spieß umdrehen und ihn dann so richtig veräppeln. Sie musste sich nur gedulden, bis sie ihre Chance witterte. Und bis dahin hieß es, weiter den Tölpel zu mimen, damit der Alte sich in Sicherheit glaubte.

Sie liefen durch das ganze Haus und schließlich in den Keller hinunter. Hier unten war es angenehm kühl. Im Sommer, wenn die Sonne brütend heiß vom Himmel brannte, war es hier gut auszuhalten. Früher war geerntetes Obst hier unten aufbewahrt worden, doch das war Geschichte. Damit ließ sich kaum noch Geld verdienen, aber der Duft der Früchte lag noch immer in der Luft, als wäre er in die Wände und den Lehmboden imprägniert.

Sabine verstand überhaupt nichts mehr. Was wollten sie bitteschön im Keller? Hier gab es doch nur noch Spinnweben, Unmengen an Staub und Ratten, igitt! Sie war noch nicht allzu oft hier unten gewesen. Aber das war bei dem ganzen Getier, das man hier antraf, ja auch kein Wunder.

Allmählich wurde ihr das Spiel zu bunt, und sie wollte schon fragen, was sie hier zu finden hofften. Doch die Frage blieb ihr im Halse stecken, als sie in das Gesicht ihres Vaters blickte. In den letzten paar Minuten schien es noch einmal um tausend Jahre gealtert zu sein. Er war blasser als eine Leiche, bleich und ausgemergelt, sein Körper zitterte wie ein Blatt im Herbstwind, und sein Atem roch vergammelt, fast modrig.

Also, ich muss schon sagen, für seinen Scherz hat er sich wirklich allerhand einfallen lassen! Bin gespannt, was er noch alles aus dem Hut zieht! Die Frage war nur: Glaubte sie das wirklich noch? War sie noch immer der Überzeugung, es handle sich nur um einen Scherz?

Egal, wie ihr Vater aussah: Er hatte noch genug Kraft, um auf ein paar Mauersteine zu drücken. Also konnte es nicht ganz so schlecht um seine körperliche Verfassung stehen. Er tat es scheinbar aufs Geratewohl. Sabine, die das Ganze skeptisch beäugte, wollte schon fragen, was der ganze Zirkus eigentlich sollte, als sie merkte, dass die Steine nachgaben. Sie gaben tatsächlich nach, etwa einen Zentimeter. Auch jetzt wollte sie etwas sagen, es brannte ihr regelrecht auf der Zunge, doch sie war zu fasziniert, um auch nur ein Wort herauszubringen. Ihr Vater drückte jetzt noch ein paar Steine, immer noch scheinbar wahllos und ohne erkennbare Ordnung. Was hatte er vor? Auch diese Steine versanken knapp einen Zentimeter im Mauerwerk.

Irgendwann hielt er inne. Er war so erschöpft, dass er nur noch flach atmete. Wieder wollte Sabine den Mund öffnen, als es plötzlich im Mauerwerk zu arbeiten begann. Es dröhnte und rumorte, und dann knarrte es wie zu Mitternacht im Spukschloss. Die Geräusche wurden immer lauter; dann aber waren sie so schnell verschwunden wie sie begonnen hatten. Die unerwartete Stille schmerzte fast in den Ohren.

Und dann sprang hinter ihr eine Tür auf. Einfach so, ohne Vorankündigung – das Knarren, Rumoren und Dröhnen konnte man ja nicht als eine solche deuten. Sabine erschrak so, dass sie wie ein aufgescheuchtes Karnickel zur Seite sprang. Normalerweise wären ihr Vater und sie in schallendes Gelächter ausgebrochen, doch sie war zu erschrocken, und als sie in seine Richtung sah (wer weiß, vielleicht konnte er ja nun nicht mehr an sich halten und würde endlich losbrüllen vor Lachen?), blieb ihr jeglicher Kommentar im Halse stecken: Ihr Vater war nun nicht mehr nur aschfahl. Er war bleich wie eine Wachsfigur. Als würde er …

Woran konnte das nur lieg …

Ihre Neugier verlangte, sich die Tür genauer anzusehen. Die Wand war mit Paneelen bekleidet und darin, zwischen den Brettern, war die Tür perfekt eingepasst. Dort, wo sich normalerweise ein Brett ins danebenliegende einschob, war die Tür. Und da sie vom Boden bis zur Decke reichte, war von ihr nichts zu sehen gewesen. Sie benötigte auch keine Klinke, sondern wurde mit den Steinen an der Wand geöffnet. Einfach im Aufbau, aber grandios in der Wirkung.

Jetzt wies ihr Vater sie an, einzutreten – das tat sie dann auch, allerdings so vorsichtig wie ein Soldat, der ein Minenfeld betritt. Ihr Vater folgte geduldig. Er war so nah hinter ihr, dass sie seinen fauligen Atem roch. Offensichtlich war er schon öfter hier unten gewesen, denn gerade in diesem Moment hörte sie in der Dunkelheit, wie er zielsicher nach einem Lichtschalter tastete. Es dauerte nicht lange, und flackernd wurde es hell.

Nun konnte sie das geheime Zimmer, das sich hier verbarg, sehen. Vor Überraschung verschlug es ihr den Atem. Es war alles in allem vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter groß und wirkte eher zweckmäßig – auf absurde Weise. In der Mitte stand ein Schreibtisch, auf dem staubige Schriftstücke lagen. An den weißen Wänden standen Regale, die ebenfalls Akten enthielten. Seltsamerweise wirkte der Raum gepflegter als der Rest des Kellers. Sogar der Boden war gefliest – allerdings war es unschwer zu erkennen, dass hier kein Fachmann gearbeitet hatte. Was ja auch logisch war: Wozu brauchte man einen geheimen Keller, wenn jeder Handwerker davon wusste?

Sie ging in den Raum hinein, und nun bemerkte sie etwas Interessantes: Die Akten und Schriftstücke waren nicht verstaubt, wie man es erwarten konnte. Sie waren nur alt. Sehr, sehr alt.

„Das, was du hier unten siehst, ist die Chronik unserer Familie. Hier findest du so gut wie alles, was sich vom zwölften Jahrhundert an zugetragen hat. Gute wie auch schlechte Dinge sind in den Papieren verzeichnet.“

Sabine konnte nicht anders. Sie fühlte beim Anblick von mehr als achthundert Jahren Familiengeschichte Ehrfurcht.

„Und hier findest du auch den Beweis für das, was ich sagte.“

„Es ist so unheimlich viel …“

„Ich weiß. Du kannst alles lesen. Es ist alles in unserer Schrift geschrieben.“

„Wie …?“

„Jedes Mal, wenn die Schrift sich änderte, sie also einer Reform unterzogen wurde, brachte einer unserer Ahnen das ganze Archiv auf den neuesten Stand. Eine langwierige und mühsame Arbeit, wie du dir sicher vorstellen kannst.“

„Wie ist es möglich, dass wir so unglaublich viele Akten über unsere Familie haben? Bei anderen ist es doch auch nicht so!“

„Wie du weißt, sind wir recht vermögend. Während andere weder lesen noch schreiben konnten, lernten es die Kinder in unserer Familie schon von früh auf. Wenn andere auf den Feldern schuften mussten, hatten die unseren ein sorgenfreies Leben. Sie brauchten selten in Kriege zu ziehen und mussten auch nie … Warum siehst du mich so komisch an?“

„Ich hatte ja schon vermutet, dass du mir mit dieser Geschichte einen Bären aufbinden willst. Und gerade eben hast du dich verraten. Du hast nämlich gesagt, der Mann von diesem Luder, die, die uns das angeblich eingebrockt hatte, wäre von seinem Pferd totgetrampelt worden. Und zwar auf seinem Acker. Gibst du jetzt zu, dass du mich verarschen wolltest? Oder willst du noch weiter spielen?“

„Du hast recht damit …“

„Na also, sag ich doch! Nicht mit mir!“

„Er starb auf seinem Acker. Es war so etwas wie ein Hobby von ihm. Er liebte es, den Boden zu bestellen, Saat einzubringen, alles wachsen und gedeihen zu sehen und irgendwann die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Das alles machte er gern, es bereitete ihm Vergnügen. Wenn du die Unterlagen durchsiehst (du brauchst sie übrigens nicht alle anzusehen): Nur der Stapel dort drüben ist in unserer Schrift verfasst, die anderen, vor allem die ältesten, werden dir vorkommen wie Hieroglyphen. Aber das wirst du alles schon herausfinden. Ich schweife schon wieder ab. Wie dem auch sei: Wenn du die Unterlagen studierst, wirst du sehen, dass eine ganze Reihe unserer Verwandten gearbeitet hat. Es war für sie ein Vergnügen, durch und durch ein Vergnügen. Warum rede ich eigentlich so viel? Du hast noch viel Zeit, dir das alles anzusehen. Ich werde jetzt gehen.“

„Aber Daddy, wo willst du denn hin? Du musst doch noch mit mir die Papiere durchsehen!“

„So gern ich das auch machen würde, es geht leider nicht, mein Kind.“

„Ja aber, warum denn nicht?“ Sabine verlor mehr und mehr die Fassung. Was meinte er damit?

„Es tut mir wirklich leid, doch ich muss gehen. Und du kannst mich nicht begleiten.“

Die Traurigkeit, die in seinen Worten schwang, machte sie noch verrückt. Was war hier nur los? Wo wollte er hin? Und warum konnte sie nicht mitkommen?

„Keine Angst, du wirst irgendwann nachkommen, aber noch nicht jetzt. Jetzt ist es zu früh. Eines Tages werden wir uns wiedersehen. Und bis es soweit ist, muss ich mich von dir verabschieden.“

„Daddy, hör sofort auf damit! Du machst mir Angst! Was hat das alles zu bedeuten? Und was meinst du damit, wir sehen uns später?“

Sabine war jetzt einer Hysterie nahe. Irgendetwas, das in seinen Worten mitschwang, beunruhigte sie, es jagte ihr regelrecht Angstschauer ein. Obwohl ihnen nichts Direktes zu entnehmen war (vielleicht war gerade das das Schlimme) ahnte sie etwas Schreckliches.

Mit einem Mal riss er die Augen auf, als würde er nach irgendetwas oder irgendjemand im Zimmer sehen, und fasste sich an die Brust. Die Hand war verkrampft wie eine Klaue. Seine Mundwinkel flatterten wie die Flügel eines Kolibris, und dann sackte er in sich zusammen. Mit einem einzigen, mächtigen Satz war sie bei ihm. Sie war viel zu geschockt, um Angst zu haben.

Als sie auf dem kalten Boden hockte und ihren Vater in den Armen wiegte, dachte sie an nichts. Ihr Kopf war leer, sogar der Schock verflogen. Sie war leer, bestand eigentlich nur noch aus der menschlichen Hülle.

Seine Lippen erzitterten, und er sagte etwas, doch es war zu leise, als dass sie es hätte verstehen können. Und genau in diesem Moment tat er seinen letzten, schweren Atemzug.

Der Wind wehte böig, bauschte sich stellenweise bis zum Orkan. Der Himmel war wolkenverhangen, schwarz und düster. Es war mehr als wahrscheinlich, dass es heute noch richtig schütten würde. Doch was war schon Regen? Was war Wind? Nichts als Nebensächlichkeiten, nichts als Launen der Natur. Die kamen und gingen irgendwann auch wieder.

Es war jetzt fünfzehn Uhr dreißig, ein Sonnabend. Ein Tag, den Sabine nie wieder vergessen würde. Heute war der Tag, an dem sie ihren Vater, ihren letzten Verwandten, zu Grabe getragen hatte.

Genau jetzt, in diesem Moment, wurden seine sterblichen Überreste der Erde übergeben. Er lag in einem schneeweißen Eichensarg mit goldenen Griffen. Ihm hätte er gewiss gefallen. Sabine hatte auf Schnickschnack wie Kapelle, Trauermusik und lange Reden verzichtet. Ihr Vater war nie ein Freund solcher Dinge gewesen. Er hätte es sich nicht so gewünscht, und da er ja bedauerlicherweise hier die Hauptrolle spielte, wollte sie, dass es in seinem Sinne ablief.

Kaum jemand war hier. Sabine stand allein am Grab. Da sie die letzte lebende Verwandte des Verstorbenen war, war das auch kein Wunder. Außer einigen wenigen Freunden ihres Vaters, die sie aber nur vom Sehen kannte, war sie allein. Aber selbst wenn der Friedhof von Besuchern übergequollen wäre, wäre sie allein gewesen. Ihr Geist hatte sie sich von der Realität abgekapselt. Zu groß war der Schmerz. Sabine hatte sich in ein selbsterrichtetes Schneckenhaus zurückgezogen, eines, in dem noch alles beim Alten war. In dem ihr Daddy seine Tochter auf dem Schoß trug und sie und der Vater des Kindes wie auf einem Familienporträt daneben standen. Hier drinnen war alles so, wie es sein sollte, hier drinnen ließ es sich aushalten …

Als ihr die Beileidsbekundungen überbracht wurden, stand Sabine nur da wie eine leblose Hülle, schüttelte ohne Kraft die Hände derer, die erschienen waren. Sie zwang sich, sich mit einem Lächeln bei ihnen zu bedanken.

Später, als alle den Friedhof verlassen hatten und wieder daheim, in ihrem eigenen Leben waren, saß Sabine auf einer Bank und starrte in den wolkenverhangenen Himmel. Sie wusste, dass das Schmerzhafteste jetzt hinter ihr lag. Und sie hoffte, dass es jetzt endlich wieder aufwärts ginge. Es konnte nicht mehr schlimmer werden. Vor dem heutigen Tag hatte sie Angst gehabt. Sie hatte ihn gefürchtet, wie ein römischer Gladiator seinen Einsatz gegen die Löwen fürchtete.

Warum fühlte sie sich nicht besser? Jetzt, da es vorbei war? Sicher, ihr war klar, dass das nicht Schlag auf Schlag gehen würde. Falls sie das glaubte, erwartete sie zu viel. So schnell konnte die Wunde, die der Verlust ihres Vaters gerissen hatte, nicht heilen. Aber sie hatte dafür gebetet, wenn es schon nicht heilte, sollte es zumindest aufhören zu schmerzen. Oder der Schmerz sollte, wenn er schon nicht schwand, wenigstens schwächer und schwächer werden.

In all den Tagen nach seinem Tod hatte sie keine ruhige Minute gehabt. Es mussten Wege gegangen werden, die Beerdigung musste organisiert, Einladungen, wenn auch nur wenige, mussten verschickt werden. Sie hatte viel zu tun und keine Zeit nachzudenken. Nun aber kehrte langsam Ruhe ein, und jetzt wurde ihr die Veränderung in ihrem Leben klar. Und obwohl sie eigentlich längst versiegt sein müssten, liefen ihr Tränen die Wangen hinunter. Sie verlangte sich zu viel ab; das begriff sie jetzt. Ihre Trauer würde noch lange andauern. Sie würde irgendwann weniger werden, doch ganz verschwinden würde sie nie.

Schwerfällig erhob sie sich von der Bank, rückte das Kleid zurecht und lief langsamen Schrittes zum Ausgang. Am liebsten wäre sie zurückgerannt, zurück zum frischen Grab und hätte mit ihren Händen die Erde beiseitegeschafft. Sie wollte und konnte nicht glauben, dass ihr Vater nicht mehr sein sollte! Es war bestimmt nur ein Irrtum! Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln! Bestimmt schlief er nur und hatte von alldem gar nichts mitbekommen! Obwohl es eine absurde Vorstellung war, klammerte sie sich an sie fest. Vielleicht war er auch ins Koma gefallen und konnte jeden Moment wieder erwachen? Was dann? Dann musste doch jemand da sein, um den Sarg zu öffnen! Man konnte ihn doch nicht dort drinnen lassen!

Fast wäre sie tatsächlich zurückgerannt. Doch sie konnte sich am Ende beherrschen. Vater war tot, und das war unabänderlich. Nichts und niemand konnte etwas dagegen tun. Es wurde Zeit, sich mit dem Schmerz zu befassen. Sie konnte ihn in Erinnerung behalten, denn so würde er in ihrem Herzen weiterleben.

Sie lief weiter, wobei ihre schwarzen Schuhe über den Kies knirschten (sie hatte sie extra hierfür gekauft). Und in der Sekunde, da sie das große eiserne Tor passierte, wusste sie, dass ein neues Leben begann. Sie wusste nur noch nicht, ob sie es lieben oder hassen würde.

Ein paar Meter die Straße hinunter parkte ihr Wagen. Schon von weitem entriegelte sie per Fernbedienung die Tür, riss sie auf und ließ sich in den Sitz fallen. Sie legte den Kopf nach hinten, versuchte die Beine auszustrecken, schloss die Augen und faltete die Hände im Schoß. Mit ihrem rechten Fuß befreite sie den linken aus dem Schuh, und als ihr das gelang, versuchte sie es auch beim anderen. Sie blieb lange so sitzen.

Irgendwann, als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, startete sie den Wagen, fuhr aus der Parklücke, sah vorschriftsmäßig in den Rückspiegel, vergaß auch den toten Winkel nicht und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein.

Sabine war nie eine rasante Autofahrerin gewesen; sie hatte es nicht besonders eilig, wenn sie einen Wagen lenkte. Sie hatte keine Angst, wie ihre Fahrweise oft falsch interpretiert wurde, sie wusste nur, dass ein Fahrzeug eine gefährliche Waffe sein konnte.

Sie schaltete das Radio ein, suchte einen Sender, der vielleicht ihre Stimmung heben konnte, fand aber keinen.

Langsam näherte sie sich ihrem Zuhause. Es erschien ihr fremd und trostlos. Viel zu groß, viel zu riesig für sie allein. All die Etagen, all die Zimmer, in denen sie als Kind herumgetollt war. Hier hatte sie ihr ganzes Leben verbracht – bis auf die paar Jahre, in denen sie studiert und im Studentenheim gewohnt hatte.

Das Studium war keine schlechte Zeit gewesen, es hatte ihr Spaß gemacht. Sie waren ein dufter Haufen gewesen, fünf Mädchen und drei Jungens. Und obwohl jeder von ihnen etwas anderes studierte, verstanden sie sich erstklassig. Wahrscheinlich gerade deshalb. So konnten sie sich wenigstens nicht die Laune verderben, wenn jemand ein Seminar in den Wind gesetzt hatte. Und dann waren da ja auch noch die wilden Partys. Wenn ihr Vater oder irgendein anderer der Eltern auch nur geahnt hätte, was da los gewesen war – Menschenskind, die hätten sie sofort nach Hause geholt, in die nächstbeste Entziehungskur gesteckt und erst dann wieder herausgeholt, wenn Gras über die Sache gewachsen war! Im Nachhinein betrachtet, konnte man die Partys mit drei Oberbegriffen zusammenfassen: Drogen, Alkohol und Spaß bis zum Abwinken. Wobei man sich absolut nicht auf die Reihenfolge festlegen sollte. Es war vorgekommen, dass kaum noch jemand aufrecht stehen konnte, da hatte die eigentliche Party noch gar nicht begonnen. Wie dem auch sei – es war eine herrliche, schöne Zeit gewesen. Doch diese Tage waren vorüber, sie lagen weit zurück, in der Vergangenheit.

Kurze Zeit nach ihrem Abschluss, sie hatte ihn erst einige Wochen in der Tasche, vermisste sie ihre Freunde. Doch das ließ mehr und mehr nach, und irgendwann vergaß sie die Erfahrungen und Eindrücke fast. Ob es den anderen auch so ging?

Warum fällt mir das gerade jetzt ein? Warum jetzt, wo ich in der Einfahrt stehe und dieses riesige Haus angucke? Dieses Haus, das jetzt einzig und allein mir gehört? Oh, ich wünschte mir von ganzem Herzen, Daddy wäre noch da …

Langsam näherte sie sich dem Eingang. Sie wollte nicht hineingehen, wollte dieses Haus um nichts auf der Welt betreten. Nie wieder. Und doch kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, öffnete die Tür, trat über die Schwelle und ließ sie lautstark hinter sich ins Schloss fallen.

Unheimliche Stille wehte ihr entgegen, hüllte sie förmlich ein. Obwohl es hier nie laut zugegangen war (schließlich fehlten andere Kinder) konnte man die Stille fast spüren. Sabine meinte sogar, sie griffe nach ihr, langsam und vorsichtig, mit zittrigen Fingern – und schließlich, wenn sie ihre Scheu abgelegt hatte, immer kräftiger. Sie lullte sie ein. So lange, bis sie schließlich ihr wahres Gesicht zeigte und sie mit Fingern, so stark wie Schiffstaue, umschlang und sie langsam und qualvoll erdrückte.

Langsam lief Sabine durch die Halle. Ihre Schuhe klapperten auf den Fliesen und sie hörte das Echo. Die Luft hier drinnen war stickig, abgestanden. Sie war unangenehm, roch vermodert, fast so, als verwese hier etwas. Nur ein Produkt meiner überreizten Phantasie, versuchte sie sich selbst Mut einzuflößen. Das klang zwar plausibel, aber lange nicht plausibel genug. Irgendetwas Merkwürdiges geschah hier, und es ängstigte sie. Doch vielleicht war auch diese Überzeugung nur ein Produkt ihrer Phantasie …

Allmählich bekam sie Kopfschmerzen. Sie wusste nicht, was sie glauben oder denken sollte. Alles stürzte auf sie ein, wie eine Lawine, die sich auf ihrem Weg ins Tal dicker und dicker frisst. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie sich von ihr befreien konnte. Würde es helfen, ein paar Mal tief durchzuatmen? Keine Ahnung, aber einen Versuch sollte es wert sein.

Sie überwand ihren Ekel vor der stinkenden, gammeligen Luft und atmete langsam ein und aus; dabei konzentrierte sie auf ihren Atem, nur auf ihren Atem. Langsam strömte Luft in ihre Lungen und nach wenigen Sekunden wieder heraus. Von dem Gestank merkte sie nichts mehr. Auch die Angst schwand. Und nachdem sie das einige Male wiederholt hatte, fühlte sie sich auch wieder wohl in ihrer Haut.

Nun, da es ihr besser ging, war es an der Zeit, den Mantel abzulegen. Sie blickte an sich herab: Ihre schwarze Strumpfhose wies ein paar Laufmaschen auf, obwohl sie noch nagelneu war. Na ja, taugte halt alles nichts mehr. Auch die glänzenden schwarzen Schuhe wirkten stumpf. Wahrscheinlich war der Staub daran schuld. Eigentlich war das nicht wichtig; sie würde diese Kleidung ohnehin nie wieder tragen.

Plötzlich überkam sie eine unbändige Lust zu duschen. Sie wollte den Staub und Schmutz des Tages abspülen, ihn einfach den Abfluss hinunterspülen und ihn aus ihrem Leben verbannen.

Gedacht, getan. Schon wenig später war sie in ihren Bademantel gewickelt, trug ein Handtuch um den Kopf wie einen Turban, stand in der Küche und sah dem Kaffee dabei zu, wie er durch die Maschine lief. Sie hatte ihn extra stark angesetzt und hoffte, dass er ihre Lebensgeister weckte. Die Dusche hatte zwar den groben Schmutz von ihr gewaschen, aber was sie sich erhofft hatte, dass es ihr danach besser ging, war nicht eingetreten. Das war enttäuschend. Es war ein Trugschluss gewesen, eine falsche Fährte. Plötzlich wusste sie, dass in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten nichts, aber auch gar nichts, ihr Empfinden verändern oder verbessern konnte.

Eine kühle Brise wehte durch die Küche, und Sabine blickte erschrocken auf. Stand irgendwo ein Fenster offen, fragte sie sich, ohne doch echtes Interesse daran zu haben. Ach ja, richtig, das Badezimmerfenster stand offen, sie hatte es selbst geöffnet. Schnell machte sie sich auf, um es zu schließen, entledigte sich, da sie nun schon mal da war, des Bademantels und zog sich eine bequeme Jogginghose an und ein T-Shirt. Auf einen Büstenhalter verzichtete sie. Sie kam sich dadurch immer eingezwängt vor und trug ihn nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, beim Sport oder zu gesellschaftlichen Anlässen.

Wie sollte es nur weitergehen? Was sollte geschehen? Was würde sie tun? Das waren durchaus interessante Fragen, über die sie da nachsann, während sie am Küchentisch saß und Kaffee schlürfte. Sie wusste nur eines: Nämlich, dass sie dieses Haus verlassen würde. Sie wollte es verkaufen und irgendwo ein neues Leben anfangen. Wo ihr Weg sie dann hinführen würde, lag noch im Dunkeln. Auf jeden Fall so weit wie möglich weg von hier, von den Erinnerungen, die sie, wenn sie ihnen nicht entwich, jahrelang quälen würden. Nein, so weit wollte sie es nicht kommen lassen. Bestimmt war es das Beste, alle Brücken hinter sich abzubrechen und irgendwo einen Neubeginn zu versuchen.

Aber nicht heute. Dieser Tag war anstrengend genug gewesen, und schon deshalb war es wenig ratsam, jetzt über diesen Schritt nachzudenken. Nein, es war besser, erst etwas Zeit verstreichen zu lassen und dann eines Tages, wenn sie sich über ihre Entscheidung im Klaren war, damit zu beginnen. Dann konnte sie alle Für und Wider gegeneinander abwägen. Schließlich musste alles genau durchdacht werden.

Sie entschied sich, ins Bett zu gehen. Sie hatte zwar einige Zweifel, ob sie überhaupt ein Auge zubekam. Die Aufregung des Tages und der Kaffeekonsum würden sie noch lange wach halten. Doch wie es sich herausstellte, waren ihre Zweifel unberechtigt: Sie schlief schon, da hatte ihr Kopf kaum das Kissen berührt.

Sabine erwachte mitten in der Nacht. Ein kurzer Blick auf den Wecker und sie wusste, dass es kurz vor drei war. Warum wurde sie zu solch unmöglicher Zeit wach? Sie hatte doch sonst immer einen tiefen Schlaf! Ihr Vater hatte mehr als einmal behauptet, man könne sie mitsamt Bett entführen und um den halben Erdball kutschieren, sie würde nichts davon mitkriegen und selig weiterschlummern. Wenn sie schlief, dann schlief sie. Und das felsenfest. Selbst wenn eine Bombe direkt neben ihr hochging.

Was also hatte sie geweckt?

Sie lag in der Dunkelheit, sah gedankenverloren zur Zimmerdecke und fragte sich, was mit ihr los war. Plötzlich wusste sie, was sie geweckt hatte: Sie hatte geträumt. Doch es war nicht irgendein Traum gewesen. Sie hatte vom letzten Tag ihres Vaters geträumt. Und das so lebhaft, als wäre es eben erst geschehen und läge nicht schon Tage zurück. Sie hatte jede Kleinigkeit noch einmal miterleben müssen. Und ihr fiel auch wieder ein, wo das Unglück geschehen war. Daran hatte sie seitdem überhaupt nicht mehr gedacht. Ihr war unbegreiflich, wie sie das vergessen konnte. War sie denn so eine Närrin?

Sabine rang mit sich. Die eine Hälfte von ihr wollte im Bett bleiben, sich die Decke über den Kopf ziehen und von nichts etwas wissen. Und die andere wollte das Gegenteil: Sie wollte aufstehen, schnurstracks in den Keller marschieren und der verdammten Sache auf den Grund gehen. Sabine war gespannt, welche der beiden Parteien den Sieg davontragen würde. Sie selbst tendierte sehr zur warmen Decke. Umso überraschter war sie, als sie plötzlich aufstand und mit forschen Schritten in den Keller ging. So viel zum Thema: Sie wäre feige.

Augenblicke später stand sie vor der mit Paneelen verkleideten Wand und war ratlos. Die Tür war zu, felsenfest verschlossen. Und da sie noch nicht einmal ihren genauen Standort kannte, konnte sie nicht prüfen, ob sie vielleicht von allein aufging, wenn sie dagegen drückte. Wer weiß, vielleicht war sie ja nur angelehnt? Die Hoffnung bestand durchaus; sie konnte sich nämlich nicht erinnern, sie verschlossen zu haben. Angestrengt dachte sie nach, wer es wohl sonst gewesen sein könnte.

Damals war sie wie eine Furie nach oben gerannt, um den Notarzt zu rufen, und gleich darauf hatte sie die Haustür geöffnet, damit er ungehindert Zutritt hatte. Dann war sie wieder in den Keller gehastet – und hatte dabei unaufhörlich „Nein, nein, nein, bitte nicht!“ gejammert. Wenig später, ihr Zeitempfinden war einer formlosen Masse gewichen, saß sie wieder im Keller, hatte ihren Vater fest in die Arme genommen und begann, als sie den Arzt endlich hörte, laut zu schreien.

Und als dieser Teil der Tragödie endlich endete und sein Leichnam abtransportiert wurde, lief sie mit bis zu der schwarzen Limousine. Bis dahin war ihr alles vorgekommen wie ein Alptraum. Doch dann, als sie den schwarzen Leichenwagen vor dem Haus parken sah und mit ansehen musste, wie ihr über alles geliebter Vater hineingeschoben wurde, begriff sie die Wahrheit. Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen. Und dann liefen ihr die Tränen.

An all das erinnerte sie sich. Aber nicht daran, wie die Tür verschlossen worden war. Wie zum Teufel war es möglich, dass sie es jetzt war?

Sie lief ein Stück an der Steinwand entlang, beäugte sie und drückte ihre Nase an jedem Stein platt. Sie war verdammt nah an ihr dran, konnte aber beim besten Willen kein Anzeichen dafür entdecken, dass sie vor nicht allzu langer Zeit berührt worden war. Nicht der kleinste Fingerabdruck, obwohl das doch eigentlich unmöglich war. Hier unten war doch überall Staub, und ausgerechnet an den Steinen war keiner. Wie war das nur möglich?

Konnte sie die Geduld aufbringen, jeden einzelnen zu drücken? Und selbst wenn sie das täte, würde es etwas nutzen? Was war, wenn sie in einer bestimmten Reihenfolge gedrückt werden mussten? In einer Art Code? Wenn dem so war, hatte sie hier unten ein Weilchen zu tun. Ob sie die Kraft dafür haben würde? Das wusste sie nicht, aber sie war wild entschlossen, es herauszufinden.

Sie wollte sofort beginnen. Sie strotzte nur so vor Tatendrang. Doch dann überlegte sie, dass es besser wäre, bis zum Tag zu warten. Jetzt war es dunkel und unheimlich hier unten, und selbst die Lampe an der Decke machte es kaum heller. Vielleicht stiegen so auch ihre Chance auf Erfolg? Ja, das war eine gute Idee. Sobald der Tag angebrochen ist, werde ich mit meiner Arbeit hier anfangen. Dann bin ich auch ausgeschlafen, dachte sie.

Sie knipste das funzelige Licht aus, schlurfte in Richtung Bett und fiel der Länge nach hinein. Da schlief sie schon halb. Das Letzte, was sie sagte (aber davon bekam sie schon gar nichts mehr mit), war: „Er hat etwas gesehen“.

Der Zorn der Hexe

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