Читать книгу 8 Verse für ein Halleluja - Lars Quittkat - Страница 6

Sonntag, 13. Juni, morgens kurz vor zehn

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Günter Neumann stöpselte die schwarzen Knöpfe in die Ohren, dann drückte er auf Play. Eine elektrische Gitarre kreischte auf und fräste sich wie eine Kreissäge durch seinen Kopf. Dann brach die Band los, laut und heavy. Sein Hirn wummerte, sein Kopf nickte im Takt. Günter bereitete sich auf seinen Einsatz vor. Er brauchte diese Auszeit, eine Viertelstunde, bevor der Gottesdienst anfing.

Unten im Kirchenschiff begrüßten sich die ersten Leute und unterhielten sich leise. Günter hörte von dem Gemurmel nichts. Er saß oben auf der Orgelempore im abgeschotteten Raum der harten Klänge. Der treibende Rhythmus schickte Energiestöße durch seinen Körper, als fasste er an einen elektrischen Weidezaun.

‚So muss es sein‘, dachte er, ‚das ist der ideale Sound!‘ Gleich würde er ein Orgelpräludium von Bach spielen. Genau so!

Er ließ den Blick von oben über die Gemeinde schweifen. Da waren die üblichen Gottesdienstbesucher. Zum Beispiel Frau Rustig. Die war schon siebenundachtzig.

‚So sieht sie gar nicht aus‘, dachte Günter. Klein und schlank saß sie in ihrer Bank, und es war ihm, als könnte er selbst von hier oben ihre wachen Augen munter blitzen sehen. Jetzt wendete sie sich ihrer linken Nachbarin zu und schien ihr etwas zu erzählen, während diese so aussah, als hätte man sie gerade unsanft geweckt. Natürlich, wo Frau Rustig war, konnte Frau Ehrmann nicht weit sein. Mit ihrem altmodischen Haarknoten sah sie älter aus als ihre Freundin, war jedoch in Wirklichkeit zwei Jahre jünger; sie ging auf ihren fünfundachtzigsten Geburtstag zu. Im Gegensatz zu der kleinen aufgeweckten Dame neben ihr schien Frau Ehrmann wirklich schlecht geschlafen zu haben; sie sah müde aus. Günter ahnte, dass ihr spätestens bei der Predigt die Augen zufallen würden. Regelmäßige Kirchgänger störte das allerdings nicht, denn sie waren es gewohnt. Frau Ehrmann war noch bislang in jedem Gottesdienst eingeschlafen. Nicht einen Sonntag hatte sie gefehlt und nicht einen Sonntag war sie wach geblieben.

‚Wenn sie einmal nicht kommen würde‘, überlegte er, ‚würden sich wahrscheinlich alle verwirrt fragen, ob man ohne sie überhaupt anfangen könne.‘ Sie gehörte einfach zum Gottesdienst wie die Kerzen zum Altar. Genauso wie ihr Dackel Billy, mit dem sie immer unterwegs war und der sonntags drüben unter dem Vordach des Gemeindehauses wartete, bis sein Frauchen in der Kirche ihren Schlaf nachgeholt hatte. Zum Glück war Billy ein geduldiges Tier und harrte aus, ohne zu jaulen.

Ein älterer Herr marschierte mit entschlossenem Schritt den Mittelgang entlang.

‚Wie immer tadellos gekleidet, unser Herr Brammer‘, dachte Günter und betrachtete den Mann im perfekt sitzenden Nadelstreifenanzug. Auch wenn es nicht sein eigener Kleidungsstil war – Günter gehörte eher der Jeans-und-T-Shirt-Fraktion an – so musste er doch neidlos anerkennen, dass sich der Kirchenvorsteher Brammer geschmackvoll zu kleiden wusste, schlicht, aber mit Understatement. Wenn nur nicht seine Krawatten so langweilig wären.

Jetzt hatte Herr Brammer die Bank der Kirchenvorsteher erreicht, stellte sich kerzengerade hin, die Hände in Hüfthöhe verschränkt und senkte ruckartig den Kopf zum Gebet. Zackig wie auf dem Kasernenhof, so kam es Günter vor und er fragte sich, ob Herr Brammer am Jüngsten Tag vor Gott wohl auch die Hacken zusammenschlagen würde.

Dem Rhythmus der E-Gitarre folgend wanderte Günters Blick weiter ins Seitenschiff. Da entdeckte er Oliver Schütz unter der Anschlagtafel mit den Nummern der Lieder. Zusammengesunken saß er in der Bank, als wollte er sich verstecken. Günter kam es so vor, als hätte sich der eh schon unauffällige Mann heute Morgen auch noch extra unauffällig angezogen; sein sandfarbenes Hemd schien fast mit der Wandfarbe des Pfeilers neben ihm zu verschmelzen.

‚Wie alt ist der eigentlich?‘, fragte sich der Organist. Vielleicht Mitte dreißig? Günter konnte Olivers Alter schwer schätzen. Wie von einem Hochsitz aus beobachtete er von der Orgelempore, wie der Kopf von Oliver Schütz immer wieder hinter dem bereits aufgeschlagenen Gesangbuch verschwand, sodass nur noch die etwas strubbeligen Haare dahinter hervorschauten. Er blätterte in den Seiten herum, als suchte er etwas Bestimmtes. Die Augen hinter seiner Brille waren konzentriert auf die Noten gerichtet, doch immer wieder sah er sich verstohlen um. Günter lächelte.

‚Ich weiß, was du suchst‘, dachte er, ‚oder genauer gesagt, wen...‘

Ein Rumpeln und Krachen ließ ihn hochschrecken. Das drang sogar durch seine Kopfhörer. Auch alle anderen Köpfe fuhren herum zur Eingangstür. Dort bückte sich die Küsterin mit hochrotem Kopf nach den Gesangbüchern, die ihr gerade auf den Boden gefallen waren.

‚Die arme Rita‘, seufzte Günter innerlich. Er wusste, wie peinlich ihr das sein musste. Und prompt war auch schon Frau Matzke zur Stelle. Wild gestikulierend kam sie aus dem hinteren Teil der Kirche auf die Küsterin zugestürzt und zischte ihr drohend etwas zu. Mitfühlend sah Günter, wie Rita Stark sich an ein Gesangbuch wie an einen Schutzschild klammerte.

Kaum war Frau Matzke mit einem missbilligenden Kopfschütteln wieder abgezogen, verfinsterte sich plötzlich der Eingang. Ein Männerkörper in Cordhosen und einem karierten Holzfällerhemd von der Größe eines Zeltes füllte die offene Kirchentür komplett aus.

‚Sieh an, der Thoma‘, dachte Günter und sah zu, wie der Hüne auf die Küsterin zuging, die noch ganz durcheinander war. Doch sein offenes Lächeln und die gemütliche Ruhe, die dieser Mann ausstrahlte, schienen Rita Stark zu beruhigen. Mit freundlichem Nicken nahm er ein Gesangbuch entgegen, das in seiner riesigen Hand fast ganz verschwand, ging zu einer der hinteren Reihen und quetschte sich mit einem leisen Stöhnen in die Bank. Günter betrachtete den massigen Mann amüsiert. Vor ungefähr zehn Jahren war Josef Thoma aus Oberbayern hierher in das Dorf ins niedersächsische Flachland gezogen. Den Kulturschock schien er mit gemütlicher Lässigkeit zu ertragen. Immer wieder lieferte Herr Thoma sich mit Pastor Braun heftige Diskussionen, denn er war ein notorischer Skeptiker. Er zog offenbar alles in Zweifel und es schien, als glaubte er an nichts. Dennoch kam er regelmäßig in die Kirche, worüber sich viele wunderten. Meistens traf Herr Thoma zusammen mit Irene Anders und ihrer Tochter Leonie ein; sie waren Nachbarn und hatten denselben Weg zur Kirche. Günter schaute zurück zum Eingang. Wo blieben die Mädels denn heute? Da kam Leonie auch schon durch die Tür gelaufen. An einer Bank weiter vorn blieb sie stehen und drehte sich zu ihrer Mutter um, die sich noch kurz mit Rita Stark unterhielt. Auch Günter musste zugeben, dass Irene Anders zu den schönsten Frauen gehörte, die er kannte, einschließlich ihrer dreizehnjährigen Tochter. Beide waren unbefangen und sich ihrer Schönheit offensichtlich nicht bewusst.

Er sah automatisch zu Oliver Schütz hinüber, der nun stocksteif und angespannt in seiner Ecke saß. Auch er sah nun betont in eine andere Richtung, als Mutter und Tochter in der Reihe vor ihm Platz nahmen und ihn mit einem freundlichen Nicken grüßten.

Etliche Augenpaare blickten verstohlen zwischen Irene und Oliver hin und her. Günter seufzte. Dass die beiden nicht merkten, was los war! Seit mindestens einem Jahr schwärmte der schüchterne Oliver bereits für Irene Anders. Alle sahen es und alle wussten es, nur eben Irene anscheinend nicht. Oliver war viel zu schüchtern, um etwas zu unternehmen und litt lieber. Günter schüttelte den Kopf. Das konnte man ja bald nicht mehr mit ansehen. Das Wummern in seinen Ohren nahm zu.

Er schaute auf seine Armbanduhr; noch vier Minuten bis zum Auftakt des Orgelvorspiels. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick durch die Reihen schweifen. Bei den Konfirmanden unter der Empore war wie immer geschäftige Unruhe. Mittendrin erkannte er Johannes Braun, den Sohn des Pastors, neben seinem besten Freund Max. Normalerweise langweilten sie sich durch den ganzen Gottesdienst und zeigten das auch auf Art von Zwölfjährigen. Aber heute hatten sie in ihrer Ecke die Köpfe zusammengesteckt und beugten sich über irgendetwas, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

‚Was immer es auch ist‘, mutmaßte Günter, ‚eine Bibel bestimmt nicht.‘

Mittlerweile waren alle da. Auch heute kamen sie auf den amtlichen Durchschnitt von 65 Gottesdienstbesuchern.

‚Alles wie immer, alles beim Alten‘, konstatierte Günter und wollte sich gerade die Stecker aus den Ohren herausziehen und sich seinen Noten zuwenden, da schwang die Tür im Seitenschiff noch einmal auf und Marieke kam unter einem wilden Trommelsolo in Günters Ohren hereingeschwebt. An ihrer Hand zog sie einen jungen Mann mit sich.

Günter holte tief Luft und konnte seine Augen nicht von ihm lassen. Auch andere Augenpaare musterten fassungslos das ungleiche Pärchen. Die blonde Sechzehnjährige frisch und fröhlich in Jeans und Blümchenbluse bildete einen auffallenden Kontrast zu ihrem Begleiter. Eingehüllt in ein schwarzes T-Shirt, eine schwarze Lederhose und die langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, passte der Typ genau zu der Heavy-Metal-Musik, die Günter immer noch in den Ohren wummerte. Günter erkannte sich in dem jungen Mann wieder, auch wenn seine Haare nicht mehr so lang und eher schütter waren. Unwillkürlich strich er sich der mit der Hand über die Stoppelhaare rund um seine Glatze. Auch trug er einen ganzen Klempnerladen an den Ohren! Günter kniff die Augen zusammen und schaute noch einmal genauer hin: Erstaunlich, wie viele Ringe und Stecker an so ein winziges Ohr passten. Fasziniert beobachtete er, wie der junge Mann die alten Damen links von ihm lächelnd grüßte. Sie lächelten schwach zurück und rückten ängstlich von ihm ab, ganz im Gegensatz zu Marieke, die sich von der anderen Seite dicht an ihn schmiegte. Kein Zweifel, das also war der neue Freund der Pastorentochter.

‚Alle Achtung‘, staunte Günter, ‚nicht übel. Wäre auch mein Geschmack gewesen.‘

Sein Blick glitt zur Uhr: Es war Zeit. Er drehte den Lautstärkeregler herunter. Mit der ausblendenden Musik klang auch das Glockengeläut ab. Günter Neumann zog die Register und brachte Hände und Füße in Position. Jetzt kam die Steigerung, die Krönung des Rock, die höchste Dimension, das Beste, das, mit dem sich Heavy-Metal niemals messen konnte – Johann Sebastian!

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8 Verse für ein Halleluja

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