Читать книгу 8 Verse für ein Halleluja - Lars Quittkat - Страница 7

Sonntag, 13. Juni, kurz vor Ende des Gottesdienstes

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Er wappnete sich für das letzte Lied, das Gesangbuch aufgeschlagen in der Hand. Gleich war der Gottesdienst vorüber. Von seiner Kirchenvorsteherbank aus sah er, wie Günter Neumann oben an der Orgel die Register zog. Sein Blick schweifte weiter durch das Kirchenschiff: Lauter eingezogene Köpfe.

‚Typisch‘, dachte er. Niemand traute sich, den Missständen in dieser Gemeinde Einhalt zu gebieten. Aber nicht mit ihm, Eberhard Brammer. Er würde Widerstand leisten, hoch erhobenen Hauptes, der letzte Fels in der Brandung! Seine Finger krampften sich um das Gesangbuch, sein Körper straffte sich. Er nahm Haltung an wie ein Verurteilter, der die tödlichen Kugeln erwartete. Da dröhnte die Orgel los und es kam ihm vor, als wenn eine Salve lauter, schräger Akkorde ihn mitten in die Brust treffen würde. Es war einfach unerträglich. Wie oft schon hatte er Pastor Braun darum gebeten, diese Klänge zu verbieten, erst letzte Woche wieder.

„Der Neumann muss weg“, hatte er dem Pastor gesagt, „der spielt die Orgel wie ein Rowdy. Wie der sich schon auf die Orgelbank setzt, als wenn er auf ein Motorrad steigt! Barbarisch ist das!”

„Aber er spielt doch nicht falsch, oder?“, hatte Pastor Braun wie jedes Mal erwidert. „Er spielt, was im Choralbuch steht, Note für Note.”

„Ja, sicher. Er spielt die richtigen Noten. Aber wie! Meine Güte, Herr Braun, Sie wissen doch, was ich meine.”

„Ja, ich weiß. Er spielt eben leidenschaftlich.”

„Leidenschaftlich? Besessen, wie von der Tarantel gestochen! Wie kriegt er bloß diese infernalischen Töne aus unserer Orgel heraus? Die ist von 1685. Das geht doch nicht!”

„Allerdings, das ist schon ungewöhnlich, aber ...”

„Aber was soll man auch erwarten von einem Organisten, der selbst lauter Schundmusik hört? Da kann ja nichts Rechtes dabei herauskommen!”

„Nana, Herr Brammer“, hatte Pastor Braun ihn zu beschwichtigen versucht, „wir können unserem Organisten doch nicht vorschreiben, welche Musik er privat hört, oder? Außerdem sind das, soviel ich weiß, alles Bands, die christliche Musik machen.”

„Da sieht man mal wieder, wohin wir schon gekommen sind, Herr Pastor! Wenn das christliche Musik ist, dann möchte ich nicht wissen, was man in der Hölle zu hören bekommt. Es geht bergab mit unserer Kirchenmusik, das sag ich Ihnen. Und ich als Vorsitzender des Kirchenvorstands habe die Verpflichtung und den Auftrag, diesen Auswüchsen entgegenzutreten. Ich werde es nicht dulden, dass in unserem Gottesdienst die nötige Würde und der Respekt fehlt!“

Schwer atmend, mit hochrotem Kopf, hatte er den Pastor angefunkelt und die Hände geballt.

„Aber, aber, Herr Brammer, beruhigen Sie sich“, hatte Pastor Braun gesagt, „so weit sind wir doch noch nicht ...”

„Und so weit soll es auch nicht kommen!“, hatte er völlig außer sich gefaucht. „Soll der Neumann doch woanders Krach machen, aber nicht in meiner Kirche! Außerdem ist er ein schlechtes Vorbild für unsere Konfirmanden. Die sitzen auch schon alle mit Stöpseln in den Ohren da.“

Pastor Braun hatte milde gelächelt: „Das würden sie auch ohne unseren Organisten tun, Herr Brammer. Außerdem ist er eine Hilfe für uns. Wir haben die Regel vereinbart, dass zu Beginn des Gottesdienstes die Kopfhörer runtergenommen und die Musik abgeschaltet wird. Wenn Herr Neumann ausmacht, machen die Konfis das auch. Das klappt doch prima!“

„Da sieht man, wie stark bereits sein Einfluss auf unsere Jugend ist! Zu meiner Zeit hat es so etwas nicht gegeben!”

„Zu Ihrer Zeit gab es auch noch nicht diese Musikkultur.”

„Kultur nennen Sie das? Die hören doch nur noch Rumtata. Da kennt doch keiner mehr die alten Choräle.”

„Doch, Herr Neumann kennt sie. Er hört beides. Auch darin ist er ein Vorbild für unsere Jugend. ”

Herr Brammer hatte verächtlich geschnaubt.

„Ein Vorbild für die Jugend – ein schwuler Organist?”

„Vorsicht, Herr Brammer!“, hatte der Pastor ihn gewarnt. „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!”

„Aber es stimmt doch, oder? Das weiß hier jeder!”

„Und ich hoffe, es weiß auch jeder, dass Herr Neumann ein gläubiger Mensch ist, und dass Jesus am Kreuz für alle Sünder starb.”

Nun stand er wieder einmal hier in der Kirchenbank, wie jeden Sonntag, und dachte verbittert über diese Gespräche und Missstände in seiner Kirche nach. Braun hielt zu Neumann, da war nichts zu machen. Aber er, Eberhard Brammer, würde nicht aufgeben!

Die Intonation war vorbei, die erste Strophe folgte.

Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt

der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt ...

Er erhob sich, nahm den Klingelbeutel und gab ihn durch die Reihen. Münzen fielen auf Münzen: Klick-klick-klack. Der schwarze Samtbeutel mit dem geschnitzten Holzgriff wanderte von Hand zu Hand, vorbei an Oliver Schütz zu Irene Anders, zu ihrer Tochter und wieder zu ihm zurück.

‚Ein wohlerzogenes Mädchen‘, dachte Herr Brammer, ‚und das, obwohl die Mutter alleinerziehend ist! Diese modernen Frauen schaffen es alle nicht, einen Mann bei sich zu halten.‘

Nun nahm ihm Johannes, der Pastorensohn, den Klingelbeutel ab. Auch über dieses Bürschchen gab es so einiges zu sagen! Wo immer Lausebengel etwas ausheckten, war er nicht weit. Wo blieb da die christliche Erziehung im Pfarrhaus? Herr Brammer fasste sich an die Stirn; sein Kopf schmerzte ob all dieser Unzulänglichkeiten.

Jetzt sah er, wie drei Bänke weiter vorn Frau Rustig ihre Nachbarin sanft anstieß. Ruckartig hob Frau Ehrmann den Kopf, blinzelte um sich und kramte dann hastig in ihrer Handtasche nach dem Portmonee. Herr Brammer setzte eine strenge Miene auf. Dass die Ehrmann immer einschlafen musste! Es war stets dasselbe: Kaum hatte der Gottesdienst begonnen, schon war sie weg! Na, wenigstens störte sie nicht durch lautes Schnarchen. Er rieb sich die pochenden Schläfen.

Der Klingelbeutel wanderte weiter in die hinteren Reihen und er folgte. Schließlich reichte ihm eine riesige Hand den Beutel herüber.

‚Der Bayer‘, dachte Brammer verächtlich, ‚kommt zum Gottesdienst, nur um danach ungläubige Reden zu schwingen. Kann der nicht einfach mal seinen Mund halten und glauben?‘ Er, Eberhard Brammer, tat das schließlich auch.

Dem Herren musst du trauen, wenn dir‘s soll wohlergehn;

auf sein Werk musst du schauen, wenn dein Werk soll bestehn ...

Klick-klick-klack – im Takt der Orgel lief der Klingelbeutel durch die Bänke. Münzen auf Münzen. Auch typisch für diese Gemeinde. Der Pastor predigt über das Wort Gottes, das sich ausbreiten soll in der Welt und dann gibt man Kleingeld für die Weltmission. Wenn er selbst nicht zu Anfang den Fünfeuroschein hineingesteckt hätte, gäbe es hier keinen, der wirklich Konsequenzen aus der Predigt ziehen würde! Herr Brammer wusste, was die Leute von ihm hielten. Halsstarrig und intolerant sei er. Dabei ging es ihm nur darum, Würde und Tradition zu bewahren! Natürlich musste man in gewissem Sinn tolerant sein; man konnte christliche Werte nicht von Leuten verlangen, die der Kirche gleichgültig gegenüberstanden. Das war Herrn Brammer klar. Deshalb war ja Weltmission so wichtig. Jeden sollte die christliche Botschaft erreichen, damit aus Heiden wieder anständige Leute wurden. Der junge Mann neben Marieke zum Beispiel schien Vergebung und Mission nötig zu haben. Weiß der Himmel, woher sie den angeschleppt hat! Sein Blick fiel missbilligend auf Mariekes Hand, die auf dem Knie des jungen Mannes lag; und das als Pastorentochter!

‚Wäre ich ihr Vater, würde ich ihr einiges erzählen‘, dachte Brammer.

Dein ewge Treu und Gnade, o Vater, weiß und sieht,

was gut sei oder schade dem sterblichen Geblüt ...

Der Klingelbeutel wanderte auf Marieke zu und der Lederjackentyp suchte in seinen Taschen.

‚Gib dir keine Mühe‘, dachte Brammer, ‚vor mir musst du nicht so tun, als gäbe es bei dir irgendetwas zu holen, außer natürlich Bierdosen und weiße Ratten.‘ Herr Brammer fühlte einen Schauer über seinen Rücken laufen. ‚Nimm doch gleich einen deiner Ohrstecker und wirf ihn hinein‘, dachte Herr Brammer abfällig.

Jetzt schien der junge Mann doch etwas gefunden zu haben. Marieke reichte ihm den Klingelbeutel. Seine Hand tauchte aus der Innentasche der Jacke auf, zwischen den Fingern einen Zehneuroschein! Lautlos ließ er ihn in die Kollekte gleiten, bevor er den Samtbeutel mit einem Lächeln an Herrn Brammer weiterreichte.

Fassungslos starrte dieser zuerst auf das Piercing in der lächelnden Unterlippe vor ihm und dann auf den Klingelbeutel, bevor seine Augen dem offenen Blick des jungen Mannes begegneten. Abrupt wandte sich Herr Brammer ab und ging nach vorn.

Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Not;

stärk unsre Füß und Hände und lass bis in den Tod ...

Er legte die Kollekte auf den Altar und hielt einen Augenblick inne. Er war wie vor den Kopf geschlagen. In ihm rumorte eine Mischung aus Scham, Verwirrung und Wut. Was bildete sich dieser langhaarige Schnösel eigentlich ein? Wollte er ihn vorführen? Auf dem Weg zurück zu seinem Platz war es ihm dann ganz klar: Das war eine gezielte Provokation gegen ihn, eine Verhöhnung seiner Position als Hüter kirchlicher Ordnung und ein Anschlag auf die Grundfesten seines Wertegebäudes.

... uns allzeit deiner Pflege und Treu empfohlen sein, ...

Keine Frage: Die Kirche ging zugrunde, hier vor Ort. Was sollte als Nächstes noch alles kommen? Würde er gemäß seines Amtes als Kirchenvorstandsvorsitzender die nötige Kraft haben, dem standzuhalten?

... so gehen unsre Wege gewiss zum Himmel ein.

Vor dem Altar breitete Pastor Braun die Arme aus: “Lasst uns beten!”

Herr Brammer erhob sich, knöpfte sein Jackett zu und zog es mit einem Ruck straff, dass es wieder korrekt saß. Dann faltete er die Hände, wie es sich für einen anständigen Christenmenschen gehörte.

***

8 Verse für ein Halleluja

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