Читать книгу 8 Verse für ein Halleluja - Lars Quittkat - Страница 8

Sonntag, 13. Juni, direkt nach dem Gottesdienst

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„Auf Wiedersehen – auf Wiedersehen – gesegneten Sonntag ...“ Pastor Theo Braun stand am Ausgang der Kirche und schüttelte Hände. Rita Stark nahm die Gesangbücher entgegen und räumte sie wieder ins Regal, während die Gottesdienstbesucher den Opferstock mit Geld fütterten, bevor sie sich vom Pastor verabschiedeten. Konfirmanden schlüpften an ihm vorbei; sie hatten es eilig, nach Hause zu kommen. Andere wünschten Pastor Braun einen schönen Tag und Gottes Segen.

„Vielen Dank für die schöne Predigt, Herr Pastor.“ Frau Rustig lächelte ihn an und drückte seine Hand mehrmals. „Das hat mich wieder richtig aufgebaut. Und dazu die schöne Musik! Ich sag noch zu Magda: „Magda, sag ich ... Magda?“ Suchend sah sie sich um. „Eben war sie doch noch hinter mir. Wo ist sie denn geblieben?“

„Sie ist noch mal zurück gegangen“, rief die Küsterin herüber, „sie hat ihre Handtasche in der Bank vergessen.“

Frau Rustig schüttelte den Kopf. „Tja, was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben, sag ich immer. Magda kommt sicher gleich nach. Schönen Sonntag allen zusammen!”

Theo Braun sah ihr nach, wie sie mit leicht federndem Schritt zum Friedhof hinüberging. ‚Trotz ihres Alters ist sie noch ganz gut in Form‘, dachte er. Da fiel ein Schatten auf ihn. Mit den Ausmaßen eines Kleiderschranks stand Herr Thoma vor ihm und lächelte auf ihn herab. „Grüaß Gott, Herr Pfarra!“

Eine Hand von der Größe einer Bratpfanne streckte sich ihm entgegen.

„Herr Thoma“, grüßte Theo den Riesen, „einen gesegneten Sonntag wünsch ich Ihnen.“

„Gleichfois, gleichfois! Scheene Predigt übrigens. Von dem Woat, des ned laar zua Gott zuaruggkehrt ... wobei mia beide wissn, dass man as ned so eifach auf de ganze Bibl ibatrogn konn. De Bibl ois Woat Gotts ... da hobn doch Menschn imma wieda voneinanda obgschriebn und hinzugedichtet und so weida.”

‚Ich wusste doch, dass da was kommt‘, dachte Theo und schaute ihn bemüht aufmerksam an. „Sie wollen sagen, dass die Bibel nicht das Wort Gottes ist?“

„Richtig! Des hobn si doch Menschn ausgedacht. Außerdem han da jede Menge heidnischa Mythn eigflossn. Ois nur Legendn. De wurdn ibaliofert und imma wieda verändat.”

„Wenn Sie das so sagen, hört sich das an, als wäre die Bibel das Ergebnis eines Märchenerzählwettbewerbs im Vorderen Orient. Ich glaube nicht, dass es so war.”

Mittlerweile hatten alle Gottesdienstbesucher die Kirche verlassen. Etliche standen noch in Grüppchen auf dem Kirchplatz zusammen und unterhielten sich. Rita Stark löschte die Kerzen und räumte auf.

„Aba de Wissenschoft hod doch festgestäit, dass auf de biblischn Schriftn gar koa Verlass is“, fuhr Herr Thoma fort.

„Nun machen Sie mal halblang, Herr Thoma“, begehrte Theo Braun auf, „die einzige Quelle der alttestamentlichen Wissenschaft ist über weite Strecken das Alte Testament selbst. Man kann doch nicht den Ast absägen, auf dem man sitzt.”

„I glaub jedenfois ned, dass Gott aus desn Texten spricht. De han doch Jahrtausende oit.”

„Na und? Gott ist ja älter und tausend Jahre sind vor ihm wie ein Tag. Meinen Sie nicht, dass Gott, wenn er allmächtig ist, auch durch menschliche Schriften sprechen kann?”

„Ja, wenn er oimächtig ist.”

„Sie meinen wohl, wenn es ihn überhaupt gibt?”

„Genau, as is da springende Punkt! Wa sogt mir denn, dass es Gott ibahaupt gibt?” Herr Thoma ließ nicht locker.

„Die Bibel.” „Aba de konn man doch gar ned ernst nehma.”

„Das sagen Sie. Ich nehm sie schon ernst“ sagte Theo mit Inbrunst, „übrigens befinden Sie sich gerade in einem Zirkelschluss.”

Herr Thoma schnaufte unwillig. „I hob den Eidruck, mia drehn uns im Kreis.”

Theo Braun lächelte. „Sag ich doch. Aber Sie meinen, Glauben muss durch Ihren Kopf, und nur, was Ihr Gehirn als wahr zulässt, kann dann auch wahr sein, stimmt’s?”

Herr Thoma wiegte nachdenklich den Kopf. „Des hört sich vermessn an, i woiss. Aba i kann jetzt moi ned anders. Nietzsche hod ja moi gsogt ...”

„Der arme Pastor Braun!“, empörte sich Frau Matzke, die mit anderen Kirchgängern noch auf dem Kirchplatz zusammen stand. Sie sah mitleidig zu dem ungleichen Paar vor der Kirchentür hinüber, das gestenreich diskutierte.

„Jedes Mal ist es dasselbe! Immer muss dieser King Kong ihn nach dem Gottesdienst mit seinen Fragen bedrängen“, schimpfte sie, „unmöglich finde ich das!“ Sie schaute Beifall heischend in die Runde.

„Ich frage mich, warum er überhaupt kommt“, meinte Frau Pohlmann und suchte in ihrer Handtasche herum, „er glaubt doch an nichts.“

„Woher wissen Sie das so genau?“, fragte Irene Anders. „Außerdem kann er trotzdem kommen. Das hat Jesus doch selbst gesagt, oder? Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid ...”

„Der ist nicht mühselig und beladen, der ist nervtötend!“ Frau Matzke schoss ein paar giftige Blicke in Richtung Kirchentür. „Klar kann er kommen, aber dann soll er gefälligst glauben, was der Pastor sagt und ihn mit seiner ständigen Fragerei in Ruhe lassen! Der Mann muss sich doch auch mal erholen! Wenn jeder so auf ihn einstürmen würde ...”

„Vielleicht fände er das ja gar nicht so schlecht“, erwiderte Frau Pohlmann und fischte eine Packung Papiertaschentücher aus ihrer Handtasche.

„Heuschnupfen?“ Irene Anders hielt die Tasche, während Frau Pohlmann geräuschvoll nieste.

„Gesundheit!“, kam es von Frau Matzke.

„Danke“, schniefte Frau Pohlmann, wobei es unklar war, welche der beiden Frauen sie meinte, „kaum wird das Wetter schön, kommt die Pollenallergie. Furchtbar!”

„Ich denke, ein Pastor ist auch für solche Gespräche da, oder?“, griff Irene Anders das Thema wieder auf.

„Ja, aber doch nur, wenn jemand in seelischer Not ist!“, beharrte Frau Matzke. „Und nicht, wenn man so ein ausgemachter, streitsüchtiger Querkopp ist! Wäre der bloß in Bayern geblieben!“ Frau Matzke schaute zunehmend ärgerlicher zu den beiden Männern hinüber.

„Was bis du heute wieder biestig, Frieda!“, bemerkte Frau Pohlmann zwischen Schnäuzen und Niesen. „Ich glaube, damit wird Pastor Braun schon fertig. Doch Ruhe, das stimmt, braucht ein Pastor auch einmal!”

„Sag ich ja, Hilde! Ist doch mein Reden die ganze Zeit!“, gab Frieda Matzke schnippisch zurück. Wieder blitzten ihre Augen zur Kirchentür. Dort gaben die Männer sich gerade die Hand und trennten sich.

„Na endlich“, stieß Frau Matzke hervor, und im nächsten Moment sah man sie stark gestikulierend auf Theo Braun zueilen: „Pastor Braun, einen Moment bitte! Eine Frage wegen der Tischdecken im Gemeindehaus ...”

„Da arme Pfarra!“ Mit einem mitleidigen Kopfnicken in Richtung Kirchentür gesellte sich Josef Thoma zu Oliver Schütz, der unschlüssig in der Gegend herumstand. „De guade Frau Matzke bestürmt ihn moi wieda mit ihrn wichtigen Oliogn. Doa möcht i ned in de Hände foin.”

Oliver Schütz lächelte schwach: „Nein, sicher nicht.“ Sein träumerischer Blick wanderte von Irene Anders zur schnatternden Frieda Matzke und wieder zurück zu Irene Anders.

Josef Thoma folgte seinem Blick.

„Hübsch, de Frau Anders“, sagte er.

Oliver fühlte sich ertappt. Er seufzte: „Ja ...“

Beide beobachteten, wie Leonie zu ihrer Mutter lief.

„Ihre Tochta is a feins Madl“, sagte Josef Thoma, „und wia beide mitaand umgehn ... ei scheenes Bild ... dobei hot sie es gar ned leicht ois oieinerziehende Muada.”

„Kennen Sie sie näher?”, fragte Oliver hoffnungsvoll.

„Na ja, schließlich wohn i im Haus gegeniba.”

„Und ... Sie haben ... mit ihr ... ich meine ...”, stammelte Herr Schütz unsicher.

„Na, nur gelegentli. Man sieht si hoit, ned wahr? Mia laufa uns ebn iba den Weg; bleibt ja gar ned aus. Und ois Nachbarn hilft man si natürli. Grad voagestern rief sie bei mir on: Ihr Computa sei kaputt. Sie käme ned mehr ins Internet, könne koa e-mails empfangn ... da bin i umme und hob versucht, de Kiste wieda richtig in Gang zuaa kriegn. Hod aba ned geklappt.“

Josef Thoma schüttelte bedauernd den Kopf. „I glaub, da muass mol a Spezialist ran.”

Oliver Schütz betrachtete wieder einmal seine Schuhe. Dann schweiften die Blicke der beiden Männer erneut zu Mutter und Tochter hinüber.

„I hob gehört, Sie verstehn wos davon“, meinte Herr Thoma mit einem Augenzwinkern. „Wer, ich?“, stammelte Oliver erschrocken. „Was ... meinen Sie? Wovon verstehe ich was?”

„Von Computan, Internet und so. I bin do koa grouse Leichte.”

„Ja, also, ähm“, stotterte Oliver weiter, „ich mach das beruflich, ja ... ich bin Informatiker.”

Herr Thoma lächelte breit: „Des is ja wundabar. Des wäre fia Sie ja a Klacks! Komma Sie, gehn mia glei hiniba und sprechn sie on.”

Oliver wurde bleich und machte eine abwehrende Handbewegung: „Nein nein, nicht jetzt ... ich ruf sie lieber an ... sie ist ja grad im Gespräch, da will ich nicht stören.”

Josef Thoma zuckte die Achseln.

„Wia Sie woin. Aba tun Sie es boid. I sog, dass Sie si bei ihr meldn, wenn i sie moogn seh. Servus!“ Und schon war er weg.

Oliver Schütz wandte sich um und sah, wie Irene Anders sich von Frau Pohlmann verabschiedete und gemeinsam mit ihrer Tochter zu den Fahrradständern ging. Ihr Haar leuchtete in der Sonne und eine schmerzhafte Mischung aus Freude und Furcht machte sich in Oliver breit.

Zur gleichen Zeit verließ Günter Neumann die Kirche durch den Seitenausgang unter der Orgelempore, setzte seine Baseballkappe auf und schlenderte um die Ecke. Theo Braun stand noch immer in der Kirchentür. Er nickte fortwährend mit dem Kopf und holte Atem, als wollte er etwas sagen, doch Frau Matzke ließ ihn nicht zu Wort kommen.

‚Muss die nicht auch mal Luft holen?‘, wunderte sich Günter und ging auf die Pastorenfrau Maren Braun zu, die zusammen mit ihrer Tochter und deren Freund unter einer großen Linde stand.

„Hallo, Günter“, rief sie ihm schon freundlich entgegen, als er sich ihrem schattigen Plätzchen näherte.

„Hallo, Maren, hallo, Marieke”, sagte er und blieb mit den Augen an dem jungen Mann an ihrer Seite hängen.

„Das ist Lukas!“, stellte Marieke ihn vor und hängte sich an seinen Arm.

„Lucky, für Freunde“, ergänzte er.

„Lukas, äh … Lucky … angenehm“, erwiderte Günter, „Ich bin Günter. Günni, für Freunde.“ Günter Neumann tippte an den Schirm seiner Mütze.

„Starkes Orgelspiel“, sagte Lucky und nickte anerkennend, „so habe ich Bach noch nie gehört.”

„Wieso?“, grinste Günter. „Alles genau vom Blatt gespielt, so, wie der Meister es notiert hat.”

Lucky grinste zurück: „Dennoch! Stark, als wenn Sword of the Lord den Stecker einstöpselt.”

„Sword … wer?”

„Eine christliche Hard‘n Heavy-Band”, erklärte Lucky, „Sword of the Lord.“

„Ist mir noch nicht begegnet.”

„Ich hab eine CD im Auto. Kann ich dir leihen, wenn du willst.”

„Gern, vielen Dank”, meinte Günter, dem der junge Mann immer sympathischer wurde.

„Pustet einem die Ohren ähnlich durch wie du die Orgel”, lachte Lucky.

Günter zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Das liegt am Instrument. Die Orgel hat nun mal einen rockigen Sound, da kann man nichts machen. Orchestral und laut. Über hundert Dezibel, wenn man die richtigen Register zieht. Der Schalldruck einer Harley Davidson.”

Marieke warf ihrer Mutter einen vielsagenden Blick zu: „Männer! Die reden über Musik wie über Autos oder Motorräder.”

„Gewöhn dich schon mal dran, Schatz“, antwortete Maren Braun lächelnd.

„Was denn?“ Lucky blickte entschuldigend in die Runde. „Das hörte sich doch wirklich so an, als wäre der gute alte Johann Sebastian mit einer Harley durch Leipzig geknattert.”

Günter stand ihm bei: „Ich bin sicher, das wäre er auch, hätte es die damals schon gegeben.”

„Was haben die da drüben schon wieder zu tuscheln?“, fragte Marieke und deutete auf ihren Bruder.

„Ach lass sie doch“, erwiderte ihre Mutter, das sind eben auch Jungs!“

„Treffen wir uns heute Nachmittag?“, fragte Johannes Braun seinen Freund, der mit ihm im Schatten der Kirchenmauer stand.

Max nickte. „Klar! Die Mappe muss doch fertig werden. Um drei bei mir?”

„Gut. Ich bring meine neuen Entwürfe mit”, versicherte Johannes.

„Super“, freute sich Max, „dann zeig ich dir ...”

Die Seitentür der Kirche direkt neben ihnen schwang auf.

„ ... meinen Pantokrat …!”

„Pst!“ fiel ihm Johannes ins Wort. Sofort waren beide still.

Herr Brammer kam heraus, die Geldtasche mit der Kollekte fest unter dem Arm.

„Wiedersehen, Herr Brammer“, grüßten die Jungen im Chor.

Herr Brammer antwortete mit einem kühlen „Guten Tag“, schloss die Außentür zur Sakristei hinter sich ab und überquerte den Vorplatz.

Was hatte Max gesagt? Pantokrator? Herr Brammer schüttelte den Kopf. Das war doch bestimmt wieder eines dieser gewaltverherrlichenden Computerspiele. Typisch für die Jugend von heute!

‚Nicht gerade vorbildlich, diese Pastorenfamilie‘, dachte er abschätzig und betrachtete aus den Augenwinkeln den langhaarigen Schnösel neben Marieke, mit seinen metallverseuchten Ohrläppchen. Und da stand ja auch dieser unfähige Organist.

‚Da haben sich ja die richtigen gefunden‘, dachte Herr Brammer, ‚subversive Elemente unter sich!‘ Sein Gang wurde energischer. In preußischer Haltung schritt er auf das Gemeindehaus zu, in dem sich das Pfarrbüro befand. Dort löste gerade Frau Ehrmann die Hundeleine vom Geländer, während ihr Dackel freudig an ihr hochsprang.

„Ist ja gut, Billy, ist ja gut“, beruhigte die alte Dame den Vierbeiner. „Komm, jetzt geht es nach Hause. Auf Wiedersehen, Herr Brammer!“

„Auf Wiedersehen, Frau Ehrmann“, antwortete Herr Brammer geistesabwesend, während er an den armen Pastor Braun denken musste. Herr Brammer warf einen letzten Blick zur Kirche, dann wandte er sich entschlossen ab und betrat das Pfarrbüro. Dieses Geschnatter von Frau Matzke war ja nicht auszuhalten.

„Gesundheit“, sagte Lucky.

„Danke!“ Pastor Braun schnäuzte in sein Taschentuch. Wenn er in die Sonne blickte, musste er häufig niesen.

„Heuschnupfen?“ fragte Günter.

„Nein, Tischdeckenallergie.”

Der Organist sah ihn überrascht an. „Wie bitte?”

Theo schniefte noch mal, dann verschwand das weiße Taschentuch im schwarzen Talar. „Frau Matzke hatte mich in den Klauen. Es ging um die neuen Tischdecken für das Gemeindehaus.”

„Und jetzt gibt es tausend Probleme damit, stimmt‘s?“ vermutete seine Frau.

„Aber sicher“, erwiderte Theo resigniert, „Maße, Farbe, Material, Preis ... ich träum heute Nacht davon, schätze ich.“

Der Pastor senkte seine Stimme: „Mir werden garantiert Gespenster wie aus Dickens Roman erscheinen, gehüllt in Tischdecken verschiedener Modelle! Sie rufen mir mit der Stimme von Frau Matzke zu ...”

„Nun beruhig dich mal wieder, Schatz!”, lachte Maren.

„Du hast Recht“, gab Theo zu, „so soll man nicht über andere reden.“ Er breitete hilflos die Arme aus. „Kaum bin ich aus der Kirche raus, hab ich schon wieder gesündigt.”

„Welche Sünde war das jetzt“, fragte Lucky interessiert, „dass Sie gegen Ihren Nächsten falsch Zeugnis reden?“

„Nein, das Zeugnis kommt so ungefähr hin“, meinte Theo, „aber es zu sagen war unbarmherzig.”

„Also am Ende doch falsch“, sagte Günter.

„Aber wenn‘s doch wahr ist“, wandte Marieke ein.

„Dann kann es trotzdem falsch sein, es zu sagen.“ Theos Zeigefinger fuhr in die Höhe. „Bonhoeffer hat sich mit diesem Dilemma beschäftigt. In seiner Ethik gibt es ein Kapitel ...”

„Ihr wollt doch wohl hier jetzt nicht ein theologisches Seminar abhalten!“, protestierte Maren. „Außerdem gibt es gerade dringendere Fragen, bei denen auch Bonhoeffer nicht weiterhilft.”

„Und welche bitteschön?”, fragte Günter.

In Marens Augen blitzte der Schalk: „Maße? Farbe? Material und Preis?”

Während draußen über Tischdecken und Bonhoeffer diskutiert wurde, hatte Herr Brammer drinnen im Pfarrbüro Wichtigeres zu tun. Ein Haufen Kleingeld und einige Scheine kamen zum Vorschein. Herr Brammer schüttete alles auf einen Haufen und begann, die Kollekte zu ordnen. Bevor er die Münzen auf dem Zählbrett stapelte, das die Gemeinde von der Sparkasse im Dorf geschenkt bekommen hatte, fischte er die Scheine unter den Münzen hervor. Da war er ja, der Zehner von vorhin! Wieder stieg ihm die Zornesröte ins Gesicht. Mit spitzen Fingern legte er den Schein zur Seite. Dann kam sein Fünfer – zack, obendrauf! Jetzt ging es ihm schon besser. Huch, da war ja noch ein Schein ... nein, nur ein Zettel, zweimal gefaltet.

‚Was die Leute so alles in die Kollekte werfen, man glaubt es nicht‘, dachte er und faltete den Zettel auseinander. Seine Augen wanderten über die Zeilen und weiteten sich immer mehr. Er schnaufte, sprang auf, ließ das Geld Geld sein, stürzte zur Tür hinaus und rannte mit dem Zettel in der geballten Faust hinüber zum Pfarrhaus.

„Herr Brammer, was ist denn los? Sie sind ja ganz aufgeregt!“, sagte Pastor Braun, der eben gerade im Pfarrhaus seinen Talar auf einen Bügel hängen wollte. Erstaunt sah Theo auf den schwer atmenden Kirchenvorsteher, der vor seiner Tür stand.

„Kommen Sie herein, gleich links in mein Arbeitszimmer …“

Herr Brammer betrat völlig außer sich das Arbeitszimmer und ließ sich in einen der Sessel fallen, die um einen kleinen Tisch gruppiert standen. Langsam kam er wieder zu Atem.

„Herr Pastor, das ist unerhört“, begann er, „diese Konfirmanden werden immer frecher. Ich bin ja bereit, einiges hinzunehmen, aber das ist doch wohl die Höhe!“

„Jetzt beruhigen Sie sich doch“, sagte Pastor Braun beschwichtigend, „was genau ist passiert und was ist das für ein Zettel?“

„Provoziert haben die mich“, schimpfte Herr Brammer, „und als Pharisäer bezeichnet! Hier, sehen Sie sich das an! Das hier habe ich gerade eben in der Kollekte gefunden!” Dabei wedelte er mit dem Zettel in der Luft herum.

Theo Braun nahm das mittlerweile ziemlich zerknitterte Papier entgegen.

„AN EBERHARD BRAMMER“ stand da in sauberen Blockbuchstaben geschrieben. Es sah aus wie eine Seite, die aus einem Notizbuch herausgerissen worden war. Theo Braun entfaltete den Zettel und las:

Und Jesus sprach zu den Pharisäern: Ihr seid‘s, die ihr euch selbst rechtfertigt vor den Menschen; aber Gott kennt eure Herzen; denn was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Greuel vor Gott. (Lukas 16,15)

„Da hat sich doch jemand einen Scherz erlaubt“, sagte Theo und blickte auf.

„Ich finde das überhaupt nicht komisch“, ereiferte sich Herr Brammer, „als ob ich ein Pharisäer wäre. Unerhört! Diesen Bengels gehören die Ohren lang gezogen!”

„Aber Herr Brammer, wir wissen doch gar nicht, wer das geschrieben hat. Ich glaube kaum, dass Konfirmanden dahinterstecken”, gab Theo zu bedenken.

„Warum denn nicht? Diese Unverfrorenheit würde gut zu ihnen passen!”

„Mag sein“, erwiderte Theo, „aber nicht ihre mangelnde Bibelkenntnis. Unter unseren Konfirmanden wäre niemand in der Lage, so einen Bibelvers zu zitieren.”

„Da sieht man mal, wie wenig im Unterricht noch gelernt wird!“, konterte Herr Brammer. „Seit Jahren sag ich das schon: Auswendiglernen, Auswendiglernen! Was mussten wir früher pauken! Das hat uns damals auch nichts geschadet!”

Theo überhörte den Vorwurf.

„Sehen Sie, Herr Brammer, weil die Konfirmanden so wenige Bibelverse kennen, und diesen hier schon gar nicht, denke ich, dass jemand anderes diesen Zettel geschrieben haben muss.”

Herr Brammer sah den Pastor entgeistert an.

„Aber wer tut denn so etwas? Wer will mich derart beleidigen?”

Theo versuchte, ihn zu beruhigen.

„Nehmen Sie das doch einfach mit Humor”, schlug er vor.

„Wie bitte? Haben Sie den Vers denn nicht gelesen?“, ereiferte sich Herr Brammer. “Da steht, dass ich ein Pharisäer sei, der sich selbst vor anderen rechtfertigt, was vor Gott ein Gräuel ist ...”

„Nein, das steht da nicht“, erwiderte Pastor Braun, „da steht nur, dass Jesus das damals den Pharisäern vorgeworfen hat. Sie haben das dann gleich auf sich selbst bezogen.”

„Nun ja“, stotterte Herr Brammer.

„Sie fühlen sich getroffen”, stellte Theo fest.

„Tief getroffen, ja!”, meinte Herr Brammer.

„Vielleicht fühlen Sie sich deshalb getroffen, weil dieser Bibelvers für Sie – mmmh, nun ja, auch irgendwie treffend ist?”

Herr Brammer sah ihn bestürzt an. Einen Augenblick verharrten beide in lähmender Stille. Dann erhob sich Herr Brammer. Er versuchte ruckartig eine würdevolle Haltung anzunehmen, was ihm nicht ganz gelingen wollte.

„Herr Pastor“, sagte er mit leiser Stimme, „ich hätte niemals von Ihnen gedacht, dass Sie so etwas zu mir sagen!”

Wortlos drehte er sich um und ging hinaus. Theo hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel.

***

8 Verse für ein Halleluja

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