Читать книгу Imperium der Foronen: Raumschiff Rubikon Band 9-16: Science Fiction Abenteuer Paket - Lars Urban - Страница 13
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Sein oder Nichtsein
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S IROONA HATTE DAS BOHRENDE Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Sie befand sich in einem düsteren Thronsaal – dem Machtzentrum eines gigantischen Reiches, das sie zusammen mit Sobek regierte. Es umfasste weite Bereiche der Milchstraße und man schickte sich gerade an, die Große Magellansche Wolke, die alte Heimat der Foronen zurückzuerobern.
Sobek war vollkommen von seiner Rüstung bedeckt. Es war eine Nanorüstung völlig neuen Typs. Die Partikel, aus denen sie bestand, waren nicht anthrazitfarben, sondern blutrot. Seine Präsenz wurde durch diese Rüstung noch verstärkt. Auf dem gesamten Zentralplaneten war es vollkommen unmöglich, sich seinem Willen zu widersetzen.
Allein Siroona konnte wenigstens ihre Meinung gegenüber der Nummer eins unter den Hohen Sieben äußern.
Die Entscheidungen traf zumeist Sobek allein, sofern er ihr nicht in einem bestimmten Bereich vollkommene Freiheit ließ. Und diese Bereiche waren im Laufe der Zeit immer größer geworden, was mit den Ausmaßen des Imperiums zusammenhing, dass sie errichtet hatten.
Es gab niemanden, der Sobek traute. Niemanden außer Siroona. Und so blieb sie die Einzige, an die er tatsächlich bereit war, Aufgaben zu delegieren.
Ein Gefühl von Macht, Stärke und mentaler Präsenz durchströmte sie. Dieses Gefühl hatte sie lange nicht gekannt. Zuletzt vor Beginn ihres Staseschlafs an Bord der einsamen Station mitten im Leerraum zwischen Andromeda und der Milchstraße. ..
Siroona stutzte.
Ihr war sofort klar, dass sich die Erinnerung an den Staseschlaf nicht mit der Szenerie im Thronsaal vereinbaren ließ.
Zwei Realitäten. Zwei unterschiedliche Zeitlinien. Wann haben sie sich getrennt? Welche Fehler habe ich gemacht? Kann das Alter jener Siroona, die Sobek als Begleiterin und Mitherrscherin zur Seite steht, etwa nichts anhaben?
Der Anzug war in diesem Punkt des Rätsels Lösung.
Siroona besaß ebenfalls eine der neueren roten Rüstungen, und das war wohl der Hauptgrund dafür, dass sie sich so stark fühlte, schließlich waren die Auswirkungen des Alterns nicht einmal für Foronen auf die Dauer zu umgehen.
Aber dann wandelte sich die Szenerie.
Siroona versuchte etwas zu sagen. Sie wollte eine mentale Botschaft an Sobek senden, doch das war nicht möglich. Wie eine Statue hatte Sobek auf seinem Thron Platz genommen.
Warum hörst du mich nicht?
Er blieb taub für ihre mentalen Signale. Taub – und eigenartigerweise wirkte seine Präsenz auf einmal wie abgedämpft. So sehr Siroona sich auch bemühte, ihre Sinne nach ihm tasten zu lassen – es wollte ihr einfach nicht mehr gelingen.
Sobek!
Sobek erhob sich. Er fuhr das Kopfteil seiner rot flimmernden Rüstung zurück, sodass sein augenloses Foronengesicht zum Vorschein kam.
Er scheint irritiert zu sein.
Aber Siroona schalt sich schon im nächsten Moment eine Närrin. Sie hatte nicht den Hauch eines mentalen Kontaktes. Wie konnte sie also beurteilen, was in Sobeks Gedanken vor sich ging?
Gar nicht. Du hast seine Erscheinung, die Bewegungen, sein Gesicht überinterpretiert. Es gibt keinen Anhaltspunkt für deine Annahmen ...
Diese Erkenntnis war für Siroona absolut niederschmetternd.
Vernichtend.
Sie vermochte sich nicht mehr zu bewegen. Erst dachte sie darüber nach, ob es an ihrem Körper lag, der schließlich in der roten Rüstung ebenso gebrechlich geblieben war, wie sie es aus jener anderen Ebene kannte, deren Existenz sich mit dem, was sie gerade erlebte, so wenig vereinbaren ließ.
Aber dann begriff sie, dass es an etwas anderem lag. Sobek – dessen Gesicht genauso alt und verfallen wirkte wie das ihre, ging auf sie zu – und schließlich durch sie hindurch.
Sie war schlicht und ergreifend gar nicht vorhanden. Existierte nicht in der gleichen Raumzeit wie dieser Thronsaal und die Raumzeitparallele, zu der er gehörte.
Im nächsten Moment befand sie sich wieder im Staseblock an Bord der RUDIMENT-Station im intergalaktischen Raum. Sie sah Scobee vor sich, war aber unfähig etwas zu sagen. Im Staseschlaf foronischer Prägung blieb man bei Bewusstsein. Man bekam alles mit, was in der Umgebung geschah.
Vorausgesetzt, es geschah überhaupt etwas.
Die meiste Zeit über hatte sich buchstäblich nichts ereignet, und sie war nahe dran gewesen den Verstand zu verlieren.
Welche Realität gilt jetzt?, fragte sich Siroona. Oder ist es am Ende gar so, dass sie sich ALLE auflösen? Kann man selbst unter Umständen noch glauben zu existieren, während man in Wahrheit schon gar nicht mehr vorhanden ist? Bin ich vielleicht nur ein kleiner Informationsrest in einem morphogenetischen Feld? Ein paar verirrte Gedanken aus einer Schattenwelt, die keine Möglichkeit mehr hat, Realität zu werden und einen Zeitstrom zu dominieren?
Siroona in ihrem Staseblock konnte beobachten, wie die vor ihr stehende Scobee langsam verblasste und schließlich verschwand.
Sie entmaterialisierte.
Nicht einmal ein Hauch ihrer ehemaligen Präsenz ließ sich noch wahrnehmen.
Nein!, durchfuhr es Siroona, denn ihr begannen die Konsequenzen zu dämmern.
Ein Zeitstrom wurde aus der Vielfalt des Multiversums getilgt. Und mit diesem Zeitstrom schien unglücklicherweise ihre eigene Existenz verknüpft zu sein.
Die Konturen ihrer Umgebung veränderten sich. Auch die Präsenzen, die sie spürte. Aber diese Wahrnehmungen waren so furchtbar schwach.
Ein primitiver Organismus wie ihn für Siroonas Maßstäbe der geklonte Körper von Scobee darstellte, hätte die Szenerie vielleicht wie den Blick durch eine zunehmend getrübte Linse wahrgenommen.
Nur hatte Siroona keine Augen, die solche Effekte zugelassen hätten.
Aber ihre eigenen Sinne wurden auf ganz ähnliche Weise getrübt, bis fast nichts mehr erkennbar war.
Es wurde dunkel.
Die Wahrnehmung wurde zeitweilig wieder besser.
Sie hatte fast den Eindruck, als ob zumindest ein paar Lebensgeister sowohl in ihren Körper als auch in ihr Bewusstsein zurückgekehrt wären.
Die Gestirne leuchteten am Himmel. Und Stimmen waren von überall her zu hören. Geistige Stimmen, die zu kristallinen Wesen mit hohem Siliziumgehalt gehörten.
Nar’gog!, erkannte sie. Ich bin wieder unter den Jay’nac
Aber gehörte nicht auch Scobee hierher?
Sie wusste es nicht mehr genau. Ebenso wenig hätte Siroona in diesem Augenblick sagen können, was sie eigentlich auf dieser bizarren Welt zu suchen hatte, von der lediglich der Name durch ihr Bewusstsein geisterte.
Nar’gog.
Zwei Kräfte stritten sich in ihrem Bewusstsein. Da war einerseits die Agonie, die immer mehr von ihr Besitz zu ergreifen drohte. Gleichgültigkeit, die sich wie Mehltau über ihren Geist legte und diesen fast ebenso immobil und lethargisch machte, wie es mit ihrem Körper schon geschehen war.
Die andere Regung, die sich immer deutlich zu Wort meldete, war Auflehnung, Kampf um die eigene Existenz. Der verzweifelte, aber daher auch um so entschlossene Wille, die eigene Existenz nicht aufzugeben und die Integrität des Bewusstseins zu bewahren.
Aber das war schwierig.
Alles drohte ihr aus dem Griff zu geraten.
Einfach zu entgleiten.
Ihre Kräfte schienen nicht auszureichen, um das, was ihre Persönlichkeit ausmachte, länger festzuhalten.
Es wird vergebens sein!, ging es ihr durch den Kopf. Du wirst dein Leben nicht bewahren können. Aus irgendeinem Grund ist deine Existenz in diesem Seitenzweig der Realität offenbar nicht vorgesehen.
Sie schien auf einen toten Ast in der Entwicklung des Kosmos geraten zu sein. Einen toten Ast der Zeit, der entweder aus der Laune eines missgünstigen Schöpfers oder aus purem Zufall nicht mehr fortgesetzt werden würde.
Die Gründe waren eigentlich gleichgültig. Entscheidend war nur das Faktum an sich.
Vielleicht ist es das Beste, sich damit abzufinden!, dachte Siroona. Was ist so schlimm am Zustand der Nicht-Existenz? Bedeutet er nicht auch eine Befreiung von Schmerz und Sorge? Eine Befreiung von all dem, was einen niederdrückt? Ist das Nichts nicht letztlich die höchste Form des Glücks, auch wenn jede Existenzform sich zunächst beharrlich weigert, dies anzuerkennen?
Frieden begann Siroonas Bewusstsein mehr und mehr zu erfassen. Vielleicht zum ersten Mal seit Beginn ihrer Existenz.
Es war der Frieden des Todes.
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F ELVERT HATTE SEHR schnell begriffen, was vor sich ging. Eine starke temporale Krise war im Gange. Und außerdem brach ein Parasturm ungekannten Ausmaßes über das gesamte System herein. Dass beides in irgendeiner Form miteinander in Zusammenhang stand, lag für den Tormeister im Erfassungsbereich seiner Sinne.
Aber was nun eigentlich die Ursache beider Phänomene war, konnte bisher nur Gegenstand von Spekulationen sein.
Über ein Kristallmodul war der Felorer ständig über alles informiert, was auf den Stationen geschah. Sämtliche Daten, die dort eingingen, kamen auch ihm zu. Und da er in permanenter Verbindung mit den jeweils diensthabenden Tormeistern stand, konnte er jederzeit in das Geschehen eingreifen.
Erste Maßnahmen hatte Felvert bereits angeordnet.
Niemand würde diesen Anordnungen widersprechen, was weniger in der Autorität irgendeines Amtes begründet lag, als vielmehr in dem Umstand, dass man ihm am ehesten zutraute, eine Lösung für die auftretenden Probleme parat zu haben.
Eigentlich müsste ich die Ursache längst erkannt haben, aber die kristallisiert sich nicht klar heraus!, überlegte der Felorer verzweifelt. Wenn Informationen fehlen, die eigentlich unerlässlich sind, um vernünftige Entscheidungen treffen zu können, bleibt nichts anderes übrig, als der Intuition zu folgen!
Genau das tat Felvert. In kritischen, nicht durchschaubaren Situationen hatte er es oft so gehalten. Und meistens dabei richtig gelegen.
Aber diesmal war es besonders schwierig. Die temporalen Stabilitätsparameter waren in einem permanenten Sinkflug begriffen.
„Wir haben eine deutliche Parallele, die unsere Existenz gefährdet!“, meldete Boolvert von Station 1.
„Wodurch wird sie verursacht?“, wollte Felvert wissen.
„Das haben wir bislang nicht herausfinden können. Aber die temporale Entropie erreicht einen Maximalwert, den wir seit der Abschirmung des Nar’gog-Systems noch nicht gemessen haben!“
„Es muss aber eine temporal klar umgrenzte Kausalitätszone geben“, erklärte Felvert.
„Die Kausalitätszone liegt etwa 132 Standard-Chronopotenziale in der Vergangenheit...“
„Also 95 Sonnenumläufe von Nar’gog“, echote Felvert. Das war immerhin ein Anfang. Ein Punkt, an dem man ansetzen konnte.
„Felvert, ich glaube allerdings, dass sich die Parallele schon früher gebildet hat“, meinte Boolvert. „Sie besaß nur bisher einen zu geringen temporalen Relevanzfaktor, um unserer eigenen Existenz gefährlich werden zu können.“
„Trotzdem werde wir ein Abwehrfeld mit einer temporalen Tiefenwirkung von genau 132 Standard-Chronopotenzialen einsetzen“, verlangte Felvert.
„Aber die Parallele existierte bereits früher!“
„Wie weit früher?“
„Das lässt sich nicht ermessen!“
„Das kann nicht sein!“
„An unseren Messwerten gibt es keinen Zweifel.“
„Aber wenn es zutrifft, was du gesagt hast, existierte die temporale Störung bereits zu Beginn des Universums!“
„Eine absurde Schlussfolgerung. Und doch scheint es die einzige Erklärung zu sein!“
Felvert zögerte. Die Vehemenz mit der Boolvert seinen Standpunkt vertrat, irritierte ihn. Eigentlich war das unüblich unter Felorern. Felvert war schließlich ihr oberster Tormeister.
Der Fähigste sollte in Zeiten der Krise die Führung ausüben. Niemals war daran unter Felorern gezweifelt worden. Alle anderen Kriterien mussten im Krisenfall in den Hintergrund treten.
Was bezweckt er damit?, fragte sich Felvert. Glaubt er, er kann sich damit hervortun und für höhere Aufgaben empfehlen? Wohl kaum.
„Führt die Maßnahme durch, die ich angeordnet habe!“, beharrte Felvert.
„Wir werden keine vollständige Restabilisierung erreichen“, gab Boolvert zu bedenken.
„Das mag sein“, erwiderte Felvert. „Aber wir erreichen überhaupt eine Stabilisierung. Für mehr reicht die Energie ohnehin nicht. Möglicherweise werde ich in einem zweiten Schritt die volle Stabilität wiederherstellen.“
Einige Augenblicke vergingen.
„Befehl ist ausgeführt“, meldete Boolvert.
„Auf allen Stationen?“
„Ja, Felvert.“
„Wie sind die gemessenen Werte für Paraenergie?“
„Sie steigen.“
„Das kann nicht sein!“
„Das tun sie aber.“
„Eigentlich müssten die Werte sofort nach Einleitung der Maßnahmen zurückgehen.“
„Station 3 meldet bereits mehrere Fälle von Bewusstseinsstörungen. Ein Teil unserer Tormeister wird über kurz oder lang nicht mehr einsatzfähig sein.“
In Felverts Gedanken – ein Hirn im klassischen Sinn besaß er nicht – wirbelte jetzt alles durcheinander.
„Da fegt ein Parasturm über uns hinweg, der sich von allen anderen unterscheidet, die wir jemals erlebt haben“, äußerte sich Boolvert. „Es ist gut möglich, dass wir alle wahnsinnig werden, wenn wir das hier überleben.“
„Das Risiko müssen wir in Kauf nehmen.“
„Was unsere Gegenmaßnamen angeht, so habe ich Kontakt mit unseren Keelon-Verbündeten aufgenommen. Sie sind derselben Ansicht wie ich. Wir müssen die Sache auf einer breiteren temporalen Basis angehen, sonst schaffen wir es nicht!“
Felvert spürte Ärger in sich aufkommen. Und das, obwohl Emotionen in Situationen wie dieser tunlichst zu vermeiden waren, wie es eigentlich auch dem Kodex der Tormeister entsprach.
„Wenn die Keelon eine Lösung vorschlagen, bin ich gerne bereit, darauf einzugehen. Aber ich glaube, dass sie sich direkt an mich gewendet hätten, wenn dem so wäre. Dass sie das nicht getan haben, zeigt, dass sie genauso ratlos sind wie wir!“
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EIGENTLICH MÜSSTE ICH auf Station 1 zurückkehren und selbst nach dem Rechten zu schauen!, dachte Felvert. Sein Vertrauen in die Fähigkeiten der anderen Tormeister war nicht sonderlich ausgeprägt.
Aber eine Rückkehr per Shuttle war unter den gegebenen Bedingungen nicht ungefährlich.
Porlac befand sich ganz in der Nähe. Er hatte Siroona und Scobee zeitweilig verblassen und sogar verschwinden sehen. Aber Ähnliches stellte er auch an sich selbst fest. Zeitweilig war er kaum in der Lage, sich zu bewegen. Er sah eine völlig zerstörte Planetenoberfläche vor sich, als wäre ein Fegefeuer der schlimmsten Art über die Jay’nac hinweggefegt.
Dann tauchten all die anorganischen Lebensformen wieder auf. Auch das Granogk, dessen Gesamtheit gleichzeitig Elite und Herrschaftsorgan dieser Spezies war.
„Porlac, hilf uns!“, hörte er das Granogk rufen.
„Du bist der Einzige, der einen Weg weiß!“
Schön wär’s, dachte Porlac. Aber die Ratlosigkeit des Torwächters Felvert war ihm nicht verborgen geblieben. Felvert hatte ihn hier auf der Oberfläche aufgesucht, um die Problematik zu besprechen, die möglicherweise durch die pure Existenz von Siroona und Scobee hier auf Nar’gog ausgelöst worden war.
Aber noch bevor Porlac alles erfahren hatte, war das paranormale Inferno hereingebrochen.
Porlac spürte die gewaltigen, mental hoch wirksamen Energien, die jetzt, während der temporalen Krise, in den geschützten Bereich vorzudringen vermochten.
Solange konnten wir uns vor der Entartung der Zeit schützen, aber das scheint jetzt vorbei zu sein!, dachte Porlac.
„Unsere Existenz!“
„Es verschwinden so viele!“
„Unternimm etwas, Porlac!“
„Wie soll er etwas unternehmen? Niemand von uns kann das!“
Sie haben Recht!, dachte Porlac. Ich kann nichts tun, außer abzuwarten und darauf zu vertrauen, dass die Torwächter in Zusammenarbeit mit den Keelon das Richtige tun.
Gerade in diesen Augenblick verschwanden Scobee und Siroona völlig.
Es blieb nichts von ihnen. Sie verblassten einfach.
Porlac ertappte sich dabei, dass bereits im nächsten Augenblick der Gedanke in seinem Bewusstsein auftauchte, ob es die beiden überhaupt je nach Nar’gog verschlagen hatte.
Die Temporalkonstante sorgte dafür, dass Erinnerungen, die sich aus einer anderen Zeitebene eingeschmuggelt hatten, innerhalb kürzester Zeit kaum noch abrufbar waren.
Das galt auch für Felorer. Zudem sorgte der starke Parasturm dafür, dass im Moment wohl kein Felorer seine geistigen Kräfte so zu konzentrieren vermochte, dass vorhandenes Potenzial wirklich ausgeschöpft wurde.
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E INER DER HERZMUSKELFÖRMIGEN Keelon, die sich derzeit im Nar’gog-System befanden, hatte sich zur Steuer-Acht von Station 1 begeben.
Boolvert nahm ihn deutlich wahr und schien im Gegensatz zu einigen Felorern nichts von seiner Agilität verloren zu haben. Für Boolvert unterschieden sich die Keelon kaum voneinander – selbst dann, wenn man alle Wahrnehmungskanäle zur Identifizierung heranzog. So kam Boolvert nicht auf den Namen seines Helfers. Aber es war ihm auch zu peinlich danach zu fragen.
Boolvert schirmte reflexartig seine Sinne etwas ab. Die fleischige Erscheinung des Keelon wirkte für das verfeinerte ästhetische Empfinden des Felorers eher abstoßend, sodass die Tormeister sie sich nur in möglichst abgeschwächter Form zumuteten. Sie schirmten einfach einen Teil ihrer Sinne ab, um nicht in unerträglich geballter Form mit den körperlichen Eindrücken eines Keelon konfrontiert zu werden. Mit der Wertschätzung, die die Felorer andererseits für die Fähigkeiten dieser Spezies empfanden, hatte das nichts zu tun.
„Wir haben die Frage, wie wir dem aufgetretenen Problem begegnen könnten, noch einmal diskutiert“, erklärte der Keelon.
„Heißt das, ihr teilt meine Ansicht, dass wir temporal einen breiteren Wirkungsgrad anstreben sollten?“
„Nein“, widersprach der Keelon. „Wir sollten genau das Gegenteil tun.“
„Das kann nicht euer Ernst sein!“, entgegnete Boolvert fassungslos. Hatte er sich so irren können? Die Fähigkeiten der Keelon zu Temporalmanipulationen war einzigartig. Es war also vielleicht ein Gebot der Klugheit, auf sie zu hören.
„Wir schlagen die Konzentration auf den Ursprungsbereich der unsere Realität überlagernden temporalen Alternative vor. Unsere Berechnungen haben ergeben, dass dann ein maximaler Effekt zu verzeichnen ist.“
Boolvert war unschlüssig.
Der Keelon übergab ihm einen Datenkristall. Boolvert aktivierte ihn. Eine Holoprojektion bildete sich, und die Berechnungen der Keelon wurden mit komplizierten Diagrammen veranschaulicht. Die verwendeten Zeichen waren dabei bereits in den Code der Felorer übertragen worden.
Boolvert ging die Berechnungen der Keelon im Einzelnen durch. Und wie man die Sache auch drehte und wendete – der Weg, den sie vorschlugen, hatte einen höheren zu erwartenden Erfolgsfaktor als das, was Felvert angeordnet hatte.
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B OOLVERT VERSUCHTE Kontakt mit Felvert aufzunehmen. Aber das war aus irgendeinem Grund nicht möglich.
„Gibt es eine Störung im Kommunikationssystem?“, fragte Boolvert einen der anderen diensthabenden Tormeister.
Doch dieser verneinte.
„Alles funktionierte einwandfrei. Die temporalen Störungen und der heranziehende Parasturm wirken sich auf die Kommunikation nur unwesentlich aus.“
Wenig später gelang es doch noch, Kontakt zu Felvert herzustellen. Aber er war ganz offensichtlich nicht mehr bei Sinnen und sandte nur wirre Äußerungen an die Station.
Jetzt liegt es an mir!, erkannte Boolvert.
„Die Keelon haben Recht“, entschied er. „Wir werden es auf diese Weise versuchen. Und falls das nicht klappt, werden wir alle vielleicht nichts weiter als Seelenschatten sein, deren letzte Gedanken sich in der Unendlichkeit verlieren.“
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W ER?
Ich.
Niemand.
Erwachen.
Licht.
Ein großes rundes Licht, das über den Horizont kroch.
Sie glaubte, es schon einmal gesehen zu haben. Sicher war sie sich aber nicht. Die vermeintliche Erinnerung vermischte sich mit so vielen anderen Eindrücken, dass es ihr unmöglich war, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren.
Ein Name fiel ihr ein.
Scobee.
Und dann war es plötzlich ganz leicht. Die wirren Gedankensplitter begannen sich zu ordnen. Bilder, Szenen, Erinnerungen rekonstruierten sich.
Jetzt erst hatte Scobee tatsächlich das Gefühl zu erwachen, obwohl sie ahnte, dass sie schon eine ganze Weile zwischen all den seltsamen kristallinen Formen stand und in Richtung Horizont blickte.
Dorthin, wo sich große Licht als orangerote Kugel zeigte.
Die Sonne Nar’gogs!, erkannte sie.
Fast ein wenig ungläubig betastete sie ihren Körper, so als fiele es ihr schwer, die eigene Existenz als gegeben hinzunehmen. Du existierst noch! Was immer auch geschehen sein mag – mehr kannst du unter diesen Bedingungen wohl nicht erwarten!
Nach und nach kehrte all das in ihr Bewusstsein zurück, was letztlich ihre Person ausmachte. Auf einmal war ihr wieder bewusst, was sie auf Nar’gog wollte und wie sie hierher gelangt war.
„Porlac!“, sagte sie laut. Der Sprecher des Granogk stand ein paar Schritte von ihr entfernt, sah auf und schien ebenso ungläubig darüber zu sein, dass dieser Höllensturm der Parakräfte über ihn hinweggebrandet war, wie es auch Scobees Empfindung entsprach.
Felvert befand sich in seiner Nähe und redete vor sich hin. Offenbar hatte er den Zustand der Verwirrung noch nicht überwunden. Im Hintergrund war ein Chor von aufgeregten Stimmern zu hören.
Das Granogk.
Der allgemeine Tenor ging jedoch davon aus, dass die Hauptgefahr jetzt vorbei war.
Zu glauben, anorganische Silizium-Kristallwesen könnten aufatmen, wäre wohl irgendwie etwas unpassend!, kam es Scobee in den Sinn.
Plötzlich drangen fremde Gedanken in ihren Geist.
Hast du eine Erklärung für das, was geschehen ist?
Scobee drehte sich halb um und bemerkte Siroona. Sie war vollkommen von einer schwarzen Rüstung bedeckt. Auch von dem augenlosen Gesicht war nichts zu sehen.
„Zumindest existieren wir noch“, erwiderte Scobee. Sie wandte sich an Felvert, der sich inzwischen beruhigt hatte.
Der Felorer nahm Kontakt mit der Station auf. Wenig später hatte er sich über die Lage informiert. „Die temporale Krise scheint vorbei zu sein. Die angemessenen Werte sind normal. Offenbar bestand zeitweilig die Gefahr, dass unsere Existenz durch die Dominanz einer Parallelzeit ausgelöscht wird.“
„Heißt das nicht, dass es in der Vergangenheit zu einem Zeitparadoxon gekommen sein muss?“, mischte sich Porlac ein.
„Davon gehen wir aus“, bestätigte Felvert, der erneut Kontakt mit den Stationen aufnahm und für einige Augenblicke nicht ansprechbar war.
Was er anschließend zu berichten hatte, verblüffte alle.
„Bei den Torstationen gehen erstaunliche Messwerte ein. Danach haben sich die temporalen Verhältnisse in der Galaxis wieder vollkommen normalisiert. Es besteht keine erhöhte Geschwindigkeit des Zeitflusses mehr. Nar’gog ist nicht mehr vom Rest der Galaxis abgeschottet.“
„Das Zeitrafferfeld ...“, sagte Porlac.
„... existiert nicht mehr“, vollendete Felvert. „Das Nar’gog-System und der Rest der Galaxis befinden sich wieder auf demselben temporalen Niveau.“
Die Quelle des die Galaxis einhüllenden Feldes hatte nie ermittelt werden können – sosehr sich die Jay’nac und ihre Verbündeten auch darum bemüht hatten.
„Die Keelon sind der Meinung, dass es nicht mehr existiert“, stellte Felvert fest. „Ob sich diese optimistische Einschätzung tatsächlich bestätigt, überprüfen gerade die Stationsbesatzungen.“
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S HYYLVERT, DER FELORISCHE Leiter, der am äußersten Rand des Nar’gog-Systems gelegenen Torstation 5, registrierte wie gebannt die eingehenden Ortungsdaten. Auf der gesamten Steuer-Acht herrschte hektische Betriebsamkeit.
„Es ist kaum zu fassen, aber die Vergleichswerte, die wir von den Keelon erhalten haben, bestätigen sich bei unseren Messungen“, sagte Laanvert. Er war Shyylverts Stellvertreter und übernahm dessen Pflichten immer dann, wenn dieser am Austauschritual teilnehmen wollte oder einfach auch nur eine Pause brauchte.
Shyylvert konnte es kaum fassen.
So lange war das Nar’gog-System notgedrungen eine Art temporale Festung gewesen. Ein Fels in der Brandung der entartenden Zeit. Und jetzt herrschten wieder normale Verhältnisse, so weit die Sensoren der Torstationen reichten.
„Es konnte eine vollständige temporale Stabilisierung erreicht werden“, meldete Laanvert.
„So positiv das auch ist, ich glaube kaum, dass unsere Maßnahmen dafür verantwortlich sind“, stellte Shyylvert klar.
„Das nicht“, gestand ihm Laanvert zu. „Aber immerhin konnten diese Maßnahmen unser aller Existenz erhalten. Und das ist ja auch etwas.“
„Trotzdem würde ich zu gerne wissen, wo die Quelle des Zeitentartungsfeldes lag.“
„Diese Frage zu beantworten dürfte jetzt noch schwieriger sein, als bisher, Shyylvert. Schließlich gibt es nichts mehr, an dem wir die Suche ansetzen könnten.“
„Möglicherweise ist die Quelle auch in eine parallele Zeitebene abgedrängt worden.“
„Dann werden wir in Kürze Schwierigkeiten bekommen, uns auch nur an ihre einstige Existenz zu erinnern.“
Plötzlich ertönte ein Alarmsignal. Ein Hologramm baute sich auf. Die Ortungssysteme von Torstation 5 hatten etwas aufgezeichnet, das vom Rechnersystem als bedeutend genug eingestuft worden war, um den Alarm auszulösen.
Das Hologramm vermittelte nicht nur optische Eindrücke, sondern emittierte darüber hinaus eine Reihe weiterer Sinneswahrnehmungen, von denen viele nur den Felorern zugänglich waren.
„Es wurde ein Objekt geortet, dessen Größe die Toleranzgrenze bei weitem überschreitet“, meldete die Kunststimme des Rechnersystems.
„Heranzoomen!“, befahl Shyylvert. „Sinnes-Emission auf maximale Intensität.“
Eine gewaltige goldene Kugel, die mit immenser Geschwindigkeit auf Nar’gog zustrebte, wurde in der Holowiedergabe sichtbar.
Ein Geschoss von wahrhaft kosmischen Ausmaßen.
„Ich möchte eine vorläufige Analyse“, verlangte Shyylvert, als in einem abgeteilten Fenster der Holoprojektion plötzlich Kolonnen von Zeichen erschienen.
Aber er ahnte bereits, was da zu sehen war.
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F ELVERT BEFAND SICH an Bord eines Jay’nac-Shuttles und war auf dem Weg zur Torstation 1. Das Shuttle bestand vollständig aus dem kristallinen Körper eines Jay’nac, in dessen Innern der Tormeister nun durch den Orbitalbereich von Nar’gog flog.
Es gab eine Sauerstoffversorgung, aber keine künstliche Schwerkraft an Bord des Jay’nac-Shuttles. Beides war nur notwendig, wenn empfindlichere organische Organismen an Bord waren. Die Atemluft innerhalb des Jay’nac-Shuttles wurde nicht erneuert, und der Sauerstoffanteil wäre beispielsweise für Erinjij viel zu niedrig gewesen. Die Atmosphäre diente streng genommen auch nicht in erster Linie der Atmung, sondern der verbalen Verständigung, die im Vakuum nicht möglich gewesen wäre.
Der Luftdruck war sehr niedrig und reichte gerade aus, um die akustische Ein- und Ausgabe benutzen zu können.
Nur sehr wenige rein organische Wesen hätten im Innern des Shuttle überleben können. Die meisten wären jedoch schlicht und ergreifend zu schwach dafür gewesen.
Auch jene Scobee, die mit dem Gloriden-Schiff an der Station im intergalaktischen Leerraum angedockt und anschließend die Reise ins Nar’gog-System mitgemacht hatte.
Dass sie ein Klon war, hatte Felvert schon nach dem ersten Routine-Scan gewusst. Und im Übrigen war ein Klon auch nur bei den Spezies etwas besonderes, die sich traditionellerweise auf andere Weise fortpflanzten.
Hätten wir die Krise verhindern können, wenn Scobee und Siroona nicht hierher geholt worden wären?, überlegte er.
Die Frage ließ sich nicht so leicht beantworten. Einerseits gab es schon eine gerade temporale Linie von einem Krisenpunkt in der Vergangenheit aus bis zu dem Zeitpunkt, da beide im Nar’gog-System erschienen waren. Andererseits existierten immer noch andere Faktoren, die auch eine Rolle spielten und deren Zusammenwirken nicht kalkuliert werden konnte. Andernfalls wären wir in der Lage, die Zukunft exakt vorherzusagen. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt immer nur Möglichkeiten. Optionen. Tendenzen. Nicht mehr...
Die Frage, ob seine Autorität etwas gelitten hatte, weil schließlich eine von den Keelon vorgeschlagene Maßnahme zur Abwehr der Gefahr beigetragen hatte, interessierte ihn weniger. Er hatte schließlich alles erreicht, was ein Tormeister erreichen konnte. Irgendwann kam immer der erste Irrtum. Mitunter zeigte sich dadurch, dass es Zeit war, den Platz in der ersten Reihe zu räumen und Jüngeren den nötigen Spielraum zu lassen. Aber im Moment hielt sich Felvert noch für unverzichtbar.
Der Innenraum des Jay’nac-Shuttles glich einer schmucklosen Höhle. Felvert schwebte im schwerelosen Vakuum. Ein Felorer konnte notfalls eine ganze Weile auf die Zufuhr von Sauerstoff verzichten. Eine Atmung im klassischen Sinn fand in den achtförmigen Elementen, aus denen sich sein wurmartiger Körper zusammensetzte, ohnehin nicht statt.
Der Tormeister hatte um etwas Licht gebeten, und der Jay’nac, der das Shuttle war, hatte ihm diesen Wunsch gerne erfüllt und mit seinem Körper ein paar Leuchtzonen geschaffen, die wie fluoreszierende Bereiche im Kristall wirkten.
Der Name des Jay’nac war Tamrac. Er war gleichzeitig Pilot und Schiff. Die enorme Anpassungsfähigkeit der anorganischen Bewohner Nar’gogs faszinierte Felvert immer wieder. Es schien keinen Bereich des Universums zu geben, den sie nicht potentiell zu erobern vermochten. Einzigartig waren sie keineswegs. Es gab eine Vielzahl anorganischer Lebensformen, von denen allerdings nur wenige die Komplexität erreicht hatten, die für die Jay’nac kennzeichnend war. Von diesen wenigen Spezies wiederum hatte nur ein verschwindend geringer Anteil letztendlich Intelligenz entwickelt und gelernt, die Raumfahrt zu betreiben.
Aber einzig und allein die Jay’nac waren offenbar in der Lage, ihre Fähigkeiten so zu nutzen, dass sich daraus auch ein immenses Machtpotenzial auf galaktischer Bühne ergab.
Ein Potenzial, das von den Gegnern häufig überschätzt wurde. So stark, wie es von außen schien, waren die Jay’nac nämlich keinesfalls.
„Wir sind euch Felorern und den Keelon zu Dank verpflichtet“, sagte Tamrac. Die nonverbalen, über teils sehr spezielle Sinne verbreiteten Signale, die der Jay’nac mit diesen Worten aussandte, passten zu dem Gesagten, er war authentisch.
Ein ähnliches Echo war ihm bereits auf Nar’gog förmlich entgegengeschlagen. Die Jay’nac empfanden echte Dankbarkeit oder doch zumindest etwas, das dieser Emotion sehr nahe kam. Sie wussten, dass sie ihre Existenz nur der Hilfe der Felorer und Keelon verdankten.
„Jeder auf Nar’gog denkt jetzt darüber nach, ob dieser sichere Zustand für länger anhält – oder ob die Entartung der Zeit irgendwann wieder einsetzt“, sagte Tamrac.
„Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es zu Letzterem kommen könnte“, hielt Felvert dem entgegen.
„Der Effekt war künstlichen Ursprungs, aber es ist nie gelungen – auch nicht mithilfe unserer Verbündeten –, die Quelle dieses Zeitrafferfeldes zu finden. Oder diejenigen, die es errichtet haben.“
„Das ist richtig.“
„Daher ist es jederzeit möglich, dass der Prozess wieder in Gang gesetzt wird?“
„Wir können es zumindest nicht ausschließen.“
Der Felorer schwebte einmal quer durch den Innenraum, als der Jay’nac ihm die Sicht nach außen ermöglichte. Ein Teil der kristallinen Außenwand wurde transparent. Die Station wurde in all ihrer Schönheit und technischen Vollkommenheit sichtbar. All die achtförmigen Strukturelemente, die ineinander verwoben waren, erzeugten in ihrer Gesamtheit einen riesigen Komplex.
Überall im System der Jay’nac flogen jetzt wieder Raumschiffe, von denen die meisten aus Jay’nac-Körpern bestanden. Während der temporalen Krise war das nicht möglich gewesen. Zu riskant. Die Auswirkungen waren nicht vorhersehbar, weder für das betreffende Schiff noch für die temporale Stabilität des Systems.
„Eine Meldung von Station eins trifft ein“, sagte die Stimme von Tamrac. „Dringend.“
Eine Holoprojektion wurde aktiviert.
Boolvert erschien dort in Lebensgröße.
„Ein riesiges Objekt wurde geortet. Es schießt auf Nar’gog zu und bremst jetzt langsam ab.“
In der Holodarstellung zeigte sich die herangezoomte Ansicht des Objekts. Dazu wurden die Daten in einem Nebenfeld eingeblendet.
„Das ist unglaublich!“, entfuhr es Felvert. „Was sagen die Keelon dazu?“
„Sie sind fassungslos. So wie wir.“
„In welcher Absicht ist das Objekt hier?“
„Das versuchen wir gerade herauszufinden. Und natürlich fragen wir uns alle auch, ob sein Auftauchen mit dem Verschwinden des Zeitentartungsfelds zu tun hat.“
„Vielleicht begegnen wir nun denen, die es geschaffen haben!“
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E IN JAY’NAC, DER DIE Form einer Pyramide hatte und über mindestens dreißig Extremitäten verschiedener Länge verfügte, von denen ein Drittel zur Fortbewegung diente und die anderen mit verschiedenartigen Greiforganen ausgestattet waren, trat auf Scobee und Siroona zu, die sich noch immer in der Nähe des Granogk im Freien aufhielten. Das Klima auf Nar’gog war mild und gemäßigt. Kein Wind, kein Niederschlag, keine Schwankungen. Selbst der Unterschied zwischen Tag und Nacht war kaum zu spüren. Scobee hatte keine Erklärung dafür. Entweder die Jay’nac verfügten über eine so hoch entwickelte Technik zur Klimasteuerung, dass sie tatsächlich in der Lage waren, diese, mathematisch gesehen, eigentlich chaotischen Prozesse zu steuern – oder das Granogk befand sich in einer günstigen Zone.
Was will dieser hässliche Pyramidenzwerg?, waren Siroonas Gedanken sehr deutlich in Scobees Kopf zu hören. Scobee hoffte nur, dass Siroona diesen telepathischen Strom ausschließlich an sie geschickt hatte, sodass er den Jay’nac nicht erreichte.
Der Anorganische hielt mit vier seiner Greifarme jeweils einen zylindrischen Behälter. „Nehmt davon“, sagte er. „Jeder von euch bekommt einen roten und einen gelben Behälter.“
Geschenken aller Art sollte man misstrauen, fand Siroona. Ich frage mich, mit welcher Absicht sie gegeben werden.
„Mit der Absicht, euch zu helfen“, sagte der Jay’nac ungerührt.
„Was ist in den Behältern?“, fragte Scobee.
„Nährstoffe und H 2O. Ihr seid organische Wesen und habt einen regelmäßigen Bedarf daran. Dass wir nicht daran gewöhnt sind, Organische zu beherbergen, mag sein. Wir haben die Keelon um Rat gefragt, und die Zusammensetzung der Nährkonzentrate dürfte für euer beider Spezies verträglich sein. Was das H 2O angeht, so haben wir ein paar Mineralien zugesetzt.“
Scobee nahm die beiden Behälter, die für sie bestimmt waren. Das Wasser trank sie zuerst. Sie hatte schrecklichen Durst, aber in letzter Zeit kaum daran gedacht, etwas zu essen oder zu trinken.
In dem zweiten Behälter befand sich eine breiige Masse. Sie schmeckte ziemlich fad, aber Scobee war froh, überhaupt etwas zu bekommen.
„Die ist eine Wohltat des Granogk und des großen Ganzen“, sagte der Jay’nac. „Ich hoffe, ihr wisst sie auch zu schätzen. Die Herstellung von Nahrungsmitteln für Organische ist äußerst aufwändig und verschlingt eigentlich unverhältnismäßig viele Ressourcen.“
„Wir danken dem Granogk und dem großen Ganzen“, sagte Scobee.
Siroona zögerte, ehe sich die alte Foronin diesem Dank etwas weniger enthusiastisch anschloss. Das ist scheußlich, äußerte sie in einem Gedankenstrom, der offenbar nur an Scobee gerichtet war. Zumindest gab es von Seiten des Jay’nac keinerlei Reaktion darauf.
Sie flößte sich mit Schmatz- und Sauggeräuschen den Inhalt der beiden Behälter ein. Wie genau sie es bewerkstelligte, war nicht erkennbar. J ünger macht mich das auch nicht, es gleicht nur einen momentanen Mangel aus, meinte die Foronin.
Ein Lächeln glitt über Scobees Lippen.
Ein Lächeln, das niemand auf dieser Welt als solches zu erkennen vermochte.
„Mehr zu verlangen wäre auch wohl ein bisschen übertrieben“, meinte sie an Siroonas Adresse gerichtet.
„Findest du?“, fragte Siroona, die sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder akustisch äußerte.
Der vielarmige Jay’nac meldete sich neuerlich zu Wort. „Wenn ihr noch einen Wunsch habt, dann sprecht ihn aus. Soweit es in meiner Macht steht, wird man ihn erfüllen.“
„Danke“, sagte Scobee.
Der Jay’nac lief auf seinen ungelenk wirkenden Extremitäten davon und verschwand zwischen all den anderen bizarren Siliziumwesen.
Dieses Gebräu wird mir den Rest geben, glaubte Siroona. Womit habe ich das verdient? Gestrandet zwischen den Galaxien und einer temporalen Krise entronnen, sterbe ich nun an schlechtem Essen ...
„Vielleicht übertreibst du ein bisschen.“
Einen Moment lang spürte Scobee die Präsenz der Foronin etwas stärker. Offenbar ein kleiner emotionaler Ausbruch. Wut und Selbstmitleid mischten sich da. Aber sie hatte einfach nicht die mentale Kraft, die sie früher auszeichnete. Siroona war ein Schatten ihrer selbst, und Scobee war froh darüber.
Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen.
Jedenfalls nicht die individuelle Lebenszeit Siroonas.
Scobee beruhigte das. Andernfalls hätte sie ständig fürchten müssen, von ihr übernommen zu werden.
Du schirmst deine Gedanken vor mir ab.
„Ist das nicht mein gutes Recht?“
Recht? Was soll das sein? Es gibt ein einziges Gesetz im Universum. Und das ist das Recht des Stärkeren.
„Und der bin im Moment ich“, stellte Scobee kaltschnäuzig fest.
Siroona schwieg eine Weile. Dann stimmte sie Scobee sogar zu. Du hast Recht. Aber ein verworrenes Schicksal hat uns nun einmal zusammen auf diese Welt geführt. Wir können diesen Umstand beide verfluchen oder uns fragen, ob es nicht für uns beide klüger gewesen wäre, in der Vergangenheit andere Entscheidungen zu treffen.
„Das wäre es wahrscheinlich!“ nickte Scobee. Ich hätte auf der RUBIKON bei John bleiben sollen. Aber was geschehen ist, ist nun mal geschehen. Es gibt nur einen Weg, der vorwärts führt. Als hör auf mit dem Gejammer. In punkto Selbstmitleid kommst du ja schon fast an Siroona heran...
Siroona äußerte nun ein paar Gedanken, die Scobee nicht verstand.
Wirres Zeug. Bilder und semantische Bedeutungseinheiten, die Scobee wie Splitter des eigentlichen Gedankens erschienen. Waren das Alterserscheinungen bei Siroona? Eine Art foronische Demenz?
Aber was die Foronin mitzuteilen hatte, interessierte Scobee im nächsten Moment ohnehin nicht mehr sonderlich.
Es war die Aufregung innerhalb des Granogk, die Scobee darauf aufmerksam machte, dass etwas Besonderes im Gange war.
Im nächsten Moment sah sie es selbst. Ein Objekt erschien am Taghimmel von Nar’gog. Es hob sich zunächst dunkel gegen das Sonnenlicht ab, wurde dann größer und größer. Schließlich schimmerte es metallisch.
Eine gewaltige goldene Kugel, imposant wie ein Mond, hing über dem Horizont, sank immer tiefer und gewann dabei noch weiter an Größe.
„Ein Schiff der Gloriden!“, stieß Scobee hervor. „Das Ding hat mindest mindestens tausend Meter im Durchmesser!“
Was wollen die hier?, fragte Siroona.
Aber diese Frage konnte im Moment nicht einmal das Granogk beantworten, in dem es ununterbrochen raunte. Die kristallinen Strukturen veränderten sich. Sie wuchsen zusammen, teilten sich auf und kommunizierten dabei unentwegt.
Scobee konnte davon so gut wie nichts mitbekommen. Sie hatte auf dem Boden gekauert und ihre Mahlzeit beendet. Jetzt schickte sie sich an zu gehen.
„Wohin willst du?“, fragte Siroona. Ihre Stimme drang kaum durch das Geraune des Granogk, wurde aber durch einen sehr starken, sehr präsenten Gedankenstrom unterstützt, sodass Scobee regelrecht zusammenzuckte.
„Ich will Porlac suchen ...“
Siroona machte Anstalten, ebenfalls zu gehen. Es ist noch nicht lang her, da war er hier in der Nähe... Warte auf mich!
Siroona folgte Scobee, aber die GenTec kümmerte sich nicht weiter um die Foronin. Sie ließ den Blick schweifen und versuchte inmitten des unübersichtlichen Durcheinanders bizarrster Formen den Sprecher des Granogk zu entdecken. Manche der Stimmen, die sie dabei vernahm, verstand sie jetzt.
„Wir müssen Gegenmaßnahmen ergreifen!“
„Die Fremden müssen wissen, wer Herr dieses Systems ist!“
„Auf unsere Kontaktversuche haben sie nicht reagiert!“
„Alarm für sämtliche Streitkräfte. Kampfraumschiffe sollen sofort starten. Gefechtsbereitschaft wird in Kürze hergestellt sein.“
Dann fand sie Porlac.
Er hatte eine Holodarstellung aktiviert. Symbolkolonnen erschienen dort. In einigen Bildfenstern waren sowohl Keelon als auch Felorer zu sehen. Allerdings schien nun ein Teil der Kommunikation auf nonverbaler Ebene abzulaufen. Allen Beteiligten mochten noch weitaus schnellere Übermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stehen.
Überall am Himmel konnte man jetzt Jay’nac-Schiffe unterschiedlichster Größe sehen, die gestartet waren, um sich dem mutmaßlichen Aggressor entgegenzustellen.
Das gesamte Firmament war nach kurzer Zeit von dieser Armada erfüllt. Und alle Einheiten, die sich gegenwärtig bereits an anderen Stellen des Nar’gog-Systems aufhielten, wurden umgehend zurückgerufen, damit sie ebenfalls der Verteidigung des Jay’nac-Planeten zur Verfügung standen.
Die Kontaktversuche zu dem goldenen Schiff scheinen allesamt zu scheitern!, kommentierte Siroona, was sich vor ihren Augen abspielte.
Jetzt bemerkte Porlac Scobee und Siroona.
„Was sind die Absichten des goldenen Schiffs?“, fragte Scobee.
Porlac verharrte einige Augenblicke lang regungslos. Er antwortete auch nicht sofort. Eine eigenartige Starre hatte ihn befallen. Vielleicht handelte es sich einfach um die Jay’nac-Entsprechung eines fassungslosen Innehaltens. Er machte auf Scobee einen ziemlich ratlosen Eindruck.
Dann durchlief eine ruckartige Bewegung seinen kristallinen Körper.
„Es ist kein Schiff“, sagte er.
„Kein Schiff?“
„Das Objekt hat einen Durchmesser von hundert Kilometern!“, erklärte Porlac, und Scobees Übersetzungschip übertrug dabei die Maßangabe gleich in eine Einheit, unter der sie sich etwas vorzustellen vermochte.
„Dann ist es eine ... CHARDHIN-Perle!“, stieß Scobee hervor.
Die Erkenntnis traf Scobee wie ein Schlag vor den Kopf. Es musste also möglich sein, diese gigantischen, normalerweise jenseits des Ereignishorizonts von Schwarzen Löchern fixierten riesigen Stationen aus ihrer Verankerung zu lösen und frei zu manövrieren wie ein Raumschiff.
Du hast gedacht, dass die Gefahr vorüber ist – und jetzt stehen wir vor Kampfhandlungen ungeahnten Ausmaßes!, lautete Siroonas zynischer Kommentar an sie.
Auch Porlac wandte sich an Scobee. „Du weißt, was das für ein Objekt ist?“
„Ja.“
„Dann sprich. Welches Volk baut derartige Dinge?“
„Das wiederum weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass solche Objekte vom halbenergetischen Volk der Gloriden im Auftrag der eigentlichen Erbauer verwaltet werden.“
„Du sprichst in Rätseln.“
„Ich werde es dir erklären, Porlac. Ich bin sogar schon einmal an Bord eines derartigen Objekts, wie du es nennst, gewesen, und eigentlich ist sein Platz hinter dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs ...“
Scobee begann zu erzählen, und trotz der Hektik, die im Granogk auszubrechen drohte, hörte Porlac ihr zu. Nur für die wichtigsten Fakten war jetzt Zeit.
„Glaubst du, es lohnt die Mühe, Kontakt mit der Besatzung aufzunehmen?“, fragte Porlac.
„Natürlich. Wer immer dieses Ding zu fliegen versteht, verfügt über ein technisches Wissen, das dem euren weit voraus ist.“