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3 | Die Verschwundenen
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Die Verschwundenen
Vergangenheit – hundert Erdenjahre vor Scobees Zeitebene (ca. 2450 n. Chr.)
John Cloud war eins mit dem Schiff, dem er den Namen RUBIKON gegeben hatte. SESHA war die Bezeichnung gewesen, auf die das Rochenschiff einst von seinen foronischen Besitzern getauft worden war. Aber die Tage, da Sobek, Siroona und die anderen Hirten das Schiff geführt hatten, waren lange vorbei.
Jetzt wurde der Begriff „Sesha“ nur noch in Verbindung mit der gleichnamigen Künstlichen Intelligenz des Schiffes benutzt.
Vergangenheit, dachte John Cloud. Aber welche Rolle spielte der Name noch im Anbetracht der dramatischen temporalen Odyssee, die das Schiff hinter sich hatte.
Relativzeit, dachte Cloud. Vielleicht ist das der Begriff, der es am ehesten trifft.
Cloud steckte in einem der Steuersarkophage der RUBIKON. Mit Seshas Hilfe steuerte er das Schiff direkt. Er war in den Sensoren ebenso wie in der Steuerung und den anderen Schiffsystemen. Für Dauer seines Aufenthalts im Sarkophag war die RUBIKON zu seinem Körper geworden. Einem Körper, den er absolut beherrschte, seit Sesha ihn als Kommandanten anerkannt hatte.
Eine Woche noch und sie würden das Solare System erreichen. Die Heimat der Menschheit, die seit Beginn der Keelon-Herrschaft in der Galaxis als „Erinjij“, als Sternenpest, verschrien war.
Natürlich fragte sich Cloud, was sich dort inzwischen getan hatte. Waren die Keelon-Master immer noch an der Macht? Erweiterten die Erinjij nach wie vor ihr Einflussgebiet oder war der Eroberungsdrang dieser Geißel der Galaxis inzwischen unter dem Einfluss des Entartungsfeldes, das alle Hochtechnik geißelte, zum Erliegen gekommen?
Über die Situation, die Cloud und seine Getreuen vorfinden würden, konnten sie nur spekulieren.
Sesha!, wandte sich Cloud an den Bordrechner.
Die KI gab sich dienstbar. Was kann ich für dich tun, John Cloud?
Ich möchte, dass du noch einmal alle Systeme überprüfst, forderte Cloud.
Unter welchem Aspekt? Geht es dir um Kargor?
Natürlich ging es um Kargor, die rätselhafte Entität der ERBAUER – jener Rasse, die die Chardhin-Perlen geschaffen und später den Gloriden zur Verwaltung übergeben hatte, ehe sie sich aus unbekanntem Grund zurückgezogen hatte.
Ich habe jetzt mehrere Überprüfungen durchgeführt. Für Kargors Anwesenheit an Bord des Schiffes gibt es keinerlei Hinweise, Kommandant!
Ich wäre nur gerne sicher!, gab Cloud zurück.
Du bist der Kommandant. Das heißt, ich führe so viele Überprüfungen durch, wie du willst – nur werden sie zu keinem anderen Ergebnis führen. Es gibt nach wie vor zwei Möglichkeiten: Entweder er ist noch irgendwo im Schiff und tarnt sich aus irgendeinem Grund so hervorragend, dass ich ihn nicht zu finden vermag. Die Möglichkeit dazu hätte er meiner Ansicht nach – und wie dir bekannt ist – durchaus. Die zweite Möglichkeit ist, dass er das Schiff tatsächlich verlassen hat. Ich fürchte, ich kann dir – trotz einer weiteren Überprüfung – in dieser Angelegenheit nicht wirklich weiterhelfen, Commander. Wir werden mit der Ungewissheit wohl noch eine Weile leben müssen.
––––––––
A LGORIAN SAß IN EINEM Schalensitz, der sich seiner hageren, aber humanoiden Gestalt vollkommen angepasst hatte. Viel war geschehen, seit er Teil der RUBIKON-Crew geworden war. Das Gefühl des Alleinseins machte ihm zu schaffen. Er war der einzige Aorii an Bord. Normalerweise lebten Aorii als Zwillingspaar zusammen, und seit dem Tod seines Hassbruders Rofasch hatte Algorian ein permanentes Gefühl der Einsamkeit nie wirklich verlassen.
Einzig und allein die Freundschaft zu dem Aurigen Cy konnte diese sich immer wieder Bahn brechende Emotion auf ein erträgliches Maß abmildern.
Aber so eng die Verbindung zu dem Pflanzengeschöpf auch sein mochte – sie beide waren letztlich doch sehr verschieden, sodass ein Austausch nur in gewissen Grenzen möglich war. Nicht immer empfand Algorian das so schmerzvoll wie im Moment. Er streckte seine Psi-Fühler aus, aber sie blieben ohne Kontakt zu einer verwandten Seele. Als Zweitling waren seiner Parafähigkeiten nur sehr schwach ausgebildet. Sein Hassbruder Rofasch war ein überaus starker Telepath gewesen. Zu Lebzeiten hatte er ihn mitunter verflucht, wenn er ungefragt in seine Gedanken eingedrungen war, ohne dass es dafür Algorians Meinung nach einen adäquaten Anlass gegeben hatte – aber inzwischen vermisste er nichts so sehr wie die Gedanken seines Zwillings.
Dein Hassbruder wird nicht ins Reich der Lebenden zurückkehren, wenn du jetzt in Selbstmitleid zerfließt. Und wenn du dich etwas ehrlicher und nüchterner deinen Erinnerungen stellst, dann musst du zugeben, dass euer Verhältnis so unproblematisch nun auch nicht war. Schließlich warst du ja nur der Zweitgeborene ... und das mit allen Konsequenzen!
Algorian versuchte seine fruchtlosen Grübeleien darüber, ob er nun mehr unter seinem Hassbruder zu leiden oder doch das verbindende Element in ihrer Beziehung dominiert hatte, zu beenden. Es gab nämlich noch eine andere Sache, die ihn beschäftigte und die ihm eigentlich sehr viel wesentlicher erschien.
Kargor hatte das Schiff verlassen.
Zumindest hatte sie es so angekündigt. Aber mittlerweile war sich Algorian nicht sicher, ob das wirklich der Fall war.
Zwischenzeitlich hatte er nämlich geglaubt, Kargors Anwesenheit erspürt zu haben. Für einen kurzen Moment war er sich vollkommen sicher gewesen.
Sicher genug, um auch Commander Cloud davon zu berichten, der daraufhin eine Überprüfung sämtlicher Systeme anberaumt hatte, deren Ziel es war, nach Anzeichen für die Anwesenheit des ERBAUERs zu suchen. Offenbar war man dabei bisher nicht fündig geworden.
Inzwischen war sich auch Algorian selbst nicht mehr so sicher, ob er seine Empfindungen richtig interpretiert hatte.
Rofasch müsste hier sein! Ich selbst bin eben nur ein schwach begabter Aorii ...
Immer wieder hatte sich Algorian seit der ersten Spur zurückgezogen, um sich besser konzentrieren und die schwach ausgebildeten Psi-Kräfte gebündelt einsetzen zu können.
Vor allem musste er dazu frei von jeder Ablenkung sein, was für Cy zunächst schwer verständlich gewesen war.
Aber schließlich ging es ja darum zu überprüfen, ob die Entität ihre Ankündigung wahr gemacht hatte.
Ein Summton zeigte an, dass jemand Algorians Raum zu betreten wünschte. Algorian hatte den Zugangsmechanismus gegenwärtig so konfiguriert, dass man nicht einfach eintreten konnte, sondern nur, wenn Algorian es gestattete. Er hatte schließlich sein Anrecht auf etwas Privatsphäre – ein Wort mit dem ein Mensch wohl dieses Phänomen beschrieben hätte. Für die Aorii gab es aufgrund der starken Psi-Fähigkeiten, die vor allem Erstlingen zu Eigen waren, ohnehin nur bedingt so etwas wie eine Sphäre, zu der niemand anders Zugang hatte. Die starken telepathischen Kräfte der Erstlinge sorgten zumindest bei den Zweitlingen dafür, dass sie sich erstens gegen die Macht ihrer erstgeborenen Zwillingsbrüder nicht zu wehren vermochten und zweitens deren Gedanken auch nicht als etwas angesehen wurden, was ein Aorii unbedingt hätte für sich behalten müssen.
Algorian erinnerte sich noch gut daran, dass es auf Crysral, der Zentralwelt der Allianz CLARON, immer wieder Probleme zwischen Aorii-Erstlingen und Angehörigen anderer Bündnis-Völker gegeben hatte, die sich ausspioniert fühlten, während den Aorii dafür jegliches Unrechtsbewusstsein fehlte.
Aber all das war lange Vergangenheit. Die Allianz CLARON existierte nicht mehr. Sie war unter dem Ansturm der verreinigten Erinjij- und Jay’nac-Streitkräfte untergegangen.
Und jetzt, nach dem letzten Zeitsprung, den die RUBIKON hinter sich hatte, waren vermutlich nicht einmal mehr Spuren ihrer Existenz geblieben.
Auch das verursachte Wehmut in Algorian. Wehmut, die er zu unterdrücken versuchte, so gut es ging.
Erneut war der Summton zu hören.
Algorian erhob sich von seinem Schalensitz und schaltete durch einen verbalen Befehl den Zugang frei.
Kurz darauf erschien das Pflanzenwesen. Der Aurige hatte die Form eines Strauchs. An einer stammähnlichen Verdickung in der Mitte befand sich eine Membrane, mit der er in der Lage war zu sprechen.
„Sei gegrüßt, Algorian“, wisperte Cy.
Der Aorii hörte den Vorwurf, der in den Worten des Aurigen mitschwang, durchaus heraus. Aber in dieser Hinsicht stellte er sich taub. Er war der Auffassung, dass ihm das Recht zustand, sich zeitweise zurückzuziehen. Auch von so engen Freunden wie Cy es zweifellos für ihn war.
Dass Cy Schwierigkeiten hatte, dies zu verstehen, dafür konnte Algorian nichts. Der Aorii-Zweitling hatte sich wahrlich Mühe gegeben, es Cy zu erklären. Doch offenbar gab es eben doch eine Grenze des gegenseitigen Verständnisses. Eine Grenze, die möglicherweise nicht nur damit zu tun hatte, dass sie wirklich extrem unterschiedlichen Spezies angehörten, bei denen man schon annehmen konnte, dass der bloße Begriff Freundschaft nicht kompatibel war.
„Ich musste über vieles nachdenken“, sagte Algorian.
„Du hättest deine Gedanken mit mir teilen können.“
„Das tue ich demnächst auch wieder, aber bevor es Sinn hat, seine Gedanken zu teilen, muss man sie zunächst ordnen. Findest du das nicht auch, Cy?“
„Dieses Argument hat durchaus etwas Bedenkenswertes“, gab der Aurige zu. „Ich werde darüber nachsinnen und dir dann meine Meinung mitteilen.“
„Tu das.“
„Heute suche ich dich allerdings einer anderen Sache wegen auf. Sollte ich dich in deiner Meditation gestört haben, so tut mir das zwar leid, aber ich sehe es als einen Umstand an, den ich nicht zu ändern vermag.“
Ist es leiser Spott, der sich da in den Worten meines Freundes Cy widerspiegelt?, ging es Algorian erstaunt durch den Kopf.
„Ich war keineswegs nur mit mir selbst und meinem Innenleben beschäftigt“, widersprach Algorian, noch bevor Cy in der Lage gewesen wäre, sein Anliegen vorzubringen.
„Das wollte ich auch gar nicht behaupten, Algorian.“
„Ich versuche herauszufinden, ob Kargor wirklich die RUBIKON verlassen hat.“
„Schlecht wäre das nicht! Ich weine dieser seltsamen Entität ehrlich gesagt keine Träne nach“, gestand Cy.
„Du hast keine Tränen“, erinnerte ihn Algorian.
„Ich weiß“, sagte Cy. „Es ist eine Redensart, die ich von den Erinjij aufgeschnappt habe.“
„Sie mögen es nicht, wenn man sie so nennt.“
„Und da wir mit ihnen an Bord eines Schiffes leben, sollten wir darauf Rücksicht nehmen, findest du?“
„Ja.“
Cy schwieg einige Augenblicke lang. Mit seiner nächsten Frage machte er deutlich, dass er über dieses Thema nicht weiter diskutieren wollte.
„Hast du Kargor gefunden?“, fragte der Aurige.
„Ich dachte es. Aber ...“
„Es war ein Irrtum?“
„Ich bin mir nicht sicher. Und Cloud auch nicht. Deswegen werden dauernd Systemchecks durchgeführt.“
„Nun, warum sollte Kargor plötzlich Versteck spielen? Hat er das nötig?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, Cy. Ich weiß aber, dass meine Psi-Begabung zwar selbst für einen Zweitling recht schwach ist, ich mich aber im Großen und Ganzen auf sie bisher verlassen konnte. Aber ich bin mir inzwischen auch nicht mehr ganz sicher, was ich wirklich empfunden habe. Die ganze Zeit versuche ich bereits, diesen Moment noch einmal zu vergegenwärtigen. Was ist das gewesen? Welche speziellen Signale glaubte ich da zu empfangen?“
„Du schließt also nicht aus, dass du dir etwas eingebildet hast.“
„So drastisch wollte ich das nicht formuliert wissen. Und jetzt heraus mit der Sprache! Weswegen bist du hier?“
„Früher brauchten wir keine Rechtfertigung, um die Gesellschaft des jeweils anderen zu suchen“, hielt Cy ihm entgegen.
„Das brauchen wir auch in Zukunft nicht. Aber ich bin etwas gereizt, weil ich mich geistig sehr anstrengen musste, um die Spur diese Entität vielleicht doch noch aufzunehmen. Daher wäre ich dir sehr dankbar, wenn du zur Sache kommen könntest.“
Cy zögerte. Ein leichtes Rascheln im Geäst seines Körpers war zu hören. Schließlich entschloss er sich doch, die Sache vorzubringen, nachdem in seinem Innern wohl ein heftiger Kampf darüber getobt hatte. „Es tut mir leid, aber ich kann dir Belastungen seelischer Art nicht ersparen, so sehr ich es mir auch gewünscht hätte.“
Algorian war jetzt vollkommen verwirrt. „So?“
„Kargor ist nicht der Einzige, der verschwunden zu sein scheint.“
„Wovon redest du, Cy?“
„In Ermangelung eines anderen Gesprächspartners – du warst ja nicht verfügbar – hatte ich mich in letzterer Zeit des Öfteren mit Sabhu unterhalten.“
„Der Typ aus Prosper Mérimées Truppe aus dem ehemaligen Getto?“, fragte Algorian.
„Ja. Ich habe ihn überall gesucht. Er war auf einmal nicht mehr da. Dasselbe gilt übrigens für Prosper Mérimée selbst.“
„Noch jemand?“
„Ich habe gehört, wie nach Sarah Cuthbert gesucht wurde. Sie ist noch nicht aufgetaucht. Selbst Sesha steht vor einem Rätsel.“
„Das klingt ernst, muss aber nichts bedeuten. Wir hatten schon mehr KI-Ausfälle in letzter Zeit. Sie wird sich einfach mal zurückgezogen haben, wie ich das auch ab und zu tue“, hielt Algorian seinem Freund Cy entgegen. „Und da zu den Verschwundenen ja wohl mehrheitlich du den letzten Kontakt hattest, solltest du dir mal überlegen, ob das alles nicht damit zusammenhängen könnte, dass du ein paar Leuten an Bord hier zur Zeit etwas auf die Nerven gehst!“
„Algorian, es geht nicht um mich oder darum, ob ich irgendwem an Bord auf die Nerven gehe. Das kann ich ohnehin kaum abschätzen, da ich mich doch am stärksten von euch allen unterscheide und ihr in der Regel gar nicht nachempfinden könnt, was in meinem Inneren vor sich geht.“
Eins zu null für Cy, musste Algorian zugeben.
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.
Dann schlug Cy vor, die betreffenden Personen ebenfalls durch Sesha suchen zu lassen, nicht nur Sarah.
Algorian blieb skeptisch. „Das ist längst geschehen ...“
„Ohne Erfolg, oder? Aber wenn Leute vom Schiff verschwinden, dann müssen notfalls eben wir eingreifen!“, verlangte Cy. „Immerhin ist das hier unser Lebensraum! Und sind solche Anomalien nicht eigentlich ein Zeichen dafür, dass irgendetwas mit der Zeit selbst nicht stimmt?“
Algorian machte eine Geste mit der rechten Hand, womit er eine Verneinung signalisierte.
––––––––
J OHN CLOUD HATTE DIE Steuerung an Sesha übergeben, stieg aus dem Sarkophag und stellte fest, dass mehrere Besatzungsmitglieder die Zentrale betreten hatten, neben Algorian und Cy auch der Narge Jiim.
In der Holosäule waren Ansichten des umgebenden Weltraums zu sehen. Dominant hatte sich eine gewaltige Positionsdarstellung aufgebaut, die den Weg bis zum Solaren System veranschaulichte. Die gegenwärtige Position der RUBIKON war farbig markiert.
Als Cloud den Sitz hinter sich ließ, betrat Jarvis die Zentrale. Er trug immer noch Kargors Splitter, den der ERBAUER ihm zum Geschenk gemacht hatte – und der die Illusion vortäuschte, es wieder mit dem „alten“ Jarvis, dem GenTec aus Fleisch und Blut zu tun zu haben. Der Kristallsplitter formte eine Maske, die für den Betrachter nur zu entlarven war, wenn er Jarvis berührte ... und statt weichem Körpergewebe das starre Nanokonstrukt unter den Fingerkuppen fühlte.
Cloud kam kurz in den Sinn, dass eine wichtige Person weiterhin in diesem Kreis fehlte.
Scobee.
Ihre Entscheidung, nicht an Bord der Rubikon zu bleiben, hatte Cloud zwar akzeptiert. Wirklich nachvollziehen konnte er sie jedoch nicht.
Er ließ durch einen Befehl an Sesha eine Konsole aus dem Boden wachsen, über die man einen Getränkespender bedienen konnte. Er braute sich einen Syntho-Drink mit Koffeinzusatz. Danach fiel die Konsole wieder in sich zusammen und wurde eins mit dem Boden. Cloud nippte an seinem Becher und verzog das Gesicht.
„Sieht so aus, als müsste ich da noch ein paar Dinge verbessern“, meinte er.
„Ich habe den Drink exakt nach deinen eingegebenen Vorgaben gemixt!“, meldete sich die KI zu Wort.
„Durchaus möglich, dass meine Vorgaben nicht exakt genug waren“, erwiderte Cloud.
„Und deshalb bin ich nicht für ein mangelhaftes Ergebnis verantwortlich.“
Cloud schmunzelte. „Das Ergebnis ist nicht mangelhaft. Ich befinde mich gewissermaßen noch in einer Experimentierphase, was die Kreation eines optimalen Getränks angeht.“
„Dann siehst du das gegenwärtige Ergebnis als Zwischenlösung an?“
„So ist es.“
„Ich möchte dich bitten, mir Angaben zur Spezifikation zu machen. Dann kann ich das Ergebnis verbessern.“
„Später. Im Augenblick bin ich einigermaßen zufrieden.“
„Wie kannst du zufrieden sein, wenn du andererseits das Ergebnis als noch nicht optimal bezeichnest?“, fragte Sesha.
Man sollte mit Computern nicht diskutieren!, dachte er.
„Wir werden den Drink später optimieren. Im Moment stellen sich dringendere Probleme.“
„Dann gestattest du, dass ich selbst nach einer optimalen Lösung suche?“
„Kontakt Ende“, sagte Cloud entschieden und nahm einen etwas kräftigeren Schluck aus dem Becher.
Er atmete tief durch und stellte erleichtert fest, dass Sesha verstummt war.
„Sie kann ganz schön nervig sein, was?“, lautete Jarvis’ Kommentar.
„Das kannst du laut sagen!“
Er ist der letzte aus der alten Crew!, rief sich Cloud ins Gedächtnis. Der Crew mit der ich einst zum Mars flog: Scobee, Resnick, Jarvis ...
So vieles hatte sich seitdem geändert. Eine bizarre Odyssee durch Raum und Zeit lag hinter ihnen – eine Odyssee, deren Ende noch nicht absehbar war. Alle, die daran beteiligt gewesen waren, hatten einen mehr oder minder starken Wandlungsprozess durchlaufen. Das galt für Cloud selbst natürlich auch. Am stärksten aber zweifellos für Jarvis, der sich an einen völlig neuen, nichtmenschlichen Körper hatte gewöhnen müssen. Und nun erneut auf die psychische Probe gestellt wurde – denn auch wenn es ihm sichtlich gut tat, nach außen wieder wie der „echte“ Jarvis – der von einst – auftreten zu können, so waren die damit verbundenen Gefühle sicherlich auch höchst ambivalent. Gerade die neue, vorgegaukelte Menschlichkeit musste ihm innerlich den Spiegel vorhalten, was wirklich aus ihm geworden war – eine Art beseelter Roboter, der beispielsweise nie (nie!) mit einer Frau zusammenkommen konnte.
Eigentlich fand Cloud, obwohl auch ihn der Anblick des vermeintlich wieder ins normale Leben zurückgeholten Jarvis vordergründig freute, dass Kargors Geschenk die Tragik um das Schicksal seines Freundes eher noch erhöht hatte.
Er blickte verwundert in die Runde. „Nanu, was ist das denn hier? Eine Volksversammlung?“
„In letzter Zeit sind tatsächlich die meisten an Bord etwas ihre eigenen Wege gegangen“, stellte Cy fest.
Worauf diese Äußerung eigentlich abzielte, war Cloud zunächst nicht so ganz klar. Er zuckte mit den Schultern. „Eigentlich doch nach den letzten Ereignissen nur zu verständlich. Die Zeit, die wir brauchen, um das Solare System zu erreichen ist doch für die meisten eine willkommene Gelegenheit, mental etwas auszuspannen. Davon abgesehen: Hat eigentlich jemand von euch Sarah gesehen?“
Sarah Cuthbert, die ehemaliger Präsidentin der USA, war für Cloud nach Scobees Weggang zu einer der wichtigsten Bezugspersonen an Bord geworden. Allerdings hatte er sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, wenn er die letzte Zeit Revue passieren ließ.
Aber das Schiff war ungeheuer groß, und es bedeutete keinerlei Schwierigkeit, sich zurückzuziehen oder anderen aus dem Weg zu gehen.
„Genau das ist der Punkt“, sagte Cy. „Sarah Cuthbert scheint nicht die Einzige zu sein, die momentan unauffindbar ist.“
„Na ja, vielleicht übertreibst du ein bisschen“, sagte Cloud. „Nur, weil sich ein paar von uns vielleicht etwas mehr zurückziehen, heißt das nicht, dass sie verschollen sind. So groß ist die RUBIKON nun auch wieder nicht! Und der Einzige, der sich wohl verabschiedet hat, ist Kargor.“
„Aber hat er das auch wirklich getan?“ mischte sich Algorian ein. „Du hast doch inzwischen Überprüfungen durchgeführt.“
„Mehrfach sogar“, nickte Cloud. „Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass er sich noch an Bord befindet. Aber einen klaren Beweis dafür zu finden, dass er tatsächlich gegangen ist, dürfte uns letztlich unmöglich sein.“
„Vielleicht ist er nicht allein gegangen“, mischte sich nun Jarvis in das Gespräch ein. Er verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nun aber mal raus mit der Sprache – vermisst du auch jemanden, Jarvis?“, fragte Cloud.
„Prosper Mérimée“, erklärte Jarvis. „Und wenn du einen Moment lang darüber nachdenkst, dann macht sein Verschwinden auch Sinn.“
„Inwiefern?“, fragte Cloud.
„Nach allgemeiner Auffassung hier war die Anwesenheit von Prosper Mérimée dafür verantwortlich, dass die RUBIKON ihren fulminanten Fehlsprung hingelegt hat, der uns nicht nur durch den Raum, sondern auch die Zeit katapultierte.“
„Richtig.“
„Könnte es nicht sein, dass Kargor es auf seine verquere Art durchaus ... nun ja, gut mit uns gemeint hat, indem er Prosper ... verschwinden ließ? Er könnte das als eine Sicherheitsmaßnahme in unserem Interesse aufgefasst haben.“
„Das glaube ich nicht. Außerdem ...“
„Was?“
Cloud atmete tief durch. „Ich habe noch mit Prosper gesprochen – und zwar nachdem Kargor offenbar von Bord gegangen ist.“
„Wir wissen weder exakt wann noch ob Kargor von Bord gegangen ist“, erklärte Algorian und berichtete anschließend in knappen Sätzen von der psionischen Wahrnehmung, die er in Bezug auf die Entität der ERBAUER gehabt hatte. „Ich sage das natürlich unter allem nur denkbaren Vorbehalt“, schränkte Algorian seine Aussage gleich wieder ein. „Normalerweise wäre ich mit dieser Sache gar nicht an euch herangetreten, aber da ich nicht der Einzige bin, der hier seltsame Dinge wahrzunehmen scheint, denke ich, dass alle das Recht haben, darüber Bescheid zu wissen. Vielleicht ergibt sich ja aus den Bruchstücken, die wir bis jetzt haben, ein Gesamtbild. Oder zumindest doch die Ahnung davon ...“
Cy wandte sich an Jiim.
„Du hast bis jetzt zu dieser Sache geschwiegen. Was ist deine Meinung?“
Jiim schwieg zunächst weiterhin. In seinem Leben hatte es große Veränderungen gegeben. Das Nabiss war auf unerklärliche Weise mit seinem Körper verschmolzen – und dann war da auch noch Yael, das Kind, das er während Kargors Anwesenheit auf der RUBIKON zur Welt gebracht hatte.
Es war schon verwunderlich genug, dass er seinen Spross allein ließ, um an dieser Zusammenkunft teilzunehmen – aber gleichzeitig war es auch ein klares Signal, dass er sich weiterhin der Gemeinschaft zugehörig fühlte.
„Mir ist aufgefallen“, erhob der Narge schließlich doch noch seine Stimme, „dass ich in letzter Zeit weder Sarah noch irgendjemanden aus Prosper Mérimées Tross gesehen habe – insofern kann ich die Beobachtungen der anderen hier im Raum nur bestätigen. Aber was ich daraus schließen soll, weiß ich nicht. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ich jemanden hier an Bord über längere Zeit nicht getroffen habe. Obwohl es gerade bei Sarah etwas seltsam ist. Sie kümmerte sich eine Zeitlang fast täglich um Yael ...“
„Der Aufenthaltsort der Vermissten müsste doch festzustellen sein“, sagte Jarvis. „Durch Sesha.“
„Negativ“, meldete sich die KI sofort aus dem Off.
Verblüffte Blicke folgten.
„Ist das dein Ernst?“, fragte Cloud. „Warum hast du dann nicht früher gemeldet, dass ...“
„Mich hat niemand gefragt.“
„Du hast immer noch einen Schaden, stimmt’s?“, knurrte Cloud in Erinnerung an die Verwirrung der KI während Kargors Aufenthalt.
„Falsch. Meine Selbstdiagnose ergibt keinerlei Beeinträchtigung. Ich arbeite auf einem optimalen Level. Das unterscheidet mich von biologischen Einheiten wie –“
„Schon gut, schon gut.“ Jarvis zuckte mit den Schultern. „Sie kapiert es nicht, dass es Dinge gibt, die selbst an ihr vorbeilaufen – mich beunruhigt nur die Häufung dieser Fehleinschätzungen. Könnten wir sie nicht ganz ausschalten und den Kahn manuell fliegen?“
Er zwinkerte hoffnungsvoll.
In diesem Moment ertönte ein durchdringendes Alarmsignal.
Die Holosäule der Zentrale leuchtete grell auf.
Etwas Außergewöhnliches musste geschehen sein.
––––––––
„ EINE ERKLÄRUNG, SESHA!“, verlangte Cloud. „Was ist los?“
In der Holosäule war jetzt nichts mehr zu erkennen. Sie war letztlich erstarrt und wirkte wie nach einem kompletten Systemabsturz.
Sesha gab keine Antwort, was Clouds Befürchtungen in diese Richtung wachsen ließ.
„Gefechtsstatus?“, fragte er.
Wieder keine Reaktion der KI.
Nicht einmal die Anzeige der Ortungsdaten und der Positionsangabe funktionierten.
Plötzlich erschien eine Holokugel mitten im Raum. Alle Anwesenden wichen unwillkürlich einen Schritt zurück.
In der Holokugel waren nur wirre Formen und Farben zu erkennen. Ein abstraktes Muster, das keine weitergehende Bedeutung zu haben schien.
Vielleicht handelte es sich aber auch nur um eine Darstellungsweise, die den menschlichen Sinnen nicht so recht angepasst war.
„HIER SPRICHT KARGOR“, sagte eine wohlmodulierte Kunststimme, die eigentlich sonst zum Pool an verschiedenen Stimmen gehörte, die von Sesha für die akustische Systemsausgabe benutzt wurden.
„Kargor, du bist noch an Bord? Vielleicht gibst du uns jetzt mal eine Erklärung für das, was gerade geschieht? Was hat der Alarm zu bedeuten? Worin besteht die Gefahr, der sich das Schiff ausgesetzt sieht, und weshalb ist die KI abgestürzt?“
„DIES IST EINE NACHRICHT, DIE MIT EINER ZEITSCHALTUNG AKTIVIERT WURDE. WENN DU SIE ERHÄLTST, JOHN CLOUD, WERDE ICH NICHT MEHR AN BORD SEIN. ICH HIELT ES FÜR ANGEMESSEN, DICH ÜBER EINIGE DINGE ZU INFORMIEREN. SO HABE ICH DAS SCHIFF NICHT ALLEIN VERLASSEN, SONDERN ZUVOR SÄMTLICHE RISIKOFAKTOREN FÜR DIE SICHERHEIT DER RUBIKON BESEITIGT.“
„Damit meint er Prosper!“, entfuhr es Jarvis ziemlich ungehalten.
Cloud hörte weiter zu.
„DASS PROSPER MÉRIMÉE EINE ZEITANOMALIE IN SICH TRÄGT, DIE ZUM FEHLSPRUNG DER RUBIKON FÜHRTE, DÜRFTE INZWISCHEN WOHL AUCH UNTER EURESGLEICHEN ALS UNSTRITTIG GELTEN. ICH HABE IHN DAHER ... ENTFERNT. ABER WENN DU GLAUBST, DASS DIES DIE EINZIGE URSACHE FÜR DIE BEEINFLUSSUNG EURER SPRUNGTRIEBWERKE WAR, SO IRRST DU. ICH HABE SEINE GESAMTE ... ZIRKUSTRUPPE EBENFALLS VOM SCHIFF ENTFERNT. SIE STELLTEN EBENSO POTENZIELLE GEFAHRENQUELLEN DAR WIE DIE FRAU NAMENS SARAH CUTHBERT ...“
Eine Flut von Gedanken brandete durch Clouds Hirn. Was hatte die Entität mit all den Genannten angestellt? Sie einfach getötet – oder nur entführt? In Gefilde, die Cloud und der Besatzung der RUBIKON-Crew unzugänglich waren? Wo mochten sie stecken?
Ein kalter Schauder überkam Cloud.
Mit vielem hatte er gerechnet – aber nicht mit dieser kompromisslosen Kaltschnäuzigkeit, die Kargor an den Tag legte.
Nahezu fassungslos hörte er zu, wie die Entität in ihrer Erklärung fortfuhr...