Читать книгу Imperium der Foronen: Raumschiff Rubikon Band 9-16: Science Fiction Abenteuer Paket - Lars Urban - Страница 19
5 | Die Rückkehr der CHARDIN-Perle
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Die Rückkehr der CHARDIN-Perle
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Ü BERALL AUF TORSTATION 1 hatte der Alarm für hektische Aktivität gesorgt. Auf den Korridoren war jetzt fast nur noch felorisches Einsatzpersonal zu finden.
„Was ist los?“, sprach einer jener Jay’nac, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt an Bord der Torstation befanden, beim obersten Tormeister vor.
Felvert brauchte einige Augenblicke, um sich mental auf den Jay’nac einzustellen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Jay’nac, die die Torstationen besuchten, war er nicht ausschließlich hier, um sich die Mentalstruktur des eigenen Bewusstseins ordnen zu lassen, sondern in ganz offizieller Mission.
Im Auftrag des Granogk.
Felvert kannte ihn. Sein Körper glich einem unregelmäßig geformten Klotz mit scharfen Kanten, der sich mit einem schabenden Geräusch über den blanken Boden bewegte. Er rutschte noch etwas näher auf Felvert zu. Das Geräusch, das dabei entstand, war für Felverts hochentwickelte Wahrnehmungsfähigkeit kaum erträglich. Dass die Jay’nac in dieser Hinsicht sehr viel unempfindlicher waren, hatte Felvert zu akzeptieren gelernt. Es fiel ihm nicht allzu schwer, denn er musste neidlos eingestehen, dass sie auf anderen gebieten Großes leisteten.
Aber wie sich gezeigt hatte, reichte das nicht unbedingt aus, um sich selbst zu schützen. Das Zünglein an der Waage waren Spezies wie die Felorer oder die Keelon, deren hervorstechende Fähigkeiten und Potenziale in der zurückliegenden Krise lebensrettend gewesen waren. „Ein Vorsprung des Wissens ist wie der vorweggenommene Sieg in einer kriegerischen Auseinandersetzung“, hatte Jirandogonervert, ein berühmter felorischer Tormeister der Alten Zeit einmal gesagt. Zumindest hatten nachfolgende Chronisten ihn in dieser Form überliefert.
„Droovac, nicht wahr?“, fragte Felvert.
„Richtig.“ Man brauchte nicht unbedingt ein besonders guter Kenner der Jay’nac-Psychologie zu sein, um zu merken, dass Droovac von seinem Gegenüber erwartete, erkannt zu werden. Angesichts der sehr individuellen körperlichen Merkmale eines Jay’nac war das auch keineswegs zuviel verlangt.
Die neue Krise, in der sich das Nar’gog-System befand, kam für Droovac völlig überraschend. Aber eigentlich war jede Krise auch eine Möglichkeit, sich zu profilieren. Vielleicht trachtete er danach, sich einmal zum Sprecher des Granogk aufzuschwingen.
Allerdings hatte Droovac zu keinem Zeitpunkt den Eindruck erweckt, etwas zur Stabilisierung der Lage beisteuern zu können.
Felvert hatte den Eindruck, dass Droovac auch ein wenig überfordert war. Aber das Granogk hat ihn in seiner unergründlichen Weisheit nun einmal hier her geschickt!, meldete sich eine sarkastische Gedankenstimme aus einem hinteren Winkel von Felverts Bewusstsein.
„Ich nehme alles wahr!“, sagte Droovac gerade. Eine formelhafte Redewendung der Jay’nac, mit der sie einem Gesprächspartner signalisierten, dass sie einen Bericht erwarteten.
Felvert stutzte einen Moment, was sich in einer sehr aufrechten Haltung seines entfernt wurmähnlichen Körpers zeigte. Dann fiel ihm die Bedeutung von Droovacs Worten gerade noch rechtzeitig ein. Bei noch längerem Herauszögern der Antwort hätte er eindeutig als unhöflich gegolten.
„Wir sind leider noch nicht soweit, um berichten zu können.“
„Auch nicht vorläufig?“
„Nein.“
„Aber hier läuft alles durcheinander und ich wüsste gerne, was...“
Felvert fiel Droovac ins Wort.
„Es tut mir leid, aber ich kann im Moment keine weiteren Auskünfte geben“, erklärte der oberste Tormeister.
„Ich möchte gerne auf dem Laufenden gehalten werden.“
„Natürlich.“
So etwas hat mir gerade noch gefehlt!, dachte er ärgerlich. Es ist immer dasselbe – dass diejenigen, die am wenigsten zur Lösung des Problems beitragen können, sich selbst am Wichtigsten nehmen!
Felvert ließ Droovac einfach stehen und begab sich umgehend in die Steuer-Acht zurück. Die Situation erforderte einfach seine Anwesenheit. Jetzt, da die Krise sich zuspitzte, war dort sein Platz, gleichgültig wie es ihm ging oder wie lange er schon ununterbrochen Dienst gehabt hatte. In Augenblicken wie diesen war das alles zweitrangig.
Ich werde die letzen Reserven mobilisieren müssen, dachte er. Mentale Reserven – und chemische. Und dann wollen wir mal sehen, ob wir dieses Problem nicht doch vom Antlitz des Universums radieren können!
Auf die eine oder andere Weise...
Felvert sammelte seine inneren Reserven, wozu er eine kleine, auch während der Fortbewegung machbare Meditationsübung durchführte. Geistige Disziplin ist alles. Sie entscheidet letztlich über Leben und Tod.
Trotzdem fühlte er eine tiefe Erschöpfung in sich, von der er ahnte, dass keine Schwefelverbindung dagegen etwas hätte bewirken können. Das Problem lag auf mentaler Ebene. Felvert war dies zwar in aller Deutlichkeit bewusst, aber es schien keine Möglichkeit zu geben, an seiner gegenwärtigen Verfassung etwas zu ändern.
Zumindest nicht fundamental.
Das Gesetz der zunehmenden Entropie ist eine Grundlage aller Existenz, dachte er. Und du versuchst gerade, dieses Naturgesetz zu umgehen, es zu leugnen oder durch den Einsatz von schwefelhaltigen Chemikalien zu betrügen. Eigentlich solltest du es besser wissen ...
„Der Aggressor nähert sich erneut! Und zwar auf einem Kurs, der so gut wie identisch mit jenem Weg ist, den diese Riesenkugel bei der ersten Annäherung genommen hat“, meldete Boolvert.
Seine Worte rissen Felvert sofort aus seinen Grübeleien heraus. Für den Moment war die sich bereits bedrohlich ausbreitende Lethargie wie weggeblasen.
Jetzt zählte die Gegenwart.
Der Moment.
Sonst nichts.
Alle Gedanken, die Felvert von der Konzentration auf den Augenblick hätten ablenken können, verbannte er aus seinem Bewusstsein. Aber manchmal war es bedeutend einfacher, das Bewusstsein eines Jay’nac zu ordnen, als dasselbe Kunststück bei sich selbst hinzubekommen, wie Felvert bitter feststellen musste.
Was Boolvert gesagt hatte, klang unglaublich. Nach und nach sickerten seine Worte in die tieferen Schichten von Felverts Bewusstsein. Vor allem dämmerten dem Tormeister die Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Allein bei dem Gedanken daran schauderte es ihn.
„Und ihr seid euch sicher, dass es sich tatsächlich um dieselbe Kugel handelt?“, fragte Felvert skeptisch. Es fiel ihm nach wie vor schwer, dies als Faktum zu akzeptieren.
„Absolut!“, meldete Yyvert, nachdem er noch einmal die Instrumente kontrolliert hatte.
Ein Zittern durchlief die ineinander verhakten achtförmigen Körpersegmente des Felorers. Ein sonderbares Geräusch entstand dabei, das einem spontanen und tief empfundenen Ausdruck des Erstaunens gleichkam.
„Aber das ist unmöglich!“
„Unsere Ortung irrt sich nicht!“
„Dennoch ...“
„Ich habe einen Fein-Scan der Oberfläche durchgeführt. Das Material ist sehr ungewöhnlich, aber die Strukturen sind völlig identisch mit dem ersten Objekt, das ins System eindrang.“
„Das ist natürlich ein Beweis“, gestand Felvert zu.
Die Konsequenz lag auf der Hand. Der Versuch, dieses Riesenobjekt ungeschehen zu machen, war gründlich gescheitert. Woran das genau lag, musste noch untersucht werden.
Allerdings nur sofern Zeit dazu blieb.
Felvert registrierte mit großer innerer Anspannung den Kurs des Objekts, wie er auf der Positionsanzeige abgebildet wurde. Die Geschwindigkeit war enorm. Station 5 war bereits passiert worden, und der Ankömmling mache keinerlei Anstalten, ein Bremsmanöver durchzuführen, was eigentlich nur daran liegen konnte, dass das Schiff über absolut erstklassige Antriebsaggregate für den notwendigen Gegenschub verfügte.
Die Reste der Jay’nac-Flotte versuchten sich zu einer Kampfformation zu gruppieren. Aber selbst dazu war es wohl zu spät.
Die wenigen Kampfschiffe, die es noch im Orbitalbereich gab, feuerten Strahlenschüsse ab. Das blieb allerdings ohne Wirkung. Die Strahlen schienen in der Außenbeschichtung der Perle einfach zu verschwinden.
Möglicherweise wurde ein Schutzschild verwendet, über dessen genaue Merkmale man sich auf der Steuer-Acht jedoch noch nicht so recht im Klaren war.
Ohne, dass man es daran hätte hindern können, erreichte das Objekt die Umlaufbahn von Nar’gog. Es bremste stark ab, drang in die Stratosphäre ein und wurde dort von ein paar kleineren Schiffen der Jay’nac-Verteidiger angegriffen.
Das Granogk war sich unterdessen uneins darüber, wie man am besten reagieren sollte, und auch die Verbündeten der Jay’nac waren vollkommen ratlos. Sowohl den Keelon als auch den Tormeistern fiel so schnell keine neue Strategie ein, um das goldene Riesenobjekt auszuschalten. Für Felvert war es nach wie vor ein Rätsel, wie es der CHARDIN-Perle hatte gelingen können, einfach in die abgeschirmte Schutzzone einzufliegen, ohne dass sich irgendein temporaler Effekt gezeigt hätte. Der Schluss lag nahe, dass es mit dem Phänomen der zeitlichen Permanenz in Zusammenhang stand, die Scobee erwähnt hatte.
Aber mehr als eine Hypothese war das auch nicht. Von gesichertem Wissen konnte man da beim besten Willen nicht sprechen. Wir bewegen uns wie auf den schwankenden Baumscheiben, aus denen die Flöße unserer Urahnen der Sage nach gebaut waren!, dachte Felvert. Alles andere hieße, die Lage zu beschönigen.
„Das Wissen der Erinjij-Frau war sehr unvollständig“, sagte Boolvert. „Was temporale Permanenz bedeutet und wie sie sich auswirkt, beginnen wir erst jetzt zu verstehen.“
„Jedenfalls haben wir offenbar den falschen Ansatzpunkt gewählt, um diesen Eindringling ungeschehen zu machen“, meinte Felvert deprimiert. „Und ehrlich gesagt fällt es mir schwer, weiter optimistisch zu sein. So kommen wir nicht weiter, das dürfte feststehen!“
Zukunftsloser! Diese Beschimpfung, die bei den Felorern einen notorischen Pessimisten bezeichnete, konnte Felvert förmlich in den Gedanken seiner Mit-Felorer erkennen.
„Immerhin gab es keine Katastrophe“, gab Yyvert zu bedenken. „Auch das wäre ja durchaus möglich gewesen.“
„Wissen wir, was noch kommt?“, fragte Felvert. Innerlich kochte er. Waren die anderen Tormeister etwa schon bereit, allein das bisherige Ausbleiben der großen Katastrophe als Anzeichen für den Erfolg des eigenen Eingreifens zu sehen, anstatt die Ehre demjenigen zuzugestehen, der sie Felverts Meinung nach verdiente? Dem puren Zufall nämlich!
Mit dieser Einstellung kommt man nicht weit!, dachte er bitter. Er hatte lange gegen diese Geisteshaltung gekämpft. Nun musste er feststellen, dass sein Kampf wohl vergebens gewesen war.
Er stellte eine Verbindung zu Porlac her.
„Das Granogk soll seine Kriegsschiffe zurückziehen!“, forderte der Felorer entschieden. „Es hat überhaupt keinen Sinn, auch noch die letzten Einheiten zu opfern. Für das Objekt stellen sie keine Bedrohung dar, geschweige denn, dass sie in der Lage wären, seinen Weg auch nur für kurze Zeit aufzuhalten.“
„Ich weiß“, antwortete Porlac. „Aber im Granogk herrscht keine Einigkeit. Manche glauben hier, dass es die letzte Möglichkeit ist, Nar’gog doch noch vor dem Aggressor zu sichern.“
Felvert wurde wütend. War er denn wirklich nur von Unfähigen umgeben?
„Das ist Unsinn!“, sagte der oberste Tormeister mit aller Überzeugungskraft.
„Könnt ihr uns denn wenigstens Hoffnung machen?“
„Unsere Bemühungen sind grundlegend gescheitert. Es hätte keinen Sinn, dasselbe noch einmal zu versuchen. Davon abgesehen hätten wir dazu auch gar nicht mehr die Möglichkeit, weil unser Energiestatus gegenwärtig bereits bedenklich abgesunken ist und wir ja außerdem noch das Abschirmungsfeld aufrechterhalten müssen.“
„Dann schaltet es ab“, rief Porlac.
Felvert glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben.
„Ist das ein offizieller Befehl des Granogk?“, hakte er nach, denn er konnte sich kaum vorstellen, dass Porlac dies tatsächlich ernst gemeint hatte. Ein derartiger Vorschlag wäre in der Vergangenheit geradezu einem Sakrileg gleichgekommen. Konnte es sein, dass das Granogk einen Grundpfeiler seiner Sicherheitsdoktrin verriet?
„Das Granogk ist im Augenblick nicht in der Lage, irgendwelche Befehle zu geben“, erklärte Porlac mit überraschender Nüchternheit. „Aber die temporale Abschirmung des Nar’gog-Systems ist offensichtlich für den Gegner, mit dem wir es hier zu tun haben, völlig ohne Bedeutung, daher brauchen wir sie nicht mehr.“
Felvert blieb reserviert. „Die Lage ist uns bekannt.“
„Dann könnt ihr im Moment nichts tun?“, fragte Porlac voller Sorge.
Wie schlecht es wirklich steht, scheint er sich noch nicht verinnerlicht zu haben!, überlegte Felvert.
Laut sagte er: „Wir arbeiten natürlich fieberhaft an einer neuen temporalen Strategie, um den Gegner auszulöschen. Aber dazu brauchen wir Zeit, Porlac. Und die gewinnen wir am ehesten, wenn es zu keiner weiteren Konfrontation kommt!“
„Also läuft alles auf eine Kapitulation hinaus“, lautete Porlacs Schlussfolgerung. „Wir haben gegen diesen Gegner einfach keine Chance. Zumindest nicht militärisch. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist eine weitere temporale Manipulation – aber da hast du mir ja bereits wenig Hoffung gemacht.“
„Wir sollten es einen Waffenstillstand nennen. Aber es gibt ohnehin bei einer Fortsetzung des Kampfes nichts zu gewinnen. Die Herren des Riesenobjekts sind uns offenbar technisch haushoch überlegen.“
Porlac sah durchaus ein, dass Felvert Recht hatte. Aber es würde schwierig sein, das heillos zerstrittene Granogk von dieser Position zu überzeugen.
„Versucht alles, was ihr könnt und von dem ihr glaubt, dass es wenigstens den Hauch einer Erfolgschance hat“, sagte Porlac. Er war sehr niedergeschlagen. Die Situation war schlicht und ergreifend so, dass Nar’gog und seine Bewohner dem Wohlwollen jener geheimnisvollen Wesen ausgeliefert war, die die goldene Chardhin-Perle steuerten. Daran gab es nichts zu beschönigen. Und du wirst das auch akzeptieren müssen, Porlac. Ob es dir nun passt oder nicht!, dachte Felvert.
Porlac beendete die Verbindung.
Felvert fühlte sich mental entleert. So, als hätte er gleich drei- oder viermal hintereinander am Zeugungsritual des Austauschs teilgenommen, was er in seinen jüngeren Jahren durchaus getan hatte, um seine physischen Grenzen auszutesten.
Aber jetzt geht es um die geistigen Grenzen!, dachte der Tormeister. Nicht nur um meine eigenen, sondern um die unserer ganzen Art.
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D IE RIESENHAFTE GOLDENE Kugel schwebte exakt an ihre alte Position über dem Granogk, dessen aufgeregtes Geraune nun zunächst verklungen war. Keines der wenigen noch verbliebenen Jay’nac-Schiffe wagte es, sich dem goldenen Koloss in den Weg zu stellen oder gar einen Angriff zu versuchen. Die Elite der Jay’nac schwieg.
Lähmendes Entsetzen und Lethargie legten sich wie Mehltau über die gesamte Zivilisation von Nar’gog.
Das Granogk wollte nicht wahrhaben, wie die Lage wirklich war und weigerte sich, die Realitäten anzuerkennen. Konnte es denn sein, dass das einzige anorganische Volk, das es jemals geschafft hatte, eine Militärmacht von nennenswerter Stärke aufzubauen, derart wehrlos am Boden lag?
Unter dem Rest der Jay’nac-Bevölkerung sah das Meinungsbild wohl etwas anders aus.
Langsam dämmerte es dort jedem, dass die Jay’nac vor der größten Niederlage ihrer Historie standen – rechnete man die Verwüstung ihres Planeten durch die Erinjij nicht mit, die man ja aus dem Lauf der Geschichte hatte tilgen können.
Aber was diesen Gegner betraf, so war das offenbar nicht möglich.
Das alles muss mit der Permanenz der Chardhin-Perle zusammenhängen!, dachte Scobee. Offenbar besteht dadurch ein Schutz gegen die Manipulationen der Torwächter und der Keelon, den auch die Felorer nicht umgehen können ...
Siroona meldete sich telepathisch und auf gewohnt zynische Weise zu Wort. Sie erinnerte damit Scobee daran, dass bei Foronen ein Gedanke schon eine Waffe sein konnte. Wir sollten diesen Siliziumbrocken, die von sich behaupten, lebendig zu sein, kein Mitleid schenken, Scobee. Sie sind es nicht wert.
„Hast du dir auch einmal Gedanken darüber gemacht, was aus uns wird, Siroona?“, fragte Scobee laut. Ihr Tonfall war kühl und reserviert.
Siroona wandte den augenlosen Kopf ein paar Grad seitwärts.
Was aus mir wird, ist nicht so wichtig, Scobee. Ich habe keinerlei Ambitionen mehr, sondern bin nur noch eine Getriebene. Eine, die ihre angestammte Zeit durch ein paar unglückliche Umstände überlebt hat.
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D IE CHARDHIN-PERLE sank noch etwas tiefer. Bei den Jay’nac entstand deshalb Unruhe. Die ersten Anorganischen begannen bereits damit, den Bereich unmittelbar unter der Perle zu räumen. Eine chaotische Wanderbewegung setzte ein. Innerhalb des Granogk wurde heftig diskutiert. Aber es vermochte niemand einen Weg aufzuzeigen, wie man sich gegen dieses gigantische goldene Ungetüm wehren konnte.
Porlac nahm noch einmal Kontakt zu Felvert auf. Aber die Tormeister sahen zurzeit keine Möglichkeit, die Chardhin-Perle aus dem Zeitstrom zu eliminieren, ohne dabei auch die gesamte Zeitlinie auszulöschen. Das zumindest war die mathematische Konsequenz von Berechnungen, die ein junger, begabter Tormeister namens Yyvert angestellt hatte, dessen Name Porlac zum ersten Mal hörte. Offenbar ließ man ihn angesichts der Ereignisse in die erste Reihe der Tormeister aufsteigen, um das Blatt vielleicht doch noch zu wenden.
Das letzte geistige Aufgebot der Felorer also!, dachte Porlac. Wenn die Konsequenzen daraus nicht für alle Beteiligten dermaßen tragisch wären, könnte man als Jay’nac sogar noch Trost aus dem Umstand ziehen, dass nicht nur wir auf ganzer Linie gescheitert sind – sondern auch die Felorer, die intellektuell soweit über uns stehen!
Für Porlac war die Tatsache, dass man auf jemanden wie Yyvert setzte, ein zusätzliches Indiz dafür, wie verzweifelt man auf den Torstationen war. Man war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen.
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S COBEE FRAGTE SICH derweil, ob es sich tatsächlich um die Chardhin -Perle aus dem Zentrum der Milchstraße handelte – oder um ein anderes Exemplar, das von wer weiß woher stammen mochte.
Fast unbeteiligt beobachtete sie die panische Flucht der Jay’nac. In die kristalline, auf den ersten Blick wie eine Felswüste wirkende Oberfläche Nar’gogs kam gespenstisches, für die Augen eines organischen Wesens untot wirkendes Leben. Die Perle war jetzt keine hundert Meter mehr von der Oberfläche entfernt – und sank noch immer.
Weglaufen ist sinnlos!, stellte Siroona fest. Da hätten wir früher aufbrechen sollen – und ich alte Foronin bin ohnehin viel zu langsam dafür geworden. Jetzt wird uns dieses goldene Riesending also zerquetschen wie nutzlose Insekten.
„Nein“, stellte Scobee klar. „Das würde überhaupt keinen Sinn ergeben. Warum sollte die Besatzung der Perle so etwas tun?“
Kommt immer auf die Besatzung an. Es gibt Individuen, die brauchen keinen Grund, um zu töten. Umgekehrt müssen sie schon sehr überzeugende Argumente aufgeboten bekommen, wenn diese Wesen einen Feind am Leben lassen sollen. Eine Art telepathisches Kichern erreichte Scobee, das sie nicht zu interpretieren wusste.
„Ich nehme ja nicht an, dass die Besatzung aus Foronen besteht!“, versetzte Scobee sarkastisch.
Siroonas Gedankensrom versiegte. Wahrscheinlich war sie beleidigt.
Die Chardhin-Perle sank bis auf eine Höhe von gut dreißig Metern über den höchsten Bodenerhebungen der Umgebung herab. Ein großer freier Platz war entstanden, den die Jay’nac in Panik geräumt hatten.
Aus dem Südpol der Chardhin-Perle wurde nun ein sich verlängernder Fortsatz ausgebildet. Immer kleiner werdende quadratische Elemente wurden ausgefahren, und innerhalb weniger Augenblicke entstand eine schlauchartige Verbindung zur Oberfläche.
Offenbar befand sich innen eine Art Liftsystem. Es gab offene Stellen in diesem Schlauch, an denen man eine Kabine nach unten fahren sehen konnte. Wenig später bildete sich eine Türöffnung.
Eine Gestalt trat in den Schatten, der hier unten herrschte.
Scobee verengte die Augen. Sie glaubte die Gestalt schon einmal gesehen zu haben, obwohl sie den Mann nur als Schemen wahrnahm. Aber sie verfügte auch über Infrarotsicht und konnte den Fremden daher sehr viel besser beobachten als die Jay’nac.
Als er aus dem Schatten trat, glaubte Scobee endgültig, ihrem Verstand nicht mehr trauen zu können.
„Prosper!“, murmelte sie.
Diese Überraschung war wirklich perfekt. Mit ihm hatte Scobee nun wirklich nicht gerechnet.
„Du kennst diesen Narren da vorne?“, fragte Siroona laut. „Er hat mit seinem Schiff viel Chaos angerichtet. Ich würde es verstehen, wenn die Jay’nac sich jetzt auf ihn stürzten und ihn in der Luft zerrissen!“
Prosper Mérimée schritt Scobee entgegen.
Du wirst eine Menge zu erklären haben!, dachte sie und hob den Kopf, sah ihm entgegen.
Aber Prosper wich ihrem Blick aus irgendeinem Grund aus.
Was soll das denn? Kennst du mich auf einmal nicht mehr?, dachte sie. Aber gegen Siroonas gehässigen Kommentar schirmte sie sich vollkommen ab. Das musste sie sich nun wirklich nicht auch noch antun!
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Z EITEBENE RUBIKON...
Gespannt hörte John Cloud der Aufzeichnung zu, die Kargor ihm und der restlichen RUBIKON-Crew hinterlassen hatte.
„WENN IHR ANNEHMT, DASS AUSSCHLIEßLICH PROSPER MÉRIMÉES ANWESENHEIT FÜR EURE FEHLTRANSITION VERANTWORTLICH WAR, DANN IRRT IHR GEWALTIG“, verkündete der ERBAUER und fuhr fort: „IN WAHRHEIT IST ES SO, DASS JEDER, DER ÜBER LÄNGERE ZEIT IN JENEM GETTO DER ERDE LEBTE, EINE ZEITANOMALIE IN SICH TRÄGT. MIR IST BEWUSST, DASS ES SEHR SCHWER IST, EUCH DAS VERSTÄNDLICH ZU MACHEN. STELLT ES EUCH SO ÄHNLICH WIE EINE GENETISCHE VERÄNDERUNG VOR. JEDENFALLS GEFÄHRDEN ALLE GENANNTEN DAS SCHIFF BEI WEITEREN TRANSITIONEN. ICH SAH MICH DAHER VERANLASST, DIESE GEFAHRENQUELLE ZU BESEITIGEN ...“
Er hat sie einfach alle verschwinden lassen!, durchfuhr es Cloud wütend. Prosper und seine Zirkusleute, Sarah Cuthbert ... Jeden, der sich seiner Meinung nach zu lange im Getto aufhielt! Es hätte demnach auch Aylea treffen können – oder mich ...
Der ERBAUER sprach weiter, während Cloud noch immer über die Kaltschnäuzigkeit schockiert war, mit der Kargor vorgegangen war.
„DER REIBUNGSLOSE ABLAUF DES TRANSITIONSVORGANGS IST FÜR DIE RUBIKON VON EXISTENZIELLER BEDEUTUNG. DAS WIRST AUCH DU, JOHN CLOUD, WOHL NICHT BESTREITEN WOLLEN, OBWOHL ICH SCHON AHNE, DASS DIR MEIN VORGEHEN RÜCKSICHTSLOS ERSCHEINEN MAG. ABER ICH BIN DER AUFFASSUNG, DASS DAS RICHTIGE GETAN WERDEN MUSS. WIE AUCH IMMER, ES WAR ZUM BESTEN FÜR ALLE ANDEREN AN BORD. DAS WERDET IHR NOCH ERKENNEN.“
Die Nachricht war zu Ende.
„Die Selbstherrlichkeit, mit der die Prismengestalt vorzugehen pflegt, ist schwer erträglich!“, stellte Cloud fest. Er hatte unwillkürlich die Hände zu Fäusten geballt.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Jiim.
„Das Schlimme ist: Wir können im Grunde genommen gar nichts tun“, erklärte Jarvis. „Jedenfalls nicht, solange wir keinen Anhaltspunkt besitzen, wo die Verschwundenen geblieben sind.“ Sein Tonfall wirkte niedergeschlagen.
„Ich würde Kargor durchaus zutrauen, sie einfach ausgelöscht zu haben“, sagte Cloud.
„Jedenfalls wäre es unsere Entscheidung gewesen, ob wir die Gefahren durch die ehemaligen Gettobewohner in Kauf nehmen oder sie von Bord schicken wollen“, stellte Jarvis klar.
„Diese Entscheidung hat uns Kargor jedenfalls abgenommen“, schloss Cloud. Er wandte sich an Sesha. „Ich möchte eine Aufstellung aller derzeit an Bord befindlichen Personen mit genauer Lokalisierung anhand der Biozeichen.“ Er dachte dabei vorrangig an Aylea, deren geringes Alter besondere Schutzreflexe in ihm auslöste.
„In Ordnung“, bestätigte die Schiffs-KI der RUBIKON.
Offensichtlich funktionierte Sesha wieder einwandfrei. Die vorübergehende Störung hatte wohl mit der sich selbst aktivierenden Nachricht von Kargor in Zusammenhang gestanden.
„Glaubst du etwa, Kargor blufft nur?“, ereiferte sich Jarvis.
Cloud schüttelte den Kopf. „Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Aber ich möchte andererseits gerne sicher gehen.“
Cloud machte ein paar Schritte und ließ sich in einem Holosegment anzeigen, wie die gegenwärtige Position der RUBIKON war.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und dachte einige Augenblicke lang nach.
„Ich schlage vor, dass wir unseren Kurs einfach beibehalten. Alles andere macht keinen Sinn.“
„Dann geben wir die Verschwundenen also auf?“, fragte Cy.
Cloud schüttelte den Kopf. „Davon kann doch gar keine Rede sein!“, erwiderte er – deutlich heftiger, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
Schuldgefühle?, fragte er sich plötzlich und versuchte, den Gedanken daran sofort wieder zu verscheuchen. Jetzt war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für ausgedehnte Grüblereien. Aber ein Gewissen sollte man sich trotzdem leisten. Du lässt schließlich ein paar Besatzungsmitglieder der RUBIKON im Stich, die dir, als dem Commander, vertraut haben!
Cloud schloss für kurze Zeit die Augen.
Andererseits kann es gut sein, dass Kargor mit seiner Behauptung Recht hat und ehemalige Getto-Bewohner tatsächlich eine Zeitanomalie in sich tragen.
Es hieß jetzt, einen kühlen Kopf zu bewahren und genau das zu tun, was notwendig war.
Er öffnete die Augen wieder und schaute in die Runde. Bevor er etwas sagen konnte, begann Cy zu sprechen.
„Ich würde das so ausdrücken: Mit Sahbu habe ich mich zum Beispiel sehr gerne unterhalten. Ob wir Freunde waren – sind! – weiß ich nicht, weil ich nicht hundertprozentig sicher bin, was eure Art darunter für gewöhnlich versteht. Bei den Aorii habe ich das mühsam erlernen müssen, und das hat auch seine Zeit gedauert ...“ Der strauchförmige Aurige war im Augenblick ungewöhnlich gesprächig. „Die Zirkusleute wurden mitunter als Freaks abgestempelt“, fuhr er fort. „Das bedeutet, keiner von ihnen entsprach der Norm. Sie wiesen alle körperliche oder geistige Besonderheiten auf – gemessen an einem Normal-Menschen natürlich. Vielleicht habe ich mich ihnen deshalb immer sehr nahe gefühlt, denn meine Situation weist einige Parallelen dazu auf.“
„Das kann ich sogar nachvollziehen“, erwiderte Cloud.
Cy rückte etwas näher auf den Commander der RUBIKON zu und blieb etwa einen Meter vor ihm stehen. „Wollen wir es wirklich einfach so hinnehmen, dass Kargor ein paar Mitglieder unserer Besatzung verschwinden lässt, weil er sie für gefährlich hält?“
Eine gute Frage. Aber haben wir denn eine Wahl?, fragte sich Cloud.
Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Einer musste die Entscheidung verkünden, zu der es im Grunde keine vernünftige Alternative gab. Und das war Sache des Commanders.
„Uns bleibt keine andere Möglichkeit“, entschied Cloud. „Wir haben keinen Ansatzpunkt, um nach ihnen zu suchen. Sie könnten sonst wo sein.“
„Und im Übrigen könnte es sein, dass wir Kargor noch einmal wiedersehen“, vermutete Algorian.
Cys Geäst raschelte ein wenig. Er war offensichtlich etwas irritiert über die Worte seines Aorii-Freundes Algorian. Etwas umständlich drehte er den strauchartigen Körper. Die Sprechmembrane bewegte sich und produzierte zuerst nichts weiter, als einen schnarrenden Laut, ehe sie endlich Worte hervorbrachte. „Wie kommst du darauf?“, verlangte Cy zu wissen.
Auch die Blicke der anderen waren jetzt auf Algorian gerichtet.
„Es ist nur eine Vermutung“, gestand er. „Aber eines ist mir aufgefallen: Kargor hatte ein verdächtig großes Interesse daran, dass die zukünftigen Transitionen der RUBIKON reibungslos ablaufen. Ich habe mir die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, weshalb ihm dieser Punkt so wichtig ist.“
„Algorian hat Recht“, mischte sich Jarvis in das Gespräch ein. „Reine Fürsorge kann das nicht gewesen sein. Vielleicht kehrt dieses Geschöpf tatsächlich noch einmal zurück, weil es irgendetwas mit der RUBIKON plant.“ Jarvis zuckte mit seinen Schultern. „Na ja, das ist nur ein Gedanke ... Aber irgendein Interesse muss es an unserem Schiff haben.“
„Es könnte auch sein, dass Kargor die RUBIKON selbst über kurz oder lang als temporalen Störfaktor sieht, wenn sich weiterhin Personen hier aufhalten, die eine Anomalie in sich tragen“, vermutete Cloud. „Nun, wir werden sehen ...“