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6 | Prosper, der Mächtige

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Prosper, der Mächtige


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„ PROSPER!“, BEGRÜßTE Scobee den Mann, der aus der Chardhin-Perle gestiegen war.

Aber Prosper Mérimée wich zunächst ihrem Blick aus, sah sie schließlich nur kurz an und ging an ihr vorbei, so als hätte er sie nicht bemerkt.

Scobee war irritiert.

Was wird das jetzt?, fragte sie sich.

Ah, da scheint sich ja eine interessante Wendung anzubahnen!, meldete sich Siroonas telepathischer Kommentar. Vielleicht bekomme ich auf meine alten Tage ja noch ein richtiges Drama geboten ...

Unterdessen blieb Prosper Mérimée stehen, ließ den Blick schweifen und wartete einige Augenblicke ab, bis er sicher war, dass man ihm zuhörte.

„Wo ist der Sprecher des Rates?“, rief er, und das Geraune des Granogk begann wieder, nachdem dort für eine ganze Weile geschwiegen worden war.

„Ich bin hier!“, meldete sich Porlac zu Wort. Der Sprecher des Granogk kam Prosper ein Stück entgegen.

Scobee fiel auf, dass der Chef der Zirkustruppe aus dem Getto sehr angespannt wirkte. Seine gesamte Körperhaltung verriet dies und stand in einem zumindest für menschliche Augen deutlich erkennbaren Widerspruch zu dem zur Schau gestellten, auftrumpfenden Selbstbewusstsein.

Eigentlich kein Wunder, dass er sich in seiner Haut unter all den Jay’nac nicht wohl fühlt!, dachte Scobee. Kommt hierher, markiert den großen Zampano, vernichtet mal eben fast die gesamte Raumflotte der Jay’nac und wagt es dann, ohne Begleitschutz mitten unter seine Feinde zu gehen!

Siroona hatte diesen Gedanken offenbar mitbekommen, denn sie äußerte sich telepathisch dazu. Er hat die Jay’nac besiegt, Scobee! Er ganz allein. Warum sollte er auch nur einen von ihnen fürchten?

Scobees eisige Erwiderung ließ nicht auf sich warten. Behalte deine Gedanken für dich, Foronin!

Siroona und Scobee verfolgten, was zwischen Prosper und Porlac geschah.

Siroona glaubte, dass Prosper gekommen war, um die Kapitulation entgegenzunehmen. Alles andere war ihrer Meinung nach nicht logisch.

Scobee hingegen beschäftigte eine ganz andere Frage: Wie war Prosper an Bord der Chardhin-Perle gelangt?

Scobee hatte ihn zuletzt auf der RUBIKON gesehen, kurz bevor die ehemalige Foronenarche durch die Portalschleuse ging, während Scobee sich zusammen mit dem Gloriden Ovayran von Andromeda aus auf die Reise durch den Leerraum in Richtung Milchstraße gemacht hatte.

Wie hatte er es nur geschafft, an Bord einer Chardhin-Perle zu gelangen und diese dann offenbar auch noch unter seine Herrschaft zu zwingen?

Denn genauso trat er hier auf – als wäre er der Herr der Perle. Wenn das stimmt, stellt er selbst John als ‚Raumschiff-Kaperer’ weit in den Schatten!, dachte Scobee ironisch.

Prosper stemmte gebieterisch die Arme in die Hüften und wandte sich an Porlac. Der Anorganische war vermutlich gar nicht in der Lage, diese Geste der Herrschaft als solche zu erkennen.

„Es braucht niemand auf Nar’gog vor mir oder dem goldenen Schiff Angst zu haben“, erklärte Prosper. „Uns liegt nichts daran, eure Kultur oder euren Planeten zu zerstören. Ganz im Gegenteil.“

Prospers Worte mussten auf das Granogk angesichts dessen, was geschehen war, wie blanker Hohn wirken.

„Und was wollt ihr dann hier? Warum wurde unsere Flotte zerstört?“, fragte Porlac. Es kostete ihn einige Mühe, sich zu beherrschen. Selbst für einen Nicht-Jay’nac war das leicht zu erfassen.

Aber Porlac war sich der Tatsache bewusst, dass er und das Granogk im Moment in der ungünstigeren Position waren. Darum musste er sich jeden Schritt gut überlegen und die Folgen bedenken.

„Eure Flotte wurde nicht zerstört“, widersprach Prosper entschieden und erntete dafür ein allgemeines ungläubiges Erstaunen auf Seiten der Granogk.

Hier und da gab es Jay’nac, die sich bissiger Kommentare einfach nicht enthalten konnten.

„Lügner!“

„Nein, es ist die Wahrheit!“, rief Prosper Mérimée so eindringlich, dass er sich schon in der nächsten Sekunde wieder der Aufmerksamkeit aller sicher sein konnte. Aber bevor er noch etwas erläutern konnte, ergriff Porlac die Initiative. Genau das erwartete man auch von ihm. Schließlich war er der Sprecher des Granogk.

„Willst du etwa behaupten, dass das Granogk und alle Jay’nac auf dieser Seite des Planeten einer Halluzination erlegen sind?“, empörte sich Porlac.

Prosper hob beschwichtigend seine Hände – eine Geste, die den Jay’nac möglicherweise durch ihren Kontakt zur Erde und den dortigen Mastern bekannt war.

„Eure Flotte ist in eine andere Zeitebene versetzt worden – das ist alles!“, rief er mit beschwörendem Unterton. „Es wurde niemand getötet. Nicht die Existenz eines einzigen Jay’nac ging verloren. Im Übrigen war die Perle gezwungen, sich zu verteidigen. Schließlich waren es eure Kriegsschiffe, die massiv das Feuer eröffneten!“

„Weil die Chardhin-Perle hier unbefugt eingedrungen ist und wir eurem entscheidenden Schlag zuvorkommen mussten!“, verteidigte sich Porlac. „Jeder hätte so gehandelt, und es kann niemanden an Bord eures Schiffes wirklich gewundert haben, wie wir reagierten! Davon abgesehen, feuerten unsere Schiffe zunächst Warnsalven ab. Wir hätten euer Schiff nicht weiter behelligt, wenn ihr bereit gewesen wärt, den Angriff gegen uns einzustellen.“

Prosper blieb ruhig. Auch die brodelnde Kulisse des Granogk schien ihn nicht zu beeindrucken.

„Wie gesagt, es ist niemand getötet worden“, stellte er nochmals klar. „Und dafür, dass sich eure Flotte nun in einer anderen Zeitebene befindet, kann niemand von uns zur Rechenschaft gezogen werden! Es war unter den gegebenen Umständen die humanste Lösung.“

Eine Pause trat ein. Das Geraune des Granogk war nun plötzlich sehr verhalten. Man wartete offenbar erst einmal ab, was die Gespräche zwischen Porlac und dem Fremden, der aussah wie ein Erinjij, erbringen würden.

Die Fluchtbewegungen unterhalb der Chardhin-Perle waren inzwischen zum Stillstand gekommen. Nachdem offenbar ein Besatzungsmitglied dieses riesigen Objekts selbst seinen Fuß auf die Oberfläche des Planeten gesetzt hatte, wurde die Gefahr, dass die Perle auf der planetaren Kruste Nar’gogs aufschlug als nicht mehr so groß angesehen.

Schließlich wäre Prosper Mérimée wohl kaum ausgestiegen, wenn dort irgendeine Gefahr gelauert hätte.

Prosper vollführte eine etwas großspurig wirkende Geste und drehte sich dabei halb um. Für einen Augenblick begegnete Scobee seinem Blick. Aber erneut wich er ihr sogleich aus. Scobees Instinkt sagte ihr, dass irgendetwas an dieser Situation nicht stimmte. Sie war nicht in der Lage, die Ursache ihres Unbehagens näher zu bestimmen – aber andererseits sagte ihr das untrügliche Bauchgefühl, dass da ein paar Dinge nicht zusammenpassten. Das gewaltige Perlen-Raumschiff, die geweiteten Augen Prosper Mérimées, der seltsame Auftritt, den der Mann hier hinlegte ...

Etwas überinszeniert!, dachte Scobee.

Aber vielleicht gerade passend für eine Zirkustruppe aus dem Pekinger Getto!, wandte dagegen eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf ein.

Prosper fuhr inzwischen mit großspuriger Geste fort: „Wie gesagt, wir sind in Frieden gekommen – obwohl eure Verbündeten versucht haben, uns mit den hinterhältigsten aller Waffen anzugreifen.“

Prosper machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten.

Hier und da schlug ihm verhaltener Spott entgegen. „So?“, gab sich Porlac reserviert.

„Ich spreche von der Zeit“, erklärte Prosper und nun bekam seine Stimme einen deutlich kühleren, fast an klirrendes Eis erinnernden Tonfall. „Die Zeit, die größte Mörderin des bekannten Universums, wäre von euren Bundesgenossen beinahe als Vernichtungswaffe gegen die Besatzung der CHARDHIN-Perle eingesetzt worden. Das ist besonders niederträchtig.“

„Wir waren verzweifelt“, erwiderte Porlac. „Und in einem verzweifelten Abwehrkampf, in dem es um die nackte Existenz geht, ist jedes Mittel erlaubt.“

„Denkst du das wirklich? Woher willst du wissen, ob wir nicht ebenfalls einen Abwehrkampf geführt haben?“, empörte sich Prosper.

„Unsere Unterhaltung ist fruchtlos“, erwiderte Porlac. Der Anorganische schien die Argumente seines Gegenübers nicht für wert zu befinden, näher darauf einzugehen.

Warum auch?

Die Entscheidung war gefallen.

Die Herren der Perle hatten sich als so überlegen herausgestellt, dass es von vorneherein wohl keine Abwehrchance für die Jay’nac und ihre Verbündeten gegeben hatte.

Nun musste man sich auf Nar’gog unterwerfen. So schwer das auch fallen mochte. Aber die Umstände ließen nichts anderes mehr zu.

Ich muss meinen Stolz vergessen!, überlegte Porlac. Für die Jay’nac geht es jetzt darum, an die Zukunft zu denken und so viel wie möglich ihres alten Reiches zu retten. Vermutlich musste man sich auf eine längere Phase des Vasallentums einstellen, bevor man tatsächlich wieder an Selbständigkeit denken konnte.

Aber das hing ganz von den Plänen des Eroberers ab.

„Welch Bedingungen stellst du uns?“, fragte Porlac also geradeheraus. Denn das war seiner Einschätzung nach der einzige Grund, weswegen sich Prosper aus dem Innern der Perle gewagt hatte.

„Es gibt nur eine einzige Bedingung. Wird sie erfüllt, habt ihr nicht mehr mit unserer Feindschaft zu rechnen, und wir werden uns einfach zurückziehen. Der heutige Tag wird für eure aufgezeichnete Geschichte nichts weiter als eine Episode bleiben!“

„Wie lautet die Bedingung?“, hakte Porlac nach.

In diesem Augenblick herrschte Totenstille. Selbst das Granogk war ruhig. Überall spürte man gespannte Aufmerksamkeit.

Prosper schien diesen Auftritt regelrecht zu genießen. Er dehnte die Pause absichtlich etwas aus, um die Wirkung zu erhöhen. Der Chef der Zirkustruppe wusste genau, wie man das machen musste, ohne zu langweilen oder vor den Kopf zu stoßen.

Prosper streckte den Arm aus und zeigte auf Scobee.

„Ich will diese Gefangene von euch. Liefert sie mir aus.“

„Die Menschenfrau?“, vergewisserte sich Porlac.

„Genau.“

Porlac war völlig perplex. Mit vielem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass ein übermächtiger Feind seine Flotte besiegte und anschließend nur eine Erinjij ausgeliefert haben wollte.

Ein Organischer!, dachte Porlac. Wer versteht schon deren verquere Logik!

„Was willst du von ihr?“, wandte sich der Sprecher des Granogk an Prosper Mérimée.

„Das braucht deine Sorge nicht zu sein, Porlac. Ich möchte einfach, dass diese Gefangene in meine Obhut übergeben wird. Das ist alles.“

„Und was ist mit der Foronin?“

„An ihr bin ich nicht interessiert. Nur an der Erinjij-Frau.“

Porlac zögerte. Irgend etwas stimmt doch hier nicht!, überlegte er. Hatte Scobee irgendetwas an sich, das sie so wertvoll machte, um ihretwegen einen Krieg zu beginnen? Für Porlac war das alles schwer nachvollziehbar, und die schroffe Argumentation des Erinjij namens Prosper Mérimée machte es ihm auch nicht gerade leichter, deren Motive zu verstehen.

Und genau darum bemühte er sich. Solange ihm das jedoch nicht gelang würde auch das Misstrauen bleiben. Der Sprecher des Granogk fragte sich, was für ein Spiel sein Gegenüber da eingefädelt hatte.

„Warum ist die Erinjij in unserer Gewalt so wichtig für dich?“, wollte er wissen.

Aber Prosper schien nicht bereit zu sein, über diesen Punkt zu reden. Er vollführte eine abwehrende Handbewegung, blickte kurz zu Scobee hinüber und schüttelte anschließend den Kopf.

„Ich werde keine Verzögerung dulden“, erklärte er entschieden und mit einem harten Unterton. „Meine Zusage, dass keine feindseligen Aktionen gegen die Jay’nac durchgeführt werden, gilt nur für den Fall, dass ich die Gefangene ohne größere Umstände übergeben bekomme und sie an Bord meines Fahrzeugs bringen kann. Andernfalls...“

„Was ist andernfalls?“, verlangte Porlac zu wissen.

Prosper hob die Augenbrauen. „Die Perle ist in der Lage, Zerstörungen ungeahnten Ausmaßes zu verursachen. Sie kann ganz Nar’gog vernichten, aber auch nur einen einzelnen Sektor der Oberfläche, wenn dies sinnvoller erscheinen sollte. Doch das liegt bei dir, Porlac. Bei dir und deinen Artgenossen.“ Prosper lachte heiser. „Ob allerdings das Granogk tatsächlich die Elite der Jay’nac-Kultur darstellt und dessen Sprecher tatsächlich für alle Jay’nac spricht, wage ich zu bezweifeln.“

„Ach, ja?“

„Ja, denn es ist im Interesse jedes einzelnen Jay’nac auf Nar’gog, dass man auf meine Bedingungen eingeht – weil nämlich sonst Tod und Zerstörung dieses System heimsuchen werden. Wobei die Perle selbst vollkommen unverwundbar bleibt! Zumindest für die primitiven Waffen, mit denen ihr uns bisher versucht habt zu eliminieren.“ Prosper zuckte mit den Schultern. „Das mit den Zeitmanipulationen war ja eine ganz nette Variante, aber nichts, was eine Perle in Gefahr bringen könnte.“

Porlacs Erwiderung klang eisig. „Es freut mich, dass du dir da so sicher bist!“, versetzte er. Er bewegte sich etwas auf den Menschen zu. Im Granogk war ein Gemisch von Stimmen zu hören, die sich alle auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen: unterdrückte Wut. Aber sie blieben vorsichtig. Schließlich waren die Jay’nac momentan in einer fast aussichtlosen Lage, falls den Felorern nicht doch noch eine Wunderwaffe einfiel.

Prosper Mérimée ging darauf jedoch nicht weiter ein. Stattdessen fragte er: „Wie lautet jetzt die Antwort? Bekomme ich, was ich will oder müsst ihr erst mühsam auf den Weg des Gehorsams gezwungen werden?“

Einige Momente herrschte Schweigen. Schweigen und tiefe Ratlosigkeit.

Es gab weder Waffen noch andere Tricks, die den Jay’nac in dieser Situation weiterzuhelfen vermochten. Die Verteidiger des Nar’gog-Systems standen mit leeren Händen da. Von daher war es vermutlich das Vernünftigste, die Bedingung zu erfüllen, die Prosper gestellt hatte.

Scobee dachte in der Zwischenzeit vor allem über Prosper und seine Beweggründe nach. Warum tut er das?, ging es ihr durch den Kopf. Wieso bin ich für Prosper so wichtig?

Es musste einen Grund dafür geben, dass man ihretwegen dieses ganze Theater inszenierte. Und zwar einen, der nichts damit zu tun hatte, dass sie zeitweilig an Bord ein und desselben Raumschiffs gelebt und sich dabei natürlich zwangsläufig auch kennen gelernt hatten.

Zumindest in Ansätzen.

„Ich werte das Schweigen des Granogk als Zustimmung“, sagte Prosper laut. Er wandte sich in Scobees Richtung und ging auf sie zu.

„Halt!“, schritt Porlac ein.

Auf ein Signal des Granogk-Sprechers erschienen von allen Seiten Jay’nac, um Scobee abzuschirmen. Inwieweit Waffen in ihre Körper bereits integriert waren, war äußerlich nicht zu erkennen. Aber Prosper schien auch wenig Neigung zu verspüren, dies wirklich auszutesten.

Er wandte sich an Porlac. „Schade. Du machst ein schlechtes Geschäft, Porlac. Und ich habe gedacht, dass man mit dir handeln kann ...“

„Das war möglicherweise ein Irrtum“, erwiderte Porlac. „Wer sagt uns, dass wir es hier nicht mit einem gewaltigen Bluff zu tun haben? Dass euer Raumschiff sich gegen die Zeit-Attacken unserer Verbündeten als resistent erwiesen und die Flotte unschädlich gemacht hat, ist eine Sache. Aber ich bezweifele doch, dass du in der Lage wärst, ganz Nar’gog zu vernichten ...“

„Nicht nur Nar’gog, sondern auch seine Sonne und all seine Planeten, wenn es sein muss!“, widersprach Prosper mit einer überraschenden Gelassenheit. „Aber ich sehe schon, ihr Jay’nac werdet wohl oder übel eine Demonstration benötigen, um wirklich zu begreifen, welcher Macht ihr gegenübersteht!“

An seinem Handgelenk trug Prosper einen Kommunikator. Scobee fiel auf, dass dieses Gerät keinem der Apparate entsprach, die sie von der RUBIKON her kannte. ERBAUER-Technik?, fragte sie sich. Jedenfalls nichts, was Prosper aus dem Getto oder von der RUBIKON mitgebracht hatte. Das stand für Scobee auf den ersten Blick fest.

Prosper Mérimée nahm an seinem Kommunikator eine Schaltung vor. Anschließend blickte er hinauf zu dem gewaltigen Kugelkörper der Perle.

Daraufhin drang ein Glutball durch die Panzerung. Sie verharrte wie eine Miniatursonne neben der Außenhülle. Offenbar wurde sie von Bord der Perle aus kontrolliert.

„Was hast du vor?“, fragte Porlac. Er war offensichtlich zutiefst beunruhigt. Aber es gab nichts, was der Jay’nac hätten unternehmen können.

Porlacs geheime Hoffnung gründete sich auf seine Verbündeten. Vielleicht fiel den Keelon zusammen mit den Felorern ja doch noch eine Lösung ein. Eine temporale Lösung, die es ermöglichen würde, die Chardhin-Perle nachhaltig aus der Zeitlinie zu eliminieren.

Aber realistischerweise war damit auf die Schnelle nicht zu rechnen. Vielleicht war es auch überhaupt nicht möglich, wenn sich jener Faktor, den Scobee als Permanenz bezeichnet hatte, als unüberwindbar entpuppte.

Prosper Mérimées Gesicht wirkte starr, fast maskenhaft.

„Die Ortung der Torstationen wird dir und dem Granogk in Kürze berichten, was geschieht“, versprach er.

Eine Drohung.

Die Feuerkugel setzte sich plötzlich in Bewegung, schoss hinauf in die Stratosphäre, wurde zu einem winzigen Lichtpunkt am Himmel und entschwand gänzlich.

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Y YVERT PASSTE DIE KONSOLE in der Höhe seiner vergleichsweise kleinen Körpergröße an. Er aktivierte mehrere Holodisplays in Würfel- und Säulenform. Kolonnen von Formeln und Zeichen erschienen dort, dazu mehrdimensionale Holomodelle, die es erleichterten, Berechnungen in höherdimensionaler Mathematik durchzuführen. Yyvert liebte solche Berechnungen. Die Harmonie einer perfekten mathematischen Lösung war für ihn der höchste Ausdruck der Kultur. Er konnte sich daran jedes Mal aufs Neue berauschen.

Die Zeit, die Richtungen des Raumes und verborgenen Dimensionen ... das alles musste in einen überaus komplexen Zusammenhang gebracht werden, der sich auf mathematischer Ebene exakt beschreiben ließ. Selbst die Vorstellungskraft von Felorern oder Keelon stieß hier manchmal an ihre Grenzen. Mit etwas Glück konnte ein wacher Geist aber mitunter diese Grenzen um ein kleines Stück erweitern.

Yyvert zählte sich selbst durchaus zum illustren Kreis derer, die dazu die Fähigkeiten mitbrachten. Aber er hatte kein Zutrauen zur felorischen Gesellschaft. Die Mehrheit der Felorer auf den Torstationen lehnte Innovationen im Grunde ihres Herzens ab, auch wenn sie das niemals öffentlich geäußert hätten. Faktisch taten sie aber alles, um lieb gewonnene Pfade nicht verlassen zu müssen.

Yyvert fand das bedauerlich. Aber er hatte es sich längst abgewöhnt, darüber zu verzweifeln. Stattdessen war ihm mehr und mehr bewusst geworden, dass man einen langen Atem brauchte, um erfolgreich zu sein.

Yyverts Vorstellungskraft ging dabei um einiges über die Fähigkeiten der anderen Felorer hinaus. Ob es daran lag, dass es bei seiner Zeugung nur drei Spender von Mentalenergie und Achter-Elementen gegeben hatte? Das jedenfalls unterschied ihn von allen anderen Felorern, mit denen er die Lebenszeit teilte.

Yyvert hatte sich allerdings auch in den Archiven der Felorer kundig gemacht und festgestellt, dass kein anderer Fall in der langen Geschichte seines Volkes bekannt war, der seinem eigenen glich.

Felorer betrieben keine Medizin im eigentlichen Sinn. Wenn ein felorischer Körper nicht mehr funktionierte, wurden seine Achterelemente in einer Reihe von Austauschritualen verwendet. Dasselbe geschah mit der Mentalenergie. Große Anstrengungen in die Reparatur eines physiologisch defekten Körpers zu stecken, erschien keinem Felorer sinnvoll. Das unterschied sie von vielen anderen Spezies. Insbesondere waren da eher konventionelle organische Arten zu nennen, bei denen meistens die individuelle Integrität eine besondere Rolle spielte.

Einem Felorer fiel es normalerweise nicht schwer, innerlich der Auflösung der eigenen Persönlichkeit zuzustimmen.

Yyvert hatte gehört, dass beispielsweise Erinjij genau diesen Vorgang als Tod bezeichneten. Ein Weiterleben ohne den Erhalt der eigenen Persönlichkeit hatte für sie keinen Sinn, weswegen es für sie auch kein Trost war, wenn über den Nahrungskreislauf letztlich die Materie, aus denen sich zersetzende Leichen bestanden, über die Aufnahme in Pflanzen und Tiere wieder von anderen Artgenossen aufgenommen wurden.

Nach felorischer Auffassung war eine Persönlichkeit jedoch ohnehin nur ein Konstrukt auf Zeit. Eine überzogene Betonung des Egos war demzufolge nur ein Quell von Leid. Auch das war ein Grund dafür, dass beim Ritual des Austauschs mindestens zwölf Felorer teilzunehmen hatten, um zu verhindern, dass die neu entstehende Persönlichkeit zu einseitig durch die Bewusstseinsanteile einiger weniger Spender geprägt wurde. Das wurde allgemein als schädlich angesehen, obwohl die Nebenwirkungen in Wahrheit wenig erforscht waren. Man befürchtete, dass es zu übergroßer Egozentrik führte, wodurch die spätere Selbstauflösung zu einer unnötigen Seelenqual werden musste.

Genau das könnte bei mir eines Tages der Fall sein, überlegte Yyvert während er ein paar höherdimensionale Routineberechnungen überprüfte.

Die Tatsache, dass es so gut wie keine felorische Medizin gab, hatte zur Folge, dass dieser Aspekt nie wirklich erforscht worden war. Die felorische Wissenschaft hatte sich über ungezählte Generationen so gut wie ausschließlich mit dem Raum, der Zeit und den aufgerollten Dimensionen befasst. Allein eine Beschäftigung mit diesen Forschungsgebieten brachte Prestige und ermögliche den Aufstieg zum Tormeister. So kam es, dass die Felorer fast alles über das Universum und verhältnismäßig wenig über die eigene Spezies wussten.

Genauso wenig kannte man die Ursache von Yyverts besonderer Begabung. Sie war ein Rätsel.

Bestaunt wie ein mystisches Wunder oder mit Skepsis betrachtet aufgrund der außergewöhnlichen Zeugung durch nur drei Individuen.

Auch in diesem Punkt war man mehr oder weniger auf Mutmaßungen angewiesen. Dass es etwas mit den besonderen Umständen des Austauschrituals zu tun hatte, bei dem Yyvert gezeugt worden war, lag für die meisten, die an diese Angelegenheit einen Gedanken verschwendeten, auf der Hand. Die eigentlichen Zusammenhänge lagen jedoch im Dunkeln.

Noch war Yyvert ein Jung-Tormeister. Noch waren seine geistigen Kräfte gar nicht voll zur Entfaltung gekommen. Aber wenn das eines Tages der Fall ist, werde ich in die Untiefen der Raumzeit vordringen, die nie zuvor ein Felorer ausgelotet hat!, so hatte er sich vorgenommen.

Im Augenblick arbeitete Yyvert fieberhaft an einer Möglichkeit, die gigantische Kugel, die so unerwartet erneut das Nar’gog-System heimgesucht hatte, doch noch aus dem Lauf der Zeit herauszuschneiden. Und das trotz der Tatsache, dass die Chardhin-Perle mit etwas ausgestattet war, das allem widersprach, was die Felorer über Raum, Zeit und Dimensionen wussten.

Mit Permanenz.

Den Erbauern der Perle war damit etwas gelungen, was eigentlich allen Gesetzen der Physik widersprach. Sie hatten den Kosmos selbst überlistet. Wie viel hätte Yyvert dafür gegeben, dieses Geheimnis zu ergründen! Die Wahrheit war, dass er gerade genug über die kosmischen Gesetze der Raumzeit wusste, um ermessen zu können, wie weit die Erbauer der CHARDHIN-Perle der felorische Wissenschaft voraus sein mussten.

Das war deprimierend. Der Versuch, eine Sollbruchstelle in diese sich durch die gesamte Dauer des Universums ziehende Existenzlinie zu treiben, war kläglich gescheitert. Aber möglicherweise lag der Fehler gar nicht an der Methode an sich. Vielleicht war es möglich, eine andere Zeitebene zu finden, wo man ansetzen konnte.

Die logische Konsequenz wäre es, wirklich bis zum Anfang des Universums zurückzugehen, überlegte Yyvert. Aber dazu fehlt uns bislang die Energie! Vor allem mentale Energie! Der Geist kann durch die Zeit fast nach Belieben reisen, wenn er stark und beweglich genug ist. Manchmal braucht er die Mathematik als Hilfsinstanz dabei, aber im Prinzip ist jedes Bewusstsein dazu fähig. Die Keelon machen es uns ja vor. Nur die Körper sind und bleiben ein Hindernis dabei. Zumindest für uns.

Und doch hatte Yyvert sich erlaubt, einen Eingriff ganz am Anfang des Kosmos zumindest einmal rechnerisch durchzuspielen.

Torstationsleiter Boolvert hatte ihn zunächst mit Geringschätzung bedacht, weil er sich sogenannten fruchtlosen Gedankenspielen hingab, anstatt aktiv nach einer Lösung für die anstehenden Probleme zu suchen. Aber Yyvert wusste nur zu gut, dass große Lösungen sehr häufig gerade aus derartigen, zunächst einmal fruchtlosen Gedankenspielen erwuchsen. Sie waren der Beginn jeder Kreativität, während die in ihren Ritualen erstarrte, streng hierarchisch organisierte Wissenschaft der Felorer die schöpferische Kraft des Einzelnen eher erstickte als förderte.

Zumindest empfand Yyvert das so, und da er bereits ein Außenseiter war, brauchte er nicht darum zu fürchten, von den anderen gemieden oder missachtet zu werden.

Das geschah ja ohnehin schon.

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Y YVERT GING - MIT AUSSCHLIEßLICH mathematischen Mitteln – immer weiter in der Zeit zurück.

Bis zum Big Bang. Dem großen Donnerwetter, das die Ouvertüre zur Bildung des Universums gewesen war. Soweit zu kommen, war selbst für Felorer schwierig, und es gab nur wenige, die es je geschafft hatten.

Wie mochten es die ominösen Schöpfer der CHARDHIN-Perlen nur geschafft haben, ihre goldenen Vehikel genau an dieser Stelle in der Zeit zu verankern?

Yyvert fiel ein, dass es vielleicht tatsächlich auf den exakten Zeitpunkt ankam, an dem die Erbauer in Aktion getreten waren.

Kurz vor oder kurz nach dem Big Bang?

Das schien Yyvert im Augenblick die alles entscheidende Frage zu sein, von deren Beantwortung so viele andere Faktoren abhingen.

Yyvert dachte nach.

Das karge Wissen über die CHARDHIN-Perlen verdanken wir der Erinjij-Frau, die Porlac mitgebracht hat. Aber die Frage ist, als wie zuverlässig diese Quelle betrachtet werden kann.

Yyvert reckte seinen Felorer-Körper etwas. Er spürte ein leichtes Unwohlsein. Die Ursache kannte er. Es war der Schwefelentzug.

Aber Yyvert beachtete es kaum. Zu sehr war er in seine Gedanken versunken. Wenn es den Schöpfern der CHARDHIN-Perle einst tatsächlich gelang, die Permanenz der Perlen temporal VOR dem Urknall zu fixieren, dann sind sie tatsächlich unangreifbar. Schon eine einzige Millisekunde DANACH würde es mit sich bringen, dass man zumindest mit einem entsprechenden Energieaufwand die gesamte permanente Zeitlinie aus der Raumzeit herausoperieren und ungeschehen machen müsste.

Ein Konglomerat aus Stimmen und nonverbalen Sinneseindrücken stürmte in diesem Augenblick auf Yyvert ein. Innerhalb der Steuer-Acht von Torstation 1 begannen tumultartige Zustände auszubrechen.

Alarmsignale schrillten.

Es musste etwas Furchtbares geschehen sein.

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S EHR LANGSAM NUR TAUCHTE Yyvert wieder aus den Tiefen seines Bewusstseins empor. Die Realität der Gegenwart drang wie ein Sturzbach in sein Bewusstsein und überflutete es mit unzähligen, verwirrenden Eindrücken.

Boolvert und Felvert waren voller hektischer Aktivität. Neue, großformatige Holodisplays wurden geöffnet. Eines schwebte über den Tormeistern und zeigte das Nar’gog-System in seiner ganzen Ausdehnung. Die Torstationen waren dabei wie üblich gesondert markiert. Dasselbe galt für die Zentralwelt der Jay’nac.

„Höchste Alarmstufe!“, meldete eine Kunststimme, in deren Worten noch ein paar nonverbale, nur für Felorer erfassbare Sinneseindrücke mitschwangen, die den einzelnen Tormeistern sofort ein Bild davon vermittelten, wie dieser Alarm einzuschätzen war.

Schlimmer kann es wohl nicht mehr kommen!, dachte Yyvert.

Auf der Positionsanzeige wurde ein sich schnell bewegendes Objekt angezeigt, bei dessen ortungstechnischer Erfassung sich die Stations-KI nicht so recht schlüssig wurde. Es wurde ein Energiemuster angezeigt, aber es schien keinerlei feste Materie zu geben. Und doch verhielt sich dieses Objekt andererseits genauso wie ein fester Körper.

Im Prinzip sind Energie und Materie ineinander umwandelbar!, dachte Yyvert. Aber unser Rechnersystem hat offenbar seine Probleme damit ...

Das Objekt, das am ehesten als Energiewirbel zu bezeichnen war, strebte auf den äußersten Planeten des Nar’gog-Systems zu.

Die temporale Schutzzone, die die Felorer zu überwachen hatten, reichte allerdings noch weit darüber hinaus bis zu einem wolkenartigen Feld aus Kometen und Meteoriten.

Dieses Feld war die Grenze des Nar’gog-Systems, dessen äußerster Planet diese Zone streifte. Es handelte sich um eine Eiswelt mit einer Masse, die etwa halb so groß war wie die Masse Nar’gogs. Der Planet war unbewohnt. Drei Monde umkreisten ihn in mehr oder minder irregulären Bahnen. Wie sie zustande gekommen waren, hatte nie ein Astronom geklärt. Wahrscheinlich waren die exzentrischen Umlaufbahnen Ergebnis zahlreicher Kollisionen während des Durchgangs durch diese Zone, die die Jay’nac einfach nur als das Äußere bezeichneten – im Gegensatz zu einem ähnlichen, in unmittelbarer Nähe des Zentralgestirns gelegenen Bereichs, der demgegenüber als das Innere bezeichnet wurde.

Yyvert konzentrierte sich auf das energetische Objekt, das förmlich durch das System schoss.

„Was ist das?“, fragte er.

„Vielleicht eine Waffe“, gab Boolvert Auskunft.

Yyvert nahm in paar Schaltungen an seiner Konsole vor und ließ sich insbesondere die Kommunikation der letzten Zeit in Form einer Übersicht anzeigen. Er besaß unter anderem die Fähigkeit, sich derartige Übersichten innerhalb von Sekunden dauerhaft einzuprägen.

Felvert erklärte: „Nach dem, was wir an Kommunikation von der Oberfläche mithören konnten, ist es ganz bestimmt eine Waffe!“

Die Kommunikation zwischen Porlac und Prosper Mérimée war in voller Länge auch zu den Torstationen übertragen worden. Porlac wünschte, dass die Tormeister über alles im Bilde waren. Ihnen in dieser Situation irgendwelche Befehle zu geben, wäre wohl sinnlos gewesen. Zweifellos verfügten die Herren der Perle über Mittel und Wege, um solche Nachrichten aufzufangen und zu entschlüsseln. So lag es also durchaus im Ermessen der Felorer, selbst zu entscheiden, ob und wie sie handelten.

Das Reich der Jay’nac war politisch ohnehin vollkommen handlungsunfähig. Folglich herrschte auf den Stationen die Devise zuzuschlagen, sofern man eine Möglichkeit dazu sah, den Feind in der goldenen Kugel doch noch zu besiegen.

„Ich möchte eine genaue Analyse haben!“, forderte Felvert und brachte damit sein Missfallen über die bisherigen Ergebnisse sehr viel drastischer zum Ausdruck, als dies unter Felorern eigentlich als höflich galt. Aber Felvert stand als oberster Tormeister auch unter dem mit Abstand größten Druck von allen Felorern an Bord der Torstationen. Ganz gleich, was nun geschah – später würde man darüber diskutieren, ob er seine Position verantwortungsvoll ausgefüllt hatte.

„Worum handelt es sich bei diesem wirbelartigen Objekt?“, fuhr Felvert gereizt fort. Er machte sich jetzt nicht einmal mehr die Mühe, sich einigermaßen zu beherrschen. „Außerdem möchte ich, dass eine permanente Verbindung zu Station 5 geöffnet wird. Die ist dem vermuteten Zielpunkt am nächsten.“

„Wird ausgeführt“, meldete Ronert, einer der untergeordneten Tormeister, die zurzeit auf der Steuer-Acht von Torstation 1 Dienst taten.

Yyvert verachtete ihn. Für ihn war Ronert der Prototyp des angepassten Tormeisters. Vielleicht wärst du auch so, wenn du auf normale Weise gezeugt worden wärst und keinen zurückgebliebenen Körper hättest!, meldete sich eine kritische Stimme in ihm. Also geh nicht härter mit ihm ins Gericht, als du es mit dir selbst tun würdest!

Yyvert versuchte sich wieder seiner Arbeit zu widmen, aber Felvert sprach ihn jetzt an. „Wir brauchen die dir zur Verfügung gestellten Rechnerkapazitäten.“

„Warum?“

„Weil gerade ein Angriff im Gange ist.“

„Das ist dich nichts weiter, als eine Machtdemonstration des Perlenherrn“, glaubte Yyvert. „Es lohnt sich nicht, deswegen Rechnerkapazitäten von einem Projekt abzuziehen, das noch die Chance hat, die ganze Sache zu wenden!“

„Es ist ja nicht für lange, Yyvert!“, tröstete ihn der oberste Tormeister.

Im nächsten Moment standen Yyvert nur noch die normalen Rechnerfunktionen zur Verfügung. Die großzügigen Speicherweiterungen und Sonderfunktionen für aufwändige Simulationen waren gesperrt, weil die Rechnerkapazitäten jetzt anders genutzt wurden. Zum Beispiel um den Angriff der CHARDHIN-Perle zu beobachten und auszuwerten. Etwas, das Yyvert für absolut sinnlos hielt.

„Der Angriff wird so oder so erfolgen. Wir können uns dagegen kaum wehren, ganz gleichgültig, wozu wir unsere Rechnerkapazitäten auch nutzen mögen.“

„Die Sache ist entschieden“, erklärte Felvert noch einmal. Seine Worte klangen überraschend frostig.

Widerspruch ist eben etwas, das man an Bord einer Schiffes oder einer Station eigentlich vermeiden sollte!, überlegte Yyvert. Leider konnte ich der Versuchung bisher nie widerstehen, meine Meinung laut und deutlich zu sagen.

Ronert führte ein paar Schaltungen durch. Im nächsten Moment öffnete sich ein Holofenster, durch das die permanente Verbindung zur Station 5 geschaltet wurde. Der obere Teil des wurmartigen, aus ungezählten Achter-Segmenten bestehenden Körpers von Stationsleiters Shyylvert wurde nun sichtbar. Er gab einen kurzen Statusbericht ab.

Danach hatte das energetische Objekt eine sehr weitläufige Umlaufbahn um den äußeren Eisplaneten erreicht. Die Jay’nac hatten ihm einst den Namen Dan’drag gegeben, was so viel wie Hartes, schmutziges Wasser im Überfluss bedeutete, aber auch mit Ort, den man meiden sollte übersetzt werden konnte. Bevor es die Torstationen gegeben hatte, war man auf den Gedanken gekommen, eine Garnison auf Dan’drag zu errichten. Aber dieser Plan war nie verwirklicht worden. Die Verbesserung der Ortungssysteme und die Errichtung der Torstationen hatten ihn ohnehin obsolet gemacht. So hatte es auf Dan’drag niemals auch nur einen Außenposten gegeben.

Torstation 5 war keineswegs in einer Umlaufbahn um diese Welt etabliert worden, sondern an einem der Lagrange-Punkte zwischen Dan’drag und seinem Zentralgestirn. Dort hoben sich die Gravitationskräfte von Planet und Sonne gegenseitig auf.

Während der Eisplanet seinen fast zehntausend Erdjahre andauernden Umlauf begann, wanderten diese Lagrange-Punkte natürlich mit dem Planeten um die eigene Sonne. Ein idealer Ort für eine Station also. Nirgends konnte man sie besser verankern. Allerdings sammelten sich an den Lagrange-Punkten auch mit Vorliebe Meteoriten und kleinere Asteroiden, die dann von dort nie wieder freikamen und immer ein gewisses Kollisionsrisiko mit sich brachten.

Doch gegen solche Unbilden standen den Felorern seit dem Bündnis mit den Keelon notfalls Mittel der Zeitmanipulation zur Verfügung, von denen sie im Fall der eigenen Existenzbedrohung auch ohne Rücksicht Gebrauch zu machen pflegten.

„Eine genaue Analyse des Objekts ist nach wie vor nicht möglich“, erklärte Ronert schließlich. „Es verfügt sowohl über Eigenschaften von Materie, als auch solche, die man eher der Energie oder elektromagnetischer Strahlung zuordnet.“

„Aber es dürfte feststehen, dass es künstlich gesteuert wird“, meldete dich Shyylvert von Station 5 aus. „Ich frage mich, ob es von der goldenen Kugel aus gelenkt wird. Jedenfalls wüsste ich nicht, wie sonst die entsprechenden Informationen innerhalb des Objekts gespeichert und abgerufen werden könnten.“

„Was ist deine Meinung dazu, Yyvert?“, fragte Felvert nun ausdrücklich an Yyvert gerichtet.

„Ehrlich gesagt, bin ich bis vor kurzem so sehr in die Lösung eines anderen Problems vertieft gewesen, dass es mir sehr schwer fällt, jetzt dazu ...“

„Schon gut. Aber vielleicht widmest du dich der Sache nun doch einmal“, schalt ihn Felvert.

Das Objekt wurde näher herangezoomt. Es war jetzt deutlich erkennbar, wie es sich anschließend teilte.

„Objekt hat sich gedrittelt. Alle drei Teilobjekte kreisen um ein reguläres Orbit des äußeren Eisplaneten“, meldete Shyylvert von Station 5. „Für mich sieht das wie eine Machtdemonstration aus!“

„Genau das wird es sein!“, stimmte Felvert zu. „Und so, wie die Lage im Moment ist, können wir nichts dagegen tun.“

„Das einzige lohnende Ziel am Rand des Äußeren ist Torstation 5“, gab Yyvert zu bedenken. „Die Jay’nac haben keine Kriegsschiffe mehr in dem Sektor und auch sonst keinerlei Basen.“

Eines der drei Teilobjekte schoss jetzt aus der Bahn heraus. Es setzte sich urplötzlich auf einen höherdimensionalen Impuls hin in Bewegung. Der Ortung von Station 5 gelang es nur, eine Resonanz dieses Impulses aufzuzeichnen, aber als Ursprungsort war eindeutig die tief über dem Granogk hängende Chardhin-Perle identifizierbar.

Der rasende Energiewirbel fuhr in einen der Monde hinein, einen luftlosen Felsbrocken. Für ein paar Augenblicke geschah nichts. Dann platzten die ersten Gesteinsbrocken aus der Oberfläche des Mondes heraus. Mäandernde Risse fraßen sich über die gesamte, an den Polen leicht abgeplattete Gesteinskugel. In einer gewaltigen Explosion flog der Mond dann förmlich auseinander. Milliarden von kleinsten Brocken wurden wie Geschosse auf die Reise geschickt. Dutzende von Einschlägen konnte man selbst mit Hilfe der optischen Ortungsinstrumente auf dem Eispanzer des äußeren Planeten erkennen. Da es so dort gut wie keine Atmosphäre gab – sah man einmal von einem beständigen Strom von Edelgasen ab, der die Oberfläche erreichte und sich dort in einer Konzentration verteilte, die um den Faktor Zehn unter dem mittleren Luftdruck des Mars lag – schlugen die Brocken teilweise mehrere Kilometer tief in das Eis ein. Nur vagabundierende Trümmerstücke blieben von dem Mond übrig. Diese irrlichterten nun durch das All, chaotisch in ihren Drehbewegungen. Manche wirkten, als würden sie Pirouetten vollführen. Früher oder später fing sie die Gravitation des Eisplaneten ein. Und dort, wo sie mit genug Kraft hinaus in Richtung des Äußeren geschleudert wurden, bekam dieser Gürtel von Materiebrocken, der das Nar’gog-System umgab, ein paar Objekte dazu. Nach zahllosen Karambolagen würden diese vielleicht in Jahrtausenden endlich ihre Bahn finden.

„Es war tatsächlich eine Machtdemonstration“, stellte Yyvert fest. „Aber ich glaube nicht, dass das Spektakel bereits vorbei ist.“

––––––––



P ORLAC VERFOLGTE DIE Vorgänge um den äußersten Planeten des Nar’gog-Systems auf einem Holodisplay. Dort wurden zeitgleich die Anzeigen eingespielt, die von Torstation 5 kamen.

Der zertrümmerte Mond hatte sowohl auf Porlac als auch auf das Granogk einen tiefen Eindruck gemacht. Die entsprechenden Stimmen waren unüberhörbar.

„Wir müssen nachgeben – andernfalls wird Nar’gog viel zu erleiden haben!“, sagte jemand.

Und ein anderes Mitglied des Granogk erklärte: „Sie sind einfach zu mächtig. Wir riskieren unseren endgültigen Untergang!“

„Wie gut, dass unsere Vorfahren diesen Moment nicht erleben mussten!“

Siroona und Scobee hatten all das ebenfalls mitbekommen, und Siroona konnte sich der morbiden Faszination, die von dieser barbarischen Form purer Gewalt ausging, kaum entziehen. Sie wollte es auch gar nicht. Was auch immer in der Milchstraße geschehen sein mag, seit ich auf der intergalaktischen Station festsaß ... bei den Herren der Perle muss es sich um die legitimen Nachfolger foronischer Macht handeln. Siroona ließ diesen Gedanken ohne jede Wehmut zu. Es hatte keinen Sinn, den alten Zeiten nachzutrauern. Das hatte sie inzwischen begriffen.

„Ihr habt die Demonstration unserer Macht gesehen“, stellte Prosper Mérimée klar. „Aber wir sind noch zu sehr viel mehr in der Lage.“

Porlac zögerte noch immer. Innerhalb des Granogk mehrten sich jetzt die Stimmen, die sich dafür aussprachen, die Gefangene Scobee auszuliefern.

Porlac hingegen arbeitete darauf hin, Zeit zu gewinnen. Zeit, die seine felorischen Freunde vielleicht noch brauchten, um schließlich doch ans Ziel zu gelangen.

Was geschieht, wenn wir Scobee jetzt ausliefern?, fragte sich Porlac recht nüchtern. Er hatte sie zwar gewissermaßen unter seine Fittiche genommen, aber das hieß nicht, dass er ihretwegen die Sicherheit des Nar’gog-Systems gefährdet hätte. Die Perlenbesatzung kann jederzeit zurückkehren und nahezu alles von uns verlangen, wenn wir dem nicht Einhalt gebieten!, ging es dem Sprecher des Granogk durch das aufgewühlte Bewusstsein. Die Gedanken rasten nur so. Er musste abwägen. Entscheiden, ob er sein Gegenüber – einen dahergelaufenen Erinjij, der auf mysteriöse Weise die Herrschaft über die Perle usurpiert haben musste – noch länger hinhalten wollte, oder ob die Gefahr zu groß wurde, dass man zum tödlichen Schlag gegen Nar’gog und die Jay’nac ausholte.

Aber Porlac war plötzlich davon überzeugt, dass es dazu nicht kommen würde, solange die Fremden etwas von ihm und dem Granogk wollten.

Sie konnten Nar’gog solange nicht vernichten, wie sich hier eine Erinjij befand, an der Prosper Mérimée aus unerfindlichen Gründen ein so unglaubliches Interesse hatte.

Wenn ich nur den Grund dafür wüsste!, dachte Porlac.

„Was ich bis jetzt gesehen habe, sind doch nicht mehr als ein paar billige Kunststückchen, zu denen wir auch jederzeit in der Lage gewesen wären!“, erwiderte er daher.

„Und das Schicksal eurer Flotte? Habt ihr Jay’nac das schon vergessen?“, fragte Prosper Mérimée.

„Wie könnte ich das! Aber es steht leider nicht in meiner Macht, sie zurückzuholen.“

„Wie gesagt, wir haben sie nicht vernichtet, obwohl sie uns angegriffen hat – was ein Beweis unserer Friedwertigkeit ist.“

„Jeder Räuber bekommt eine gewissen Zug von Friedfertigkeit, wenn er bekommen hat, was er will!“, lautete Porlacs kühle Erwiderung.

„Du legst es also darauf an, Sprecher des Granogk. Ist dir bewusst, dass jetzt, in diesem Augenblick, ein Laserstahl vom Himmel fahren und dich in eine Partikelwolke verwandeln könnte?“

„Wie interessant! Jetzt kommt die persönliche Drohung. Ein Verhalten, das uns durch unsere Studien der Erinjij durchaus bekannt ist. Ich hatte für ein paar Augenblicke gedacht, dass du ihnen vielleicht nur äußerlich ähnelst, in Wahrheit aber ein Wesen bist, dessen Anlagen denen der sonst bekannten Erdbewohner weit überlegen sind. Ich scheine mich jedoch getäuscht zu haben.“

Prosper Mérimée vernahm ein Summen seines Kommunikators. Er blickte auf die Anzeige. Sein Gesicht veränderte sich. Die Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen. Die Züge wurden besorgt.

Wer ist mit ihm gerade in Kontakt getreten?, fragte sich Scobee, die diese Szene sehr aufmerksam mit angesehen hatte. Und was hindert Prosper eigentlich daran, den widerspenstigen Sprecher des Granogk tatsächlich einzuäschern? Blufft er am Ende gar? Sind seine Fähigkeiten doch nicht so gewaltig, wie man im ersten Moment glauben konnte?

Prosper Mérimée wandte sich an das Granogk. „Ist das, was euer Sprecher Porlac geäußert hat, auch die einhellige Meinung des Granogk – oder gibt es unter euch doch noch Wesen, die kompromissbereit und vernünftig sind? Jay’nac, denen der Fortbestand ihres Heimatplaneten ein ernstes Anliegen ist und die nicht verstehen können, dass ihr Sprecher die Zukunft wegen einer läppischen Gefangenen aufs Spiel setzen will! Aber genau das tut Porlac! Darum wende ich mich nun direkt an euch, die ihr das Volk der Jay’nac repräsentiert! Euch, von denen man sagt, ihr wärt die Elite der Jay’nac!“

Er schwieg. Atmete tief durch. Ließ den Blick schweifen.

Es herrschte Totenstille im Granogk und darüber hinaus.

Dass es innerhalb des Rates vereinzelte Zweifel gab, ob Porlac tatsächlich noch immer den richtigen Kurs verfolgte, traf zu. Aber ein Prinzip des Granogk – vielleicht sogar sein wichtigstes – war die Geschlossenheit. Die Geschlossenheit mit dem großen Ganzen beispielsweise, aber auch untereinander. Man stand gemeinsam zu getroffenen Entscheidungen oder zu Personen, die mit einer bestimmten Aufgabe betraut worden waren.

In diesem Fall war das nun einmal Porlac.

Prosper Mérimée trat ein paar Schritte zurück. Er begann zu ahnen, dass er sich vergaloppiert hatte. Der Ansatz, einen Keil zwischen das Granogk und seinen Sprecher treiben zu wollen, war falsch, das erkannte er nun. Dadurch sorgte er nur dafür, dass die Elite der Jay’nac und ihr Sprecher noch enger zusammenrückten.

„So seht, was weiter geschieht!“, sagte Prosper und wandte sich vom Granogk ab. Er deutete auf das Holodisplay. „Die bisherige Demonstration unserer Macht scheint euch noch nicht genug beeindruckt zu haben!“

Prospers Blick fixierte Scobee.

Sie zuckte unwillkürlich zusammen und wich ein paar Schritte zurück. Ihr stand überhaupt nicht der Sinn danach, an Bord der CHARDHIN-Perle zu gehen. Wie auch immer Prosper in die Situation gekommen war, die Perle zu beherrschen, so hatte sie jedenfalls keine Lust, sich den Launen eines Mannes unterzuordnen, der sich offenbar seit ihrer gemeinsamen Zeit an Bord der RUBIKON charakterlich stark verändert hatte und Scobees Einschätzung nach vollkommen unberechenbar geworden war.

Andererseits war ihr sehr wohl bewusst, dass Porlac gewiss irgendwann nachgeben würde.

Du wirst dich gegen das Anliegen dieses Emporkömmlings wohl kaum wehren können!, lautete Siroonas Kommentar. Ich nehme an, dass sich die Situation für uns alle etwas entspannt, wenn du mit ihm gehst. Also zier dich nicht so, Klon! Du könntest einer Planetenbevölkerung das Leben retten!

Scobee wandte den Kopf in Siroonas Richtung. Ich glaube, du irrst dich, alte Frau!, antwortete Scobee mit einem konzentrieren Gedankenstrom, der nur für die Foronin bestimmt war.

So?, höhnte Siroona. Ihr augenloses Gesicht blieb vollkommen unbewegt. Eine starre Maske.

Scobee sagte laut: „Sobald Prosper mich mitnimmt, hat er, was er will und könnte Nar’gog vernichten, ohne dass er sich damit selbst schaden würde!“ Sie sprach in gedämpftem Tonfall, sodass nur Siroona ihre Worte verstehen konnte.

Zwar hätte auch ein konzentrierter Gedankenstrom genügt, aber es war leichter, seine Gedanken zu sammeln, wenn man sie mündlich artikulierte, wie Scobee immer wieder festgestellt hatte. Schließlich hatte sie selbst ja keinerlei Anlage zur Telepathin.

Ein Lachen ertönte in Scobees Kopf. Es dauerte einen Moment, ehe sie erkannte, dass es Jarvis’ Stimme war. Es handelte sich um die Erinnerung an ein Lachen, das Siroona während ihrer gemeinsamen Reise auf der RUBIKON neuronal in ihrem Hirn abgespeichert haben musste. Jetzt holte sie diese „Konserve“ wieder hervor und pflanzte sie in Scobees Denken.

„Was soll das, Siroona? Trauerst du sosehr den alten Zeiten nach, dass du mich mit aller Macht daran erinnern willst?“, fauchte Scobee sie giftig an. „Was bildest du dir eigentlich ein?“

Dieses Lachen war mein Kommentar zu dem, was du gesagt hast. Da ich selbst Menschenlachen nicht adäquat reproduzieren kann, habe ich dir etwas gesandt, das zugegebenermaßen „second hand“ war. Ich habe nicht damit gerechnet, dass dich das so aufregt. Schließlich habe ich mir sagen lassen, dass Deinesgleichen ohne Bedenken und Skrupel beispielsweise die Häute toter Tiere am Leib tragen, somit also sehr wohl bereit sind, auch etwas „Gebrauchtes“ zu verwenden.

Scobee verzog angewidert das Gesicht

„Das ist ekelhaft!“

Oh, so empfindlich?

„Ja!“

Könnte es sein, dass du dich etwas überschätzt?, fragte Siroona höhnisch.

Scobee ignorierte die Frage.

Jedenfalls werde ich es dir persönlich verübeln, wenn uns diese Kugel deinetwegen alle zerquetschen sollte, liebste Scobee, wisperte die Foronin mit falscher Freundlichkeit.

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D ER ZWEITE ENERGIEWIRBEL verließ jetzt die Umlaufbahn des äußeren Eisplaneten. Er stürzte geradezu auf die Oberfläche und fraß sich in das gefrorene Wasser hinein. Die Hitzeentwicklung war dabei enorm. Eis taute in gewaltigen Mengen. Riesige, flüssige Pfützen, die kleinen Meeren glichen, bildeten sich und erstarrten sogleich wieder zu spiegelglatten Flächen.

Der Energiewirbel fraß sich tiefer und tiefer. Seine enorme Kraft wurde durch den Eispanzer so gut wie nicht gebremst. Er erreichte schließlich den unter einem dicken Eispanzer verborgenen Ozean des Planeten. Wasser erreichte nun einmal bei Minus zwei Grad die maximale Dichte, was bedeutete, dass das unter einem Millionen Tonnen schweren Eispanzer zusammengepferchte Wasser einfach nicht gefrieren konnte.

Die durch den Energiewirbel ausgelösten Turbulenzen sorgten dafür, dass sich an der Oberfläche des Einspanzers erste Risse und Verschiebungen zeigten. Eisbeben.

Der Wirbel drang schließlich bis zum eigentlichen Gesteinskern des Planeten vor und begann ihn aufzuschmelzen. Es dauerte nicht lange, bis sich der gesamte Planet in eine Explosionshölle verwandelte. Eine rotierende Materiewolke blieb zurück, aus der vielleicht in ein paar hundert Millionen Jahren einmal wieder ein Planet werden konnte.

Optimistisch geschätzt.

Die verbliebenen Monde des Eisplaneten kamen nun auch ins Trudeln und verloren völlig ihre Bahn. Einer torkelte in die Materiewolke, deren hohe Temperaturen früher oder später auch dafür sorgen würden, dass er aufgeschmolzen und in die Sphäre des neuen Protoplaneten integriert würde. Der letzte Mond des ehemaligen äußeren Eisplaneten driftete in Richtung jener Zone ab, die von den Jay’nac das Äußere genannt wurde.

Sowohl die Felorer auf den Torstationen als auch Porlac und das Granogk konnten per Live-Transmission mitverfolgen, was mit dem Eisplaneten geschah.

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S HYYLVERT, DER LEITER von Torstation 5, nahm fassungslos die Sinneseindrücke auf, die ihm die Ortungsanzeige vermittelte.

Was sich auf Nar’gog tat, hatte er – wie auch die Felorer auf den anderen Torstationen – per Direktübertragung mitverfolgen können. So war Shyylvert auch Zeuge des anmaßenden Auftritts des Erinjij Prosper Mérimée geworden.

Instinktiv hatte Shyylvert sofort verstanden, warum sich Porlac in dieser Situation so schwer damit tat, nachzugeben und die Gefangene einfach auszuliefern.

Auf seiner Station suchten die felorischen Tormeister – ebenso wie auf allen anderen – verzweifelt nach einer Möglichkeit, diesen übermächtigen Feind doch noch zu besiegen. Deshalb blieben sie ständig untereinander in Kontakt.

Aber die Chancen standen denkbar schlecht.

„Wir können nur hoffen, dass die andere Seite die Codierung unserer Kommunikation nicht zu knacken weiß“, sagte Mirert, der auf Torstation 5 für die Kommunikation zuständig war. „Andernfalls wissen die, was wir vorhaben.“

„Das Risiko müssen wir eingehen“, erwiderte Shyylvert. „Auf sich gestellt wird keine unserer Stationen eine Lösung finden.“

„Da gibt’s doch dieses Wunderkind auf Station 1.“

„Du sprichst von Yyvert?“

„Ja.“

„Das Ergebnis eines misslungenen, fehlerhaften Austauschrituals – aber mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er uns wirklich weiterbringt.“

„Aber Felvert ist mit seiner Kreativität am Ende“, stellte Mirert kühl fest. „Ich sage das nicht gern. Er war an dem Austauschritual beteiligt, das zu meiner Zeugung führte und spendete sogar drei Achter-Elemente. Von daher gibt es eine gewisse emotionale Verbundenheit mit ihm. Aber die Wahrheit muss man wohl mit all ihren Sinnes-Emissionen aufnehmen, so schmerzhaft das auch manchmal ist.“ Er rutschte durch den Raum der Steuer-Acht zu einer der anderen Konsole und öffnete durch ein paar Schaltungen ein holographisches Display, das die Form einer Pyramide besaß. Dann kehrte er zurück zu seinem angestammten Platz.

„Ich denke, wir bekommen vorher noch ein anderes Problem“, war Shyylvert überzeugt.

Mirert wandte das obere Ende seines augen- und ohrenlosen Körpers in Shyylverts Richtung. Einen Kopf besaßen die Felorer ebenso wenig wie äußerlich sichtbare Sinnesorgane.

„Und das wäre?“

Shyylvert markierte die gegenwärtige Position des dritten Energiewirbels in der holographischen Darstellung. „Ich glaube nicht, dass Prosper Mérimées Machtdemonstration schon vorbei ist.“

„Aber was sollte er jetzt noch zerstören wollen? Hier draußen ist doch nichts mehr.“

„Nein? Du vergisst unsere Station.“

––––––––



MAN ERKENNT IHN NICHT wieder, so machtbesessen, wie er sich hier gibt!, ging es Scobee durch den Kopf . Was war nur aus dem Mann geworden, den sie an Bord der Rubikon kennen gelernt hatte? Dem Getto-Emigranten und Anführer eine Truppe von menschlichen Abnormitäten?

Die Pose des machtbesessenen Erpressers und Eroberers passte nicht zu ihm, fand Scobee. Aber er selbst schien das anders zu sehen. Auf dem Weg zur Macht schien ihm jedes Mittel recht gewesen zu sein. Ist das jetzt nicht langsam bereits eine Überinterpretation von Prospers Verhalten?, fragte sie sich wenig später – allerdings nur in Gedanken.

Und da war immer noch dieser Blick in seinen Augen, der Scobee sagte, dass da etwas nicht so war, wie es zu sein schien.

Der Blick passt nicht zu seinem Auftreten. Das ist der Punkt.

Prosper Mérimée wandte sich inzwischen an Porlac und das Granogk von Nar’gog.

„Sagt euren felorischen Freunden, dass sie die äußerste Torstation evakuieren sollen. Ich glaube, ihr habt sie den Funksprüchen nach, die wir abgefangen haben, als Station 5 bezeichnet.“

„Was hast du jetzt vor?“, rief Porlac ihm entgegen. Aber der Sprecher des Granogk war letztlich vollkommen wehrlos.

„Du wirst es erleben, Porlac. Und ich hoffe, du bist dann von meiner Macht überzeugt. Meine Demonstration ist nämlich noch keineswegs beendet. Der Energiewirbel hatte sich gedrittelt – und ein Drittel befindet sich immer noch am Rand des Nar’gog-Systems.“

Prosper machte eine Pause. Er ging ein paar Schritte auf und ab. Dann blickte er auf das Display seines Kommunikators. Er wirkte zunehmend unruhig. Was für Botschaften er aus der CHARDHIN-Perle empfing, blieb sein Geheimnis. Scobee registrierte allerdings, dass sich Prospers Gesicht veränderte. Der letzte Rest an Farbe wich aus seinem Teint. Schließlich fuhr er fort: „Ihr solltet mit der Evakuierung sofort beginnen. Sonst kann für nichts garantieren!“

Seine Stimme klang belegt und tonlos.

Scobee sah ihn an.

Aber er drehte sich nicht zu ihr um.

––––––––



D IE MELDUNG VON DEM bevorstehenden Angriff des letzten Energiewirbels erreichte Station 5 ohne Verzögerung. Dort herrschte sofort höchste Alarmbereitschaft.

„Ich habe es geahnt!“, stieß Shyylvert hervor und ordnete danach die umgehende Evakuierung der Station an. Er wollte kein Risiko eingehen. Jedes Shuttle, das sich in den Hangars der Station befand, wurde aktiviert. Außerdem gab es einen achtförmigen Fortsatz, der als Rettungskapsel für den Großteil der Stationsbesatzung konzipiert war. Damit würde der Großteil der Besatzung die Station verlassen – zusammen mit dem einen oder anderen Jay’nac, von denen hier auch eine ganze Reihe zu Gast waren.

Einige der wenigen noch nicht verschwundenen Kriegsschiffe der Jay’nac näherten sich inzwischen der Station, die im Übrigen jetzt aufgrund der Ereignisse um den äußeren Eisplaneten haltlos durch das All torkelte.

Den Lagrange-Punkt, der ihrer Position Stabilität gegeben hatte, gab es nicht mehr, weil der Eisplanet und sein Gravitationsfeld nicht mehr existierten. Ein Teil der Masse hat sich zu einer proto-planetaren Wolke zusammengefunden, aber die Schwerkraft dieser Wolke war wesentlich geringer als es bei dem Planeten der Fall gewesen war. Das bedeutete, dass sich der Lagrange-Punkt nicht mehr an derselben Stelle befand.

Die Station besaß zwar auch Antriebssysteme, um die eigene Position zu korrigieren, aber dazu würde jetzt wohl kaum noch Zeit bleiben.

„Warum diese blinde Zerstörungswut?“, stieß Shyylvert hervor. „Es ist so sinnlos und vernichtet die Arbeit von vielen, vielen Felorern, die hier über lange Zeit hinweg tätig waren.“

Oder war dieser angekündigte Angriff gar keine Demonstration der Macht, wie Prosper Mérimée es gegenüber Porlac und dem Granogk behauptet hatte? War es vielleicht in Wahrheit eine Verzweifelungstat? Ahnten die Herren der Perle, dass die Felorer noch immer versuchten, sie ungeschehen zu machen, und gingen sie deshalb mit ungeminderter Aggression vor, obwohl die Verteidiger inzwischen jede bewaffnete Gegenwehr wegen Erfolglosigkeit aufgegeben hatten?

Shyylvert erreichte die Rettungskapsel. Er drehte sich im Korridor vor der Schleuse noch einmal um. Er empfand Wut darüber, dass er gezwungen war, die Station unter diesen Umständen zurückzulassen – mit dem Wissen, dass sie in Kürze zerstört werden würde.

Es war in dieser kurzen Zeit auch längst nicht möglich gewesen, alle Forschungsergebnisse zu sichern. Das meiste war unwiederbringlich verloren. Nur ein Teil des Datenarchivs hatte noch übertragen werden können.

Welch maßlose Verschwendung!, dachte Shyylvert. Und das alles nur wegen den ebenso maßlosen Ambitionen eines primitiven Erinjij mit Namen Prosper Mérimée ...

Shyylvert gab sich einen Ruck und passierte die Schleuse. Wenn er an all die aufwendigen Experimente und Forschungssimulationen dachte, die jetzt nicht mehr zu Ende geführt werden konnten, dann hätte er jedes einzelne Achter-Element an seinem Körper schütteln können, so tief saß der Grimm, der ihn erfasst hatte.

Nach vorne orientieren!, nahm er sich vor, während sich das Schleusentor hinter ihm schloss.

„Willkommen an Bord“, begrüßte ihn der Pilot – ein Jay’nac.

„Willkommen an Bord, Pilot“, antwortete der Jay’nac.

Die Shuttles waren längst ausgeschleust worden. Jetzt klinkte sich noch die große Rettungskapsel aus – ein Gefährt, das die Form einer liegenden Acht aufwies, an deren Seiten sich kleine Ausleger befanden, die als Antriebsdüsen fungierten.

„Maximale Beschleunigung!“, befahl Shyylvert.

„Verstanden!“, bestätigte der felorische Pilot der Rettungskapsel.

Die Ortung zeigte, dass sich der Energiewirbel in Bewegung gesetzt hatte.

„Wenn die uns alle vernichten wollten, dann könnten sie es zweifellos tun!“, war der Pilot überzeugt. „Die technischen Möglichkeiten dazu hätten die Perlenherren gewiss.

„Sag mir Bescheid, wenn wir außerhalb der Gefahrenzone sind“, forderte Shyylvert. Das Gefühl der Resignation machte sich immer stärker in ihm breit.

„Das lässt sich kaum bestimmen“, sagte der Pilot.

Shyylvert war sofort wieder mit seinen Gedanken im Hier und Jetzt. „Wieso nicht?“, fragte er nach einer etwas längeren Pause. Daran musste man sich im Umgang mit ihm gewöhnen.

Der Pilot antwortete: „Der Gegner ist viel zu schnell. Ob wir bereits ein paar hunderttausend Kilometer weiter weg sind, spielt überhaupt keine Rolle. Dieser Energiewirbel hätte uns ohnehin innerhalb kürzester Zeit eingeholt.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er schließlich fort: „Immerhin sind wir bereits weit genug von der Station entfernt, dass uns die Trümmer nicht um die Ohren fliegen.“

„Angesichts der Lage ist das wohl etwas, wofür man schon dankbar sein muss“, erwiderte Shyylvert düster.

Er stellte eine Verbindung zur Station 1 her, um Felvert zu sprechen. Es war unerlässlich, dass der ehemalige Leiter von Torstation 5 jetzt Bericht erstattete.

Nur wenig später hatte der Energiewirbel die Station erreicht. Die achtförmigen Segmente, die dem Aufbau eines felorischen Körpers nachgebildet waren, wurden auseinander gerissen. Nichts blieb davon übrig. Die Macht einer ungeheuren Explosion ließ die Station zerbersten. Glühende Trümmer irrlichterten durch das All und leuchteten noch einmal kurz auf, ehe die Kälte des Alls sie kurz danach für immer verlöschen ließ.

––––––––



W ER BIST DU?

Auf welcher Station dienst du?

Yyvert war dem Zustand der Erschöpfung nahe – und zwar sowohl körperlich als auch geistig. Er hatte sich aus der Steuer Acht in einen abgelegenen Raum mit Zugang zur Stations-KI zurückgezogen. Die Simulationen, mit denen er temporale Effekte abzuschätzen versuchte, waren äußerst rechnerintensiv. Aber sowohl Boolvert als auch Felvert waren damit einverstanden, dass Yyvert alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt bekam.

Yyvert versuchte inzwischen, immer weiter zurückliegende Zeitlevel anzusteuern. Er befand sich bereits innerhalb der ersten Sekunde seit der Entstehung des Universums, das zu dieser Zeit von einer nahezu gleichmäßig verteilten Menge Protonen erfüllt war.

Wasserstoff.

Der Anfang von allen.

Vermutlich werde ich mich dem Nullpunkt des Seins mathematisch immer weiter annähern können, ohne ihn je zu erreichen!, erkannte Yyvert schließlich resignierend. Wie haben es die Herren der Perle geschafft, den Ursprung der Permanenz so tief in der Vergangenheit zu verankern? Es muss ungeheure Energien gekostet haben.

Oder war die Aufwendung dieser gewaltigen Kräfte vielleicht sogar letztlich die Ursache des Urknalls selbst?

Der Kosmos als einziges Paradoxon, dachte Yyvert. Die rechnerische Möglichkeit existiert – aber ich mag mir das nicht wirklich vorzustellen...

Die andere Möglichkeit, nach der die Erbauer der Chardhin-Perle den Ursprung der Permanenz jenseits des Urknalls temporal verankert hatten, erschien ihm immer wahrscheinlicher – obwohl auch diese Hypothese mehr Fragen aufwarf als sie beantwortete.

––––––––



S PÄTER FAND FELVERT ihn im Zustand vollkommener Erschöpfung. Yyvert lag auf dem Boden vor einer der Konsolen, mit denen er gearbeitet hatte. Die Simulation lief noch. Felvert begriff gleich, dass es dabei um Zeiträume ging, die in extremer Nähe des Nullpunkts der Zeit lagen.

Und doch wohl offenbar nicht nah genug.

Selbst wenn wir den Punkt finden, an dem wir ansetzen können, so ist noch lange nicht geklärt, wie die zu einem so fundamentalen Eingriff in die Zeitlinie notwendige Energie gewonnen werden kann!, dachte Felvert.

Der oberste Tormeister empfand keine Befriedigung darüber, dass sie das sogenannte Wunderkind bei der Lösung des Problems offenbar auch nicht weitergebracht hatte als der erfahrene Felvert.

Felvert versuchte den in eine Schlaftrance gefallenen Yyvert zu wecken.

Zunächst vergeblich.

Dann bemerkte er die toten Achter-Segmente an Yyverts kleinem – manche sagten missgestaltetem – Körper.

Also auch er!, überlegte Felvert. Der Schwefel ... Sein eigener Hang zu dieser Sucht sah Felvert nun in einem etwas milderen Licht. Wenn schon jemand mit der Genialität eines Yyvert zu diesem Hilfsmittel greifen musste, um die geistigen Anforderungen erfüllen zu können, die der Dienst auf der Torstation nun einmal verlangte, dann hatte Felvert doch wohl jedes Recht, sich selbst zu entschuldigen.

Jene Achter-Elemente, die Felvert für tot hielt, waren nicht sofort als tote Segmente zu erkennen. Das konnten nur geübte Sinne zuverlässig erfassen. Sinne, die oft genug am eigenen Körper das Fortschreiten dieser suchtbedingten Wucherungen beobachtet hatten und sie daher vom normalen Wachstum unterscheiden konnten.

Felvert transferierte einen Impuls aus Mentalenergie in den völlig weggetretenen Yyvert. Dieser erwachte nun aus seiner Trance. Seine Lebensgeister kehrten zurück.

„Wir schaffen es nicht“, sagte er. „Wir schaffen es einfach nicht.“

„Man muss auch mit der Tatsache fertig werden, dass man scheitert“, erwiderte Felvert.

„Das sagt sich so einfach.“

„Ich verstehe, was du meinst.“

„Nein, das glaube ich nicht, Felvert. Ich war so nahe dran, das Unmögliche doch noch wahr zu machen. Aber meine geistigen Kräfte reichten einfach nicht.“

„Du siehst also definitiv keine Möglichkeit mehr, dass wir noch zu unseren Gunsten eingreifen können?“, fragte Felvert resigniert.

„Im Moment nicht, nein“, erwiderte Yyvert bedauernd.

Imperium der Foronen: Raumschiff Rubikon Band 9-16: Science Fiction Abenteuer Paket

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