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Unheimliche Begegnungen

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Fast 10 Jahre waren vergangen seit Mrs. Prittel in der Silvesternacht ihren Sohn geboren hatte. Verändert hatte sich in der Square Stone Gasse nicht viel. Wenn die goldene Herbstsonne aufging, reflektierte das alte Kopfsteinpflaster sanft das Licht und hüllte die Straße in einen sehr alten englischen Charme. Trotzdem schien an dem heutigen Tag alles irgendwie anders als sonst, unabhängig davon, dass heute Halloween war.

Schon in der frühmorgendlichen Dämmerung wälzte sich Mr. Prittel schlaflos hin und her. Es war ihm unmöglich sich noch mal für eine halbe Stunde umzudrehen und weiterzuschlafen. Daraufhin entschied er spontan schon etwas eher zur Arbeit zu gehen. Nach einem kräftigen Biss ins Butterbrot griff er nach seiner schäbigen Ledertasche und setzte sich in seinen verbeulten Wagen, mit dem er rückwärts aus der Garage fuhr. Er konnte sich noch allzu gut daran erinnern, wie schön neu der Wagen aussah als Larris geboren wurde, das war nun mittlerweile fast 10 Jahre her.

Seit Jahren nahm er immer den gleichen Weg zur Arbeit und nie zuvor war ihm etwas Ungewöhnliches passiert, außer damals in der Silvesternacht. Gerade als er um die Ecke fahren wollte, bemerkte er an der Straßenlaterne eine große, halb durchsichtig erscheinende Gestalt. Sie trug Kleidung wie aus einem Gruselkabinett und das früh morgens, wo alle anderen Menschen noch in ihren Betten lagen. Mr. Prittel war kreidebleich vor Schreck. Seine Mutter hatte ihm nämlich einmal erzählt, dass einem etwas Schlechtes widerfahren würde, wenn man drei Mal eine Gestalt mit Hut im Rückspiegel erblickt. So ist es ihr nämlich damals tatsächlich ergangen. Einen Moment lang war ihm nicht klar, was er da gesehen hatte. Er drehte den Kopf noch einmal zurück, um zu schauen, ob das, was er dort erspähte nur Einbildung oder Wirklichkeit war. An der Laterne stand aber niemand mehr, so musste es dann wohl doch eine Halluzination oder ein frühmorgendlicher Halloween-Gag von jemandem gewesen sein. Um sich von dem Schrecken zu erholen, fing er ein kleines Selbstgespräch mit sich an.

>>Nun ganz ruhig Robert Prittel, es ist alles in Ordnung mit dir. Die Geschichte mit deiner Mutter trifft nicht auf dich zu!<<, sagte er, schüttelte den Kopf und lachte im nächsten Augenblick wieder über sein Hirngespinst.

>>Bestimmt war das alles Quatsch oder purer Zufall<<, sagte er sich und maß dem Ganzen dann keine große Bedeutung mehr bei.

An der nächsten Kreuzung angekommen schien wieder alles in Ordnung und vergessen zu sein. Mr. Prittel stellte sein Autoradio laut an. Heraus kamen aber nur komische Geräusche und ab und zu Wortfetzen einer hohen Fistelstimme. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf dem Radio herum in der Hoffnung der Sender würde sich einstellen. Es passierte nichts. Auch das Kassettendeck funktionierte nicht. An den Seiten kam dicker Bandsalat herausgekrochen. Voller Frust schleuderte Mr. Prittel die uralte und nun kaputte Lieblingskassette quer durch das Auto. Die traf zuerst die Sitzlehne, daraufhin seine Oberlippe und dann einen Radioknopf.

>>So ein Mist!<<, schrie er vor Schmerz auf. Es trieb ihm die Tränen in die Augen und als er wieder hochschauen konnte stockte ihm der Atem. Zwischen den Fußgängern liefen halbdurchsichtige kleine Gnome, die ihn grinsend anschauten. Im selben Moment verstellte sich der Sender und dann erschallte aus dem Radio ein lautes grollendes Gelächter, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die Ampel sprang wie wild mal auf Rot, dann wieder auf Grün, als wenn die Elektronik spinnen würde. Bevor es dann tatsächlich Grün werden konnte, drückte Mr. Prittel voll auf das Gaspedal und fuhr querfeldein über sämtliche Kreuzungen. Zum Glück war keine Polizei in der Nähe, das hätte ihm nämlich ganz sicher den Lappen gekostet. Er war so schnell, dass er innerhalb der nächsten zwei Minuten vor seinem Geschäft, dem Antiquariat, zum Stehen kam. Leichenblass sprang er mit einem Satz aus dem Auto, schloss die Tür auf, drückte den Lichtschalter und ließ sich hinter einem Haufen Bücher in seinen alten Cordsessel fallen.

>>Tief einatmen und ausatmen!<<, sprach er erneut zu sich selbst und strich vorsichtig über die geschwollene Lippe.

>>Alles nur Einbildung. Das sind nur die Nerven. Es gibt keine durchsichtigen Gnome. Ich habe einfach nur zu wenig geschlafen. Für all diese Dinge gibt es eine natürliche Erklärung.<<

Gerade als er zur Entspannung seine Beine auf eine Pritsche und einen kalten Lappen auf die Schwellung legen wollte, hörte er die Türglocke bimmeln.

>>So früh am Morgen, wer da?<<, sprach er erstaunt ins Leere, dann stand er auf und lugte zum Ladentisch, in der Erwartung dort stünde ein Kunde. Zu sehen war aber niemand. Gerade, als er sich wieder hinsetzen wollte, rief ihm dann plötzlich jemand ein >>Hallo!<< zu. Es kam direkt von einem fein säuberlich gestapelten Bücherberg.

>>Nanu!<<, da hinten wedelte eine Hand hin und her. Schnurstracks ging er um die Bücher herum, während zeitgleich wieder die Türglocken klöterten. Weit und breit war aber niemand zu sehen. Wutentbrannt lief er zur Tür, riss sie auf, rannte auf den Bürgersteig und prallte beim ersten Schritt nach draußen mit einem kleinen alten Mann zusammen, der rechts um die Ecke bog.

>>Entschuldigung!<<, stammelte Mr. Prittel, >>ich habe sie nicht gesehen.<<

>>Wie kann man mich denn auf einer menschenleeren Straße übersehen?<<, grummelte der Mann in einem merkwürdig östlichen Akzent. Diesen Herrn sah er schon seit vielen Jahren hier entlang laufen und bis heute hatte man kein einziges Mal miteinander gesprochen, denn so nah war er nie auf ihn getroffen.

>>Wieso menschenleer?<<, dachte sich Mr. Prittel, >>es wimmelte doch nur so vor Personen.<< Überall liefen menschenähnliche, halb durchsichtig Gestalten herum, teilweise angezogen wie in Madame Tussauds Gruselkabinett. Einige davon waren klein wie Kinder, andere übernatürlich groß. In der frühmorgendlichen Dämmerung und der leicht neblig verwaschenen Sicht waren ihre Gesichter nur schwer erkennbar. Sie schienen etwas oder jemanden zu suchen, denn jedes Türschild wurde von ihnen gelesen.

>>Ja sehen sie denn nicht, was hier auf den Straßen los ist?<<, stutzte Mr. Prittel.

>>Das ist ja schlimmer als in der Vorweihnachtszeit!<<

Der alte Mann schüttelte fassungslos den Kopf, warf ihm einen ungläubigen Blick zu und tickte mit seinem Zeigefinger an seine Schläfe.

>>Ich glaube langsam sie spinnen! Falls sie aber doch alle Tassen im Schrank haben, sollten sie vielleicht einen Optiker aufsuchen oder einen Beruhigungstee trinken! Reichlich ungesund, wenn sie alles doppelt und dreifach sehen. Ich gebe ihnen meine Karte. Sie werden sie irgendwann noch einmal brauchen. Wenn nicht für eine neue Brille, dann für etwas anderes.<< Ein merkwürdiger Typ dachte Mr. Prittel still bei sich. Irgendwie sprach er in Rätseln. Der alte Mann griff erstaunlich flink in seine Tasche. Dort zog er eine goldene Visitenkarte heraus, drückte sie ihm in die Hand, drehte sich auf seinem Absatz um und war weg. Kurzum verschwand er genauso schnell, wie er gekommen war. Mit der Karte in der Hand stand er nun wie angewurzelt da. Was für ein Name:

Prof. Dr. Dr. Valim Rachmjenitsch

Optiker und Experte für Antiquitäten

Rachmjenitsch wohnte im Woldengrove End, fußwärts fünf Minuten von der Square Stone Gasse entfernt. Komisch, das war quasi fast um die Ecke und tatsächlich kannte man sich nur von Weitem. Alles nur Zufall dachte er sich, dann verstaute er die Karte in seinem Portemonnaie.

Das merkwürdige Treiben auf der Straße wurde immer unruhiger. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend ging er wieder rein und schloss kurzerhand die Tür zu. Aus sicherer Entfernung sah er aus dem Schaufenster und bemerkte, dass sich immer mehr dieser Wesen auf den Straßen tummelten. Nun kamen sie auch direkt vor sein Schaufenster, schauten neugierig, beschnüffelten das Fensterglas und tuschelten miteinander. Er war sicher, das hier hatte nichts mit Halloween zu tun und deutete auf etwas anderes hin. Beim Betrachten der Gestalten fiel ihm auf, dass sie, je heller es draußen wurde, immer hektischer und transparenter erschienen. Als wenn ihnen die Zeit davon liefe! Was hatte das alles zu bedeuten und nach wem oder was suchten sie?

Als er so vor sich hin- und herdachte und sich den Kopf darüber zerbrach, was das Ganze auf sich haben könnte, fiel ihm aus heiterem Himmel ein alter verstaubter Brief mit einem roten Siegel vor die Füße, der merkwürdigerweise an keinen Adressaten gerichtet war. Dennoch fühlte sich Mr. Prittel aufgefordert in diesen geheimnisvollen Umschlag zu schauen. Er brach das Siegel, klappte das gelbliche Pergamentpapier auf und begann eine goldene Schrift zu lesen:

Robert Prittel,

du hast diesen Brief geöffnet, nun lies genau, denn nach dem Lesen verschwinden alle geschriebenen Worte im Nichts! Sie suchen nach deinem Sohn, aber hab keine Angst sie können ihn nicht sehen, denn er trägt das Amulett! Rede nicht mit ihnen und tue so, als würdest du sie nicht sehen, dann bist du uninteressant. Wenn die Gestalten nicht finden was sie suchen, verschwinden sie wieder. Spätestens, wenn gleich die frühmorgendliche Dämmerung vorbei ist, sind sie weg. Sie kommen aber irgendwann wieder.

Gerade hatte Mr. Prittel zu Ende gelesen, da sah er, wie sich die goldene Schrift vom Blatt erhob, in der Luft tänzelte und sich auflöste. Der Briefumschlag mit Siegel und das Papier zerfielen zu Staub und nichts erinnerte mehr daran, dass er eben noch in seinen Händen gelegen hatte. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Diese seltsamen Gestalten suchten nach seinem Sohn! Hatte er die letzten zehn Jahre nicht Ruhe gehabt und das Ganze, was damals in der Silvesternacht passiert war, längst vergessen? Waren die letzten Jahre nicht ohne jegliche Vorfälle gewesen und hatte er nicht genau deshalb völlig verdrängt, dass dieser Tag kommen könnte? Völlig durcheinander hastete er zur Tür seines Lädchens und hängte das Schild >>geschlossen<< auf. Anschließend sprang er in seinen Wagen und fuhr unverzüglich nach Hause, immer noch in der Hoffnung, alles wäre nur Einbildung. Als er in die Auffahrt von Nummer 7 einbog, bemerkte er, dass es tatsächlich Wirklichkeit war und die Vergangenheit ihn einholte. Mitten auf einem alten hölzernen Briefkasten hockte ein riesiger Rabe, der ihn mit seinen Augen fixierte. Abgelenkt von diesem bohrenden Blick rammte er den Gartenzaun. Eine fette Schramme, die von der Vordertür bis zum Heck reichte, zierte nunmehr seinen Wagen.

>>So ein Mist!<<, schrie er. Wütend kurbelte er die Fensterscheibe runter und klatschte kräftig in die Hände.

>>Hau schon endlich ab!<< Der Rabe aber blieb sitzen. Er schaute mit einem neugierigen Blick hinter Mr. Prittel her, der die Haustür öffnete.

>>Puh, das wäre geschafft!<<, sprach er laut zu sich und schlug die Tür hinter sich zu. Im gleichen Moment hörte er auch schon die Stimme seiner Frau.

>>Darling, wieso bist du schon da?<< Fest entschlossen sich nichts anmerken zu lassen betrat er das Wohnzimmer und rief seiner Frau entgegen.

>>Ich bin ja heute auch schon viel früher weggegangen. Ich habe mir gedacht, ich nehme mir den Rest des Tages frei!<<

Mr. Prittel versuchte sich wie immer zu geben und schaltete den Fernseher an.

>> … und hier noch die aktuelle Meldung des Tages. In den gesamten Stadtbezirken von London haben sich elektrische Geräte wie Uhren, Ampeln, Radios etc. verselbstständigt. Das alles geschah in der frühmorgendlichen Dunkelheit und hielt bis zur Auflösung der Dämmerung an. Besonders die Tierwelt reagierte empfindlich. Erschreckte Einwohner berichteten der Notrufzentrale von wild gewordenen Haustieren wie umherflatternden Wellensittichen, fauchenden Katzen und bellenden Hunden. Erst seit circa einer Stunde ebbt die Nachrichtenflut ab. Wie Tierkundler bestätigen, reagieren Haustiere nur dann panisch, wenn sie direkte Gefahren wittern. Eine Erklärung dafür wäre akute Angst, zum Beispiel vor einem Erdbeben. Tiere nehmen bevorstehende Katastrophen schon Stunden vorher war. Diese Sorge kann jedoch allen Bürgern und Bürgerinnen genommen werden. Seismografen geben keinerlei Hinweise, die darauf hindeuten würden. Experten im Lande können sich nicht erklären warum und worauf die Tierwelt so extrem reagierte und wieso ausgerechnet elektrische Geräte betroffen waren und nun schalten wir weiter zu Morven Brinnings aktueller Wettervorhersage. Morven, gibt es einen Hinweis, ob wir heute noch mit einem kleinen Wetterumschwung in Richtung Gewitter zu rechnen haben? Vielleicht sind die Tiere ja einfach nur wetterfühlig!<<

>>Schwer zu sagen Brent. Heute ist ein Tag an dem alles anders ist als sonst. In den Nachmittags- und Abendstunden sind eindeutig dichte Nebelschwaden aufgrund zu hoher Luftfeuchtigkeit zu sehen. Schon in den Morgenstunden wurden im gesamten Umkreis von London für circa zwei Stunden extrem hohe Werte gemeldet. Die sich heute Abend ankündigende Luftfeuchtigkeit wird aber wohl alles toppen. Man wird die Hand vor Augen nicht mehr sehen können. Wir raten deshalb den Einwohnern von London vor Beginn der Dämmerung in ihren Häusern und Wohnungen zu bleiben.<<

Mr. Prittel stockte vor Schreck der Atem und saß da, als hätte er einen Bügel verschluckt. Radios spielen verrückt? Tiere reagieren, als ob jemand in die Wohnung eindringen würde? Sonderbare Gestalten? Ein Rabe sitzt auf dem Briefkasten und beobachtet ... Es wurde brenzlig.

Mrs. Prittel betrat mit dem Tablett für das zweite Frühstück das Wohnzimmer. Es war schwierig sich so zu verstellen, dass sie nichts merken würde. Er musste sich also etwas überlegen, denn wenn diese Gestalten noch einmal wiederkommen würden, musste Larris in Sicherheit sein, aber wie sollte er das schaffen ohne das seine Frau irgendetwas davon spitz bekam?

In Gedanken versunken starrte er auf den Kalender im Wohnzimmer und zwirbelte mit seinen Fingern in seinen dichten schwarzen Haaren. Doch was war das? Da war ein roter Kringel um eine Zahl herum gekritzelt.

Sein eben noch im Haar zwirbelnder Zeigefinger wanderte gezielt zu seiner Brille, die er auf seiner Nase hin und her rückte, um erkennen zu können, was da so rot leuchtete.

>>Zwei!<<, las er und blickte erstaunt auf.

>>Das ist es!<<, rief er. Seine Frau sah ihn ungläubig an.

>>Das ist was?<<, fragte sie nach.

>>Ach nichts, ich habe nur eben laut gedacht<<, murmelte er und drehte sein Gesicht aus ihrem Blickfeld, denn sie hätte sofort gemerkt, dass das eine glatte Lüge war. Nur in genau zwei Tagen hatte Larris Ferien, dann könnte er für zwei Wochen weg. Nervös und angespannt räusperte er sich.

>>Ähm - Roisin Schatz, hat meine Mutter sich eigentlich mal wieder gemeldet?<< Wie er befürchtet hatte, schaute Roisin ihn erstaunt an und setzte sich an den Wohnzimmertisch. So etwas hatte er schon lange nicht mehr gefragt. Eigentlich war der Kontakt in den letzten Monaten fast eingeschlafen und nur selten kam es dazu, dass sie sich mal meldete.

>>Nein<<, sagte sie, zündete das Stövchen für den Tee an und goss das heiße Wasser über den Teebeutel in der Kanne.

>>Warum?<<

>>Ach, nur so<<, druckste er herum. Mrs. Prittel stutzte und schaute ihren Mann mit einem skeptisch durchdringenden Blick an, sodass er sich nervös auf dem Sofa hin und her zu räkeln begann.

>>Nur so, aha<<, sagte sie misstrauisch.

>>Sag schon endlich! Was ist los?<< Nun fixierte sie ihn so, dass er am liebsten alles erzählt hätte, wäre da nicht plötzlich wieder diese Stimme gewesen. Es war fast so, als würde im Kopf ein Fernseher eingeschaltet werden und dann wieder aus. In seinem Innersten ertönten die Worte von Sistan, dem Geist der Niederkunft! Es waren genau die Worte und Bilder, die ihm zum Zeitpunkt der Geburt von Larris mitgeteilt wurden und das genauso eindringlich wie damals, sodass er ohne zu zögern log, dass sich die Balken bogen.

>>Äh, na ja, ich mache mir eben halt so meine Gedanken. Meine Mutter ist ja schließlich auch nicht mehr die Jüngste und ich finde es sehr schade, dass wir so wenig Kontakt zu ihr haben.<<

>>Und?<<, sagte sie gespannt.

>>Nun, ich dachte nur ... vielleicht ... wäre es wirklich schön für sie und auch Larris ... und natürlich auch für uns ... na, du weißt schon ... den Kontakt zu ihr wieder zu intensivieren.<< Erwartungsvoll stand er vom Sofa auf und setzte sich zu ihr an den Tisch. Mrs. Prittel nippte derweil mit geschürzten Lippen an ihrem Tee herum.

>>Ich schlage vor, dass wir meine Mutter anrufen und fragen, ob Larris für die nächsten zwei Wochen bei ihr sein dürfte. Immerhin sind Ferien und bei meiner Mutter ist es für einen Jungen in seinem Alter spannend. Du weißt doch, wie schön das alte Haus ist. Sie wird sich unheimlich freuen und wir können uns nach dem Besuch endlich auch mal wieder etwas Zeit für uns nehmen.<<

Das hatte ihr Mann schon wirklich lange nicht mehr zu ihr gesagt und deshalb war ihre Freude umso größer. Beherzt biss sie in ihr Himbeermarmeladenbrötchen und plinkerte mit den Augen.

>>Einverstanden!<<, sagte sie schmatzend und sprang fröhlich von ihrem Sessel hoch. Sie umarmte ihren Mann so kräftig, dass sein Kopf vor lauter Luftmangel puterrot wurde und der Himbeermarmeladenkuss, dem sie ihm auf seine Wange drückte, gar nicht auffiel.

Sein Plan ging also auf. Nun war die Sache gebongt und zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Larris konnte aus der Gefahrenzone weggebracht werden, ohne dass jemand auch nur im Geringsten ahnte, dass irgendeine Gefahr lauerte und seine Frau war glücklich!

>>Lass uns Larris aber nichts verraten, es soll eine Überraschung werden!<<, fügte er beiläufig hinzu und grinste frech. Insgeheim dachte er sich natürlich, dass er das alles wirklich sehr gut eingefädelt hatte. Jetzt musste nur noch irgendwie verhindert werden, dass Larris nach draußen gehen würde, denn schließlich war ja Halloween.

Die vom Wetterdienst angekündigten Nebelschwaden hatten etwas sehr Beunruhigendes. Es waren einfach zu viele Merkwürdigkeiten auf einmal und so manches Mal sollte man sich auf sein Bauchgefühl verlassen. Es musste also eine gute Idee her, damit Larris gar nicht in Versuchung geraten würde nach draußen gehen zu wollen. An Halloween war das recht schwierig, außer man würde ihm anbieten zu Hause „Pit - the crack“, eine Art Verstecken im Dunklen, spielen zu können. Das Haus der Prittels war ideal dafür, denn es hatte viele Winkel und finstere Ecken. Das wäre für Larris wohl eine willkommene Alternative gewesen, die er bei Nebel wohl kaum abschlagen konnte.

>>Roisin Schatz, dass ich es nicht vergesse, für heute Abend habe ich mir noch etwas Schönes überlegt. Wir machen einen Spieleabend!<<

>>Einen Spieleabend an Halloween? Nein, wir sind doch eingeladen! Wie kommst du denn jetzt auf so etwas?<< sagte sie empört.

>>Hast du denn kein Radio gehört? Wir können heute nirgendwo hin. Es werden sich dichte Nebelschwaden über das gesamte Gebiet legen! Außerdem sollen die Leute in ihren Wohnungen bleiben und wichtige Einkäufe in den Mittagsstunden erledigen! Wenn du mir nicht glaubst, dann mach doch eben einfach die Nachrichten um 12 Uhr an!<< Ungläubig ging sie zum Radio und stellte den örtlichen Sender ein. Sie konnte einfach nicht ernst nehmen, was ihr Mann da sagte.

>>Achtung, Achtung und hier nochmals eine Meldung für die Einwohner von London. Bitte bleiben sie schon vor Beginn der Dämmerung in ihren Häusern und Wohnungen! Heute fällt Halloween aus, denn Schlagnebel tritt auf! Diese Art von Nebel ist so dicht, dass man die Hand nicht einmal fünf Zentimeter vor den eigenen Augen erkennen kann. Lichtpegel werden komplett verschluckt. Autofahren ist nicht möglich! Bleiben sie bitte zu ihrer eigenen Sicherheit bis morgen früh drin!<<

>>Das klingt ja unheimlich<<, sagte sie und überlegte nicht lange, >>dann muss ich wohl unsere Einladung absagen.<< >>Schlagnebel!<<, wiederholte sie irritiert und schüttelte ungläubig den Kopf. So etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört. Ein völlig neues Wort.

>>Das gibt es wirklich und ist kein Halloweenscherz! Meine Mutter hat, wenn ich mich recht entsinne, vor ungefähr 30 Jahren ein ähnliches Szenario erlebt. Ich weiß, wovon ich spreche und genau deshalb sollten wir zusehen, dass wir uns hier drinnen die Zeit vertreiben. Alles andere wäre lebensgefährlich!<<, sprach er mit Nachdruck.

Bis es Zeit zum Mittagessen war, wurde weiterhin kein Wort mehr über den Schlagnebel gesprochen. Während Mrs. Prittel in der Küche an ihrem Mittagessen werkelte, begab sich Mr. Prittel in die Bibliothek, ins oberste Stockwerk des Hauses. Hier stopfte er sich genüsslich eine Pfeife mit Vanilletabak und öffnete das Fenster, um nicht die komplette Bibliothek einzuräuchern. Das hatte seine Frau nämlich nicht gerne. Doch was war das? Als er in den Vorgarten hinunter spähte, saß der Rabe immer noch auf dem Briefkasten. Das Ungetüm bemerkte ihn und starrte in seine Augen, dass ihm vor Unbehagen fast die Rauchröhre aus den Mundwinkeln fiel. Plötzlich jedoch drehte es sich und richtete den Blick auf die Square Stone Gasse, als würde es auf jemanden warten.

>>Ein riesen Vieh, das ist mir vorhin gar nicht so aufgefallen<<, dachte er laut. Er war sich sicher, dass die Flügelspannweite bestimmt über einen Meter betrug. Ein ganz besonders großes Exemplar seiner Gattung, das ihm bislang in dieser Größenordnung noch nie ins Auge gefallen war. Sein Vater hatte ihm damals, als er noch ein kleiner Junge war, erzählt, dass es eine besonders große Rabenart, die Kolkraben, gäbe. Vielleicht war das ja einer. Das musste er doch unbedingt einmal nachschlagen. Flink zog er eine alte Enzyklopädie aus dem Regal und wurde prompt fündig.

>>Hier steht es, der Kolkrabe. Mit einer Körperlänge von bis zu 64 cm, einer Flügelspannweite von 1,20 m und einem Gewicht bis zu 1,5 kg, ist der Kolkrabe deutlich größer als alle anderen Rabenvögel Europas. Sein Gefieder ist pechschwarz und die Flügeldecken glänzen metallisch. Der Kolkrabe hat einen großen klobigen, schwarzen Schnabel. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gilt er als ausgestorben. Was um Himmelswillen macht dann dieses ausgestorbene Vieh in meinem Vorgarten?<<, las er und schüttelte den Kopf.

>>Nein, das ist kein Kolkrabe, der ist ja noch um einiges größer, als das, was es sonst gibt<<, sprach er entsetzt zu sich. So etwas Ähnliches hatte er aber noch irgendwo anders gesehen und das vor sehr langer Zeit. Er überlegte hin und her, dann erinnerte er sich wieder. Da gab es doch ein uraltes Buch. Er hatte es zu seinem sechsten Geburtstag von seinem Vater bekommen. Im Geiste sah er sich bei ihm auf dem Schoß sitzen und zerriss das Geschenkpapier, in das das Buch eingepackt war. Es war ein braunes ledernes Gebinde, das zum Vorschein kam. Seltsame Tiere und Wesen, die er so noch nie gesehen hatte, waren dort abgebildet. Sie sahen ein wenig märchenhaft aus. Ganz zu Anfang, noch vor den Bildern, stand ein Sprüchlein, das er damals nicht verstanden hatte. Verschwommen tauchten einzelne Bruchteile ins Gedächtnis zurück. Zu gerne würde er es jetzt noch einmal lesen. Dieses Buch musste hier irgendwo im Regal stehen. Er suchte eine Weile danach, dann schaute er ganz nach oben und entdeckte, dass eins auf einmal etwas weiter herauslugte, als all die anderen. Merkwürdig dachte er und nahm es an sich. Er hätte schwören können, dass es vorher nicht soweit herausgestanden hatte. Schon beim Aufschlagen der ersten Seite wurde deutlich, dass er das richtige Buch in den Händen hielt. Da waren sie wieder, die vielen fremdartigen Wesen, die in sich eine große Faszination bargen. Bei ihrem Anblick fühlte er sich für einen Moment in die Kindheit zurückversetzt. Als er weiter blätterte, stieß er tatsächlich auf einen Raben, wie der auf seinem Briefkasten sitzende.

>>Das ist er! Na dann wollen wir mal sehen, was hier geschrieben steht. Die Dworks, rabenähnliche Vögel, die eigentlich keine sind. Verwunschene Zauberer, die darauf warten sich von einem Bann zu befreien. Oh mein Gott, dass darf nicht wahr sein!<<, stieß er aus. Die Gedanken in seinem Kopf drehten sich und seine schlimmsten Befürchtungen machten sich breit, dann blätterte er zur ersten Seite zurück, um das Sprüchlein zu lesen:

Nehmt euch in acht, wenn das Böse erwacht!

Es hat einen Plan, der lässt sich erahn´!

Du wirst ihn sehen und kannst ihn umgehen!

Nun wusste er, was das bedeutete und stockte, als er von draußen Kinderstimmen hörte. Unter anderem vernahm er nun auch die Stimme seines Sohnes. Als er aus dem Fenster lugte, sah er, wie er gerade um die Ecke bog und das Gartentor öffnen wollte. Larris war ein sehr hübscher, auffälliger Junge. Er hatte ein schmales Gesicht mit großen grünen Augen und braunen, leicht welligen Haaren, die sich luftig mitdrehten, als er sich von seinen Klassenkameraden verabschiedete.

>>Tschüss, wir sehen uns später<<, sagte Larris zu Cedrick und Vincent.

>>Ich verkleide mich als grüner Kobold und ihr?<<

>>Wir gehen als Vampire.<< Bist du dann um halb fünf bei uns?<<, riefen die beiden, die die Söhne des Zauberwarenhändlers Dudemaker waren.

>>Na klar!<<, rief er ihnen von Weitem zu.

Mr. Prittel traute seinen Ohren nicht. Was hatte er da gehört? Larris wollte zu den Dudemakers?

>>Nein, das geht nicht, Larris!<<, bölkte er lauthals aus dem geöffneten Fenster und sah, wie der Rabe plötzlich das sich öffnende Gartentor anstarrte, sich aufplusterte und angriffslustig krächzte. Im Eiltempo stürzte er die Treppen hinunter, stolperte über den Läufer und langte zur Klinke, dass die Tür aufflog. Mit einem Griff grapschte er Larris, der durch den gewaltigen Ruck in den Eingangsflur flog.

>>Bist du verrückt geworden?!<<, rief Larris, der sich wütend vor Schmerz ins Wohnzimmer schleppte.

>>Du hättest mir fast meinen Arm gebrochen Papa!<<

>>Schhhh, sei leise!<<, flüsterte Mr. Prittel und nagelte seinen Sohn mit einem durchdringenden Blick am Sofa fest.<<

>>Wieso?<<, fragte er vergrellt.

>>Bleib da, wo du jetzt bist!<<, befahl er und linste vorsichtig durch den Türspion. Erst mit dem rechten Auge und dann noch einmal mit dem Linken.

>>Nun sag schon! Was ist los?<<, fragte Larris und rieb sich über den schmerzenden Arm.

>>Das ist gerade noch einmal gut gegangen<<, schnaubte Mr. Prittel und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.

>>Was ist los? Ist bei euch alles in Ordnung?<<, raunte es am anderen Ende des Ganges aus der Küche, denn auch Mrs. Prittel blieb der Krach an der Eingangstür nicht verborgen.

>>Ja Liebes, alles in Butter!<<, antwortete er seiner Frau mit verstellter Stimme, dann betrat er das Wohnzimmer und schaute mit ernster Miene zu Larris, der sich wunderte. So hatte er seinen Vater noch nie gesehen.

>>Soeben habe ich dich vor einem großen Unglück gerettet!<<

>>Was für ein Unglück?<<, wiederholte Larris.

>>Auf unserem Briefkasten sitzt ein riesig großer Rabe! Ein anormal großer Rabe. Der war schon heute Morgen da, als ich gekommen bin! Er wollte dich attackieren!<<

>>Was für ein Quatsch! Den hätte ich ja sehen müssen!<< sagte Larris und starrte seinen Vater besorgt an.

>>Wie, den hast du nicht gesehen? Der war doch nun wohl wirklich nicht zu übersehen so groß, wie er war.<<

>>Papa, ich glaube du bist wirklich überarbeitet. Da ist kein Rabe, schon gar nicht ein riesig großer<<, redete er mit beruhigenden Worten auf ihn ein. Mr. Prittel schüttelte ungläubig den Kopf und lugte nochmals durch den Türspion. Es war wie verhext, das Ding war plötzlich weg, wie vom Erdboden verschluckt, in Luft aufgelöst und eine Diskussion eigentlich ziemlich zwecklos. Über eine Sache hatte er allerdings noch nicht das letzte Wort verloren, seine Verabredung am Nachmittag.

>>Nun, dass mit dem Raben kann ich dir jetzt nicht mehr beweisen, er ist tatsächlich nicht mehr da, aber was ich dir auf jeden Fall für den heutigen Tag verbieten muss, ist dein Treffen mit Cedrick und Vincent!<<

>>Wieso? … warum darf ich mich denn nicht mit den Jungs treffen? Habe ich irgendetwas gemacht oder bist du etwa sauer auf mich? Heute ist doch Halloween!<<, wetterte Larris betrübt.

>>Aber nein, du hast ausnahmsweise Mal rein gar nichts angestellt!<<, beruhigte er seinen Sohn.

>>Hat man euch in der Schule denn nicht informiert?

>>Worüber?<<, hakte Larris neugierig nach.

>>Aha, also nicht! Seit heute früh gehen stündlich eindringliche Wetterwarnungen heraus, da es spät am Nachmittag Schlagnebel geben wird. Alle Bewohner sollen auf jeden Fall drinnen bleiben.<<

>>Das ich nicht lache ... Schlagnebel ... was für ein Humbug. Bis jetzt ist doch super Wetter und dann soll plötzlich aus heiterem Himmel Nebel kommen?<< Larris grinste ungläubig, stellte das Radio an und prompt erschallte mit lautem Gedrömel die Melodie des Wetterberichts.

>>Achtung! Achtung! Hier noch mal eine Durchsage an alle Bürgerinnen und Bürger von London. Heute müssen sie wohl auf sämtlich Halloweenpartys in und um London herum verzichten. Verlassen sie bitte nicht mehr ihre Wohnungen und Häuser! Holen sie ihre Haustiere umgehend rein! Der angekündigte Schlagnebel beginnt sich langsam aufzubauen.<<

In Larris Augen spiegelte sich plötzlich der Ausdruck von großer Sorge, denn auch Cedrick und Vincent wussten von der Unwetterwarnung genauso wenig wie er. Er musste unbedingt Herrn Dudemaker anrufen, damit er schleunigst seine Söhne ins Haus holen konnte, denn eigentlich wollten die beiden noch schnell in den Supermarkt, um Popcorn, Luftschlangen, Konfetti und Limonade für das Treffen nachher zu kaufen. Doch seine Bemühungen waren vergeblich. Keiner ging ans Telefon. Mr. Dudemaker war bestimmt wieder unten in seinem Keller, um neueste Zauberwaren herzustellen und deshalb hörte er das Klingeln nicht. Es gab nur noch eine Möglichkeit. Der Anrufbeantworter! Den würde er bestimmt gleich abhören und dann zurückrufen, um Entwarnung zu geben.

Miramahelia

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