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Kapitel 1

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Shangri-La Hotel, Southwark, London. Dienstag, 19:44 Uhr.

Ich betrachte mich im Spiegel, während ich meine Haare mit einer unzufriedenen Handbewegung zurückstreiche. Ich habe Augenringe, die noch nicht mal der beste Concealer der Welt verbergen könnte. Der Jetlag macht sich eben immer bemerkbar, egal, wie viele Länder der Welt man schon bereist hat. Seufzend greife ich in meine Hosentasche und befördere ein Mini-Lipgloss zutage, mit dem ich mir immerhin meine Lippen nachziehen kann. Ich schraube den Behälter auf und verteile alles sorgfältig. Während ich meine Lippen aneinander reibe und darauf warte, dass das Gloss antrocknet, höre ich meinen Vater im Nebenzimmer sprechen.

„Ja, der Flug war fantastisch… Gerne, gerne…“ Dann ein etwas unecht klingendes Lachen. Und sofort weiß ich, dass er wieder mit van Doyle telefoniert, momentan sein wichtigster Businesspartner – und der Grund, warum wir überhaupt hier sind. Oder zumindest einer davon, wenn ich meinen Eltern Glauben schenken darf. Aber alles von Anfang an: Ich heiße Phoebe St. Patrick, ich bin achtzehn Jahre alt und habe gerade – nach endlosen Jahren nervigen Lernens – meinen Schulabschluss an der Lafayette Academy in Milwaukee, Wisconsin gemacht. Und jetzt bin ich hier, in London, England, weil ich mir Unis ansehen möchte, und weil mein Vater den Deal seines Lebens einfädeln will. Er ist der Besitzer einer Computerfirma – Shamrock Computers. Ja, genau, Shamrock – wie das Kleeblatt – bezogen auf unseren Nachnamen, wirklich zum Totlachen. Dabei sind wir noch nicht mal Iren und haben auch keine irischen Vorfahren oder sonstige Kontakte dort, aber solche Wortwitze sind einfach sein Ding. Shamrock Computers ist jetzt nicht das größte Computerunternehmen der USA, natürlich nicht, davon kann mein Vater nur träumen. Aber immerhin im Mittleren Westen sind wir relativ bekannt und zumindest den meisten Leuten ein Begriff. Ich würde meine Eltern jetzt nicht als superreich bezeichnen, aber wir sind schon wohlhabend – so wohlhabend, dass wir im besten Stadtteil von Milwaukee ein Anwesen besitzen und meine Eltern mir die Privatschule bezahlen konnten, die immerhin viertausend Dollar pro Monat kostet. Und so wohlhabend, dass sie mir versprochen haben, dass ich mir eine Uni, an der ich studieren möchte, aussuchen kann – egal wo auf der Welt. Keine Ahnung, wie ich auf England gekommen bin. Vielleicht, weil das Klima ähnlich zu unserem in Wisconsin ist, oder weil die Briten für ihre Eleganz und ihre guten Umgangsformen bekannt sind, oder vielleicht einfach, weil ich mal ein wenig Abwechslung will.

Jedenfalls kam meinen Eltern meine Entscheidung gerade recht, weil mein Vater –wie bereits erwähnt – dabei ist, den Deal seines Lebens zu machen, und zwar mit Richard van Doyle, dem Besitzer von Delta Systems, dem größten Softwarehersteller in Nordeuropa. Diese Woche findet ein Kongress statt, bei dem sich Soft- und Hardware-Hersteller aus der ganzen Welt treffen, und sollte es meinem Vater tatsächlich gelingen, einen Vertrag über eine zukünftige Zusammenarbeit auszuhandeln, schafft Shamrock tatsächlich den Sprung auf den internationalen Markt – ein Ziel, das meine Eltern natürlich unbedingt erreichen wollen. Und deshalb reden sie auch den ganzen Tag von nichts anderem mehr, nicht über die Stadt, in der wir gerade zum ersten Mal sind, nicht über die Sehenswürdigkeiten, die ich gerne mit ihnen besichtigen würde, und nicht über die Unis, die ich mir ansehen möchte. Seit Wochen geht es immer nur um den Deal mit van Doyle, der nebenbei bemerkt zu den zehn reichsten Menschen in Großbritannien zählt. Ihre Gespräche drehen sich die ganze Zeit nur um den Kongress, der in einer Stunde anfangen wird, nur ab und zu werden sie durch Telefonanrufe von ihren potenziellen Business-Partnern unterbrochen. Und ich hänge seit gestern hier rum, in diesem Scheiß-Hotelzimmer, und habe noch absolut nichts von der Stadt gesehen, bis auf die Straßen, durch die das Taxi gefahren ist, das uns vom Flughafen abgeholt hat.

Mein Lipgloss ist inzwischen trocken und ich gehe wieder zurück in das Wohnzimmer unserer Suite.

Mein Vater telefoniert immer noch, während meine Mutter in dem anderen Badezimmer vor dem Spiegel steht und ihrem Make-up den letzten Schliff verleiht.

„Und wie lange dauert das Ganze jetzt?“, frage ich meine Mutter zum tausendsten Mal.

„Zweieinhalb Tage, das weißt du doch, Schätzchen“, erwidert sie, während sie versucht, ihren Mund möglichst wenig zu bewegen, um ihren eben aufgetragenen Lippenstift nicht zu verschmieren.

„Zweieinhalb Tage, in denen ich mich hier langweilen soll…“, murmele ich genervt.

„Schätzchen, wie oft haben wir darüber schon geredet?“ Sie dreht sich zu mir um und redet mit mir, als wäre ich ein kleines Kind: „Du kannst ja ein wenig in die Stadt gehen, aber sobald es dunkel wird, bist du bitte wieder im Hotel. Ich will nicht, dass du ganz allein da draußen bist, während in den Straßen womöglich irgendwelche Verbrecher herumlaufen…“

„Aber es ist Oktober, um sieben Uhr ist es dunkel!“, maule ich.

„Na dann kannst du ja endlich mal etwas früher aufstehen“, flötet sie in gespielt guter Laune, und streicht sich das blondierte Haar zurück. Würde sie es nicht färben lassen, wäre es vermutlich genauso dunkel wie meines, nur mit grauen Strähnen. Ich habe sie noch nie mit ihrer Naturhaarfarbe gesehen, nur auf alten Bildern aus der High School.

Ich seufze. „Und die Unis?“

„Sehen wir uns an, sobald dein Vater und ich zurück sind“, entgegnet sie lächelnd.

„Das war van Doyle“, fährt mein Vater dazwischen, „Er meinte, dass er bereits zwei hervorragende Plätze für uns reserviert hat.“ Er grinst vorfreudig.

„Na, das sind doch tolle Neuigkeiten!“, erwidert meine Mutter.

„Wir sollten dann so langsam los“, meint mein Vater nach einem Blick auf seine Rolex. Dann sieht er mich zum ersten Mal wirklich an. „Und du kannst heute Abend wie eine echte englische Adelige speisen. Der Koch des Hotelrestaurants hat zwei Michelin-Sterne“, fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Das werde ich“, entgegne ich nickend.

„Na dann…“, meint meine Mutter, die inzwischen ihren Mantel angezogen hat, für den es eigentlich noch viel zu warm ist. Aber er ist von Dior, und ihr Lieblingsteil, das sie natürlich unbedingt zeigen möchte.

„Du weißt ja, dass van Doyle den Kongress zur Handy-freien Zone erklärt hat“, sagt mein Vater, was ich mit einem Augenrollen kommentiere. „Hey, ich finde, das ist ein außerordentlich guter Weg, um dem ständigen Auf-den-Bildschirm-starren entgegenzuwirken!“

„Wenn du meinst…“, erwidere ich.

„So schlimm werden die zwei Tage ohne uns schon nicht werden“, sagt mein Vater grinsend und umarmt mich kurz zum Abschied.

„Viel Erfolg“, wünsche ich ihnen, während ich auch meine Mutter umarme.

„Danke, Schätzchen. Bis bald! Hab Spaß!“, verabschiedet sie sich von mir.

„Ja, mach die Stadt ein bisschen unsicher“, sagt mein Vater scherzhaft. Ich lache ein wenig gezwungen.

„Ciao ihr beiden!“, sage ich und schließe die Tür hinter ihnen.

Dann laufe ich seufzend durch den Raum und lasse mich auf die Couch sinken. Und mit einem Mal ist es still. Die dauernden aufgeregten Gespräche meiner Eltern sind verstummt. Und ich langweile mich noch tausendmal mehr als vorher. Ja, sie sind gute Eltern, aber warum tun sie mir das an – zweieinhalb Tage lang in einem Hotelzimmer eingesperrt zu sein, außer in den paar Stunden, wenn die Sonne sich dann doch mal am trüben Oktoberhimmel blicken lässt?

Ich überlege, ob ich mich gleich ein bisschen aufbrezeln, und ins Restaurant gehen, oder damit doch noch bis später warten soll. Ich kann mich nicht so richtig entscheiden und bleibe einfach unmotiviert auf der Couch liegen. Schließlich habe ich ja endlos Zeit…

Mein Handy piepst plötzlich. Eine neue Nachricht von Ashley.

Na, Süße? Hast du schon die City unsicher gemacht?

Ein Kuss-Emoji ergänzt ihre Nachricht. Ich seufze und tippe eine Antwort.

Nein, meine Eltern sind gerade gegangen und sie wollen nicht, dass ich im Dunkeln alleine rausgehe.

Mein Gott, wie erbärmlich das klingt. Als ob ich zehn Jahre alt wäre. Und als hätte Ashley meine Gedanken gelesen, kommt auch prompt die Antwort:

Im Ernst?

Ich antworte ihr:

Ja, und ich langweile mich hier zu Tode!

Ich füge noch ein weinendes Emoji hinzu und tippe auf senden. Ich warte, aber es kommt nicht gleich eine Antwort. Na toll, jetzt lässt sogar meine beste Freundin mich hängen. Ich fühle mich wie in einem goldenen Käfig – gefangen in einer tollen Suite, ohne etwas zu tun. Jetzt macht es mich sogar ein wenig wütend, dass meine Eltern mich mit hierher genommen haben. Sie haben meine Suche nach einer Uni nur als Ausrede benutzt, um auf den Kongress gehen zu können. In dem Moment piepst mein Handy erneut.

Warum gehst du nicht einfach jetzt in die Stadt? Müssen deine Eltern ja nicht erfahren, dieser Doyle hat doch ein Handyverbot auf seinem Kongress.

Echt jetzt? Sie schlägt mir vor, meine Eltern zu hintergehen und trotz des Verbots allein in die Stadt zu gehen. Nein, das kann ich nicht machen.

…Andererseits, warum eigentlich nicht? Sie haben meine Uni-Suche ausgenutzt, um hier ihren Deal einzufädeln. Warum kann ich dann nicht den Kongress ausnutzen, um mich ein bisschen umzusehen? Es wären ja wirklich nur ein, zwei Stunden, nichts Größeres.

Ich blicke aus dem riesigen Fenster. Es fängt schon an, zu dämmern. Ich beiße mir auf die Lippe, wie immer, wenn ich nervös werde.

„Aber es ist doch noch nicht mal acht Uhr, was soll schon groß passieren?“, murmele ich und schlucke einen sich plötzlich bildenden Kloß in meinem Hals herunter. Ich bin eben einfach eine zu gute Tochter. Mein Gott, jetzt fange ich schon an mit Selbstgesprächen!

Erneut piepst mein Handy.

Übrigens soll ich dir schöne Grüße von Ricky ausrichten, er war gestern auch auf der Party.

Ein zwinkerndes Emoji soll mich wohl darüber hinwegtrösten, dass der Typ, den ich gerade date, allein auf eine Party gegangen ist, während ich auf einem Flug nach Europa voller Turbulenzen kein Auge zubekommen habe.

Und warum kann er mir das nicht selber schreiben?, denke ich, doch ich antworte nur:

Danke, sag ihm einen Gruß zurück. Ich muss jetzt los, was essen. Ciao!

Sie verabschiedet sich mit einem winkenden, und einem küssenden Emoji. Kurz entschlossen schalte ich mein iPhone aus. Zwar liebe ich mein Handy, aber bei dem, was ich jetzt vorhabe, kann ich keine nervigen Nachrichten gebrauchen.

Warum wühlt es mich nur so auf, dass Ricky mir nicht selbst geschrieben hat? Klar, er ist mein Freund, aber seit ich nicht mehr auf die High School gehe, sollten mich solche Sachen nicht mehr aufregen. Schließlich können wir nicht mehr der neueste Klatsch und Tratsch auf dem Schulhof sein, das sind jetzt andere. Seit wir zusammen auf dem Abschlussball waren, habe ich sowieso das Gefühl, dass er sich mit Absicht von mir entfernt. Und das Komische ist, dass es mir noch nicht mal was ausmacht. Keine Ahnung, ob er auf der Party mit anderen Mädels geflirtet hat. Mir wird plötzlich klar, dass es dieses Gefühl der Demütigung ist, das mir etwas ausmacht. Selbst, wenn wir jetzt nicht mehr in der Schule sind, unsere Clique bekommt es trotzdem mit. Jungs sind eben alle gleich: Am Anfang sind sie so süß und nett wie Zuckerwatte, aber sobald man den ersten Bissen genommen hat, hat man plötzlich das Messer in der Kehle stecken, das schon die ganze Zeit über in der perfekten rosa Wolke versteckt war.

Endlich entschließe ich mich, aufzustehen und meinen Hintern in mein Zimmer zu bewegen. Meinen Koffer habe ich schon gestern ausgepackt, was bisher so ziemlich das Spannendste an der ganzen Reise war. Ich blicke in den Kleiderschrank und entscheide mich dann für eine enge graue Jeans und meinen rosa Lieblingswollpullover. Ich ziehe mich um und genieße das Gefühl der weichen Wolle, die über meine Haut streicht, als ich den Pulli überstreife. Dann gehe ich wieder ins Wohnzimmer und öffne die Balkontür. Es ist immer noch warm für diese Jahreszeit und ich werde keine Jacke brauchen – so wie meine Mutter.

Ich lasse meinen Blick über die Stadt streifen. Das Zimmer befindet sich im vierzigsten Stock und die Aussicht ist mehr als atemberaubend. Wenn die Stadt nur halb so schön ist, wie sie von hier oben aus zu sein scheint, wird sich mein kleiner Ausflug wirklich lohnen.

Ich nehme einen tiefen Atemzug von der kühlen Abendluft, dann gehe ich wieder nach drinnen, schließe die Balkontür hinter mir und rufe mit dem Telefon, das auf dem Nachttisch in meinem Zimmer steht, bei der Rezeption an.

„Guten Abend! Könnten Sie mir bitte ein Taxi bestellen, das mich ins Stadtzentrum bringt?“, frage ich und bedanke mich bei dem Rezeptionisten.

Dann ziehe ich meine grauen Wildleder-Stiefeletten an – weil ich ja ein bisschen was vorhabe, ausnahmsweise ohne Absätze – nehme eine kleine Umhängetasche und steckte mein Handy, hundert Pfund von dem Geld, das ich von meinen Eltern für die Reise bekommen habe, die Schlüsselkarte für unsere Suite, mein Mini-Lipgloss und einen Taschenspiegel ein. Mehr werde ich hoffentlich nicht brauchen. Ich werfe einen Blick auf den Stadtplan, den ich auf meinem Nachttisch gefunden habe, als wir hier angekommen sind. Zögernd greife ich danach und schaue mir nur die erste Seite an, auf der die Hauptattraktionen aufgelistet sind.

Westminster Abbey, Big Ben, der Tower of London – über den haben wir sogar in der Schule geredet, als es um die Reformation ging, aber davon weiß ich mittlerweile auch so gut wie nichts mehr. Das ist jedenfalls mal ein Anfang, beschließe ich, schalte das Licht aus und gehe zur Tür.

Das wird bestimmt ein super Abend!, denke ich lächelnd, drücke die Klinke nach unten und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen.

Lost in London

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