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Kapitel 2
ОглавлениеShangri-La Hotel, Southwark, London. Dienstag, 20:08 Uhr.
„Wo soll ich Sie hinbringen?“, fragt mich der Taxifahrer, als ich ein paar Minuten später auf dem Rücksitz eines schwarzen Wagens sitze. Diese Farbe sei typisch für die Londoner Taxis, hat zumindest der Fahrer gesagt, als er mich in der Hotellobby abgeholt hat. Ziemlich komisch, vor allem, wenn ich sie mit den New Yorker Cabs vergleiche. Ich war schon oft in New York, aber meine Lieblingsstadt in den Staaten ist Los Angeles, weil es da so wunderbar warm ist. Trotzdem möchte ich lieber in Europa studieren, warum, weiß ich wohl selber nicht so genau.
„Ist der Tower of London sehenswert?“, frage ich den Fahrer.
„Nun ja, die Kronjuwelen können Sie sich leider erst morgen wieder anschauen“, erwiderte er mit einem Blick auf die Uhr, „Aber von außen sieht er eigentlich auch ganz schön aus. Ist etwas schwer einzuschätzen, was wirklich sehenswert ist, wenn man selber hier aufgewachsen ist“, meint er mit einem entschuldigenden Lächeln.
„Dann fahren Sie mich bitte dorthin“, entgegne ich und erwidere das Lächeln zögernd.
„Aber gerne doch“, sagt er und wir fahren los.
Erneut ziehen Straßen und Häuser an mir vorbei, aber in der Dämmerung, mit all den Lichtern, ist das Ganze viel beeindruckender als im Tageslicht.
Ich denke wieder zurück an unseren Flug. Nicht nur ich habe keine Sekunde geschlafen, sondern auch mein Vater. Seit er die Einladung zu dem Kongress erhalten hat, ist es, als habe er plötzlich doppelt so viel Energie: Selbst auf dem Flug hat er ständig von dem Kongress und van Doyle geredet und von den Leistungen dieses Mannes geschwärmt. Er hat erzählt, wie dem Unternehmer durch seine Überwachungssoftware der größte Coup seit mindestens einem Jahrzehnt geglückt sei. Die Stadt London hat die Software gekauft und setzt sie seitdem großflächig zur Überwachung aller öffentlichen Plätze ein – ziemlich verrückt, aber natürlich auch gut für die öffentliche Sicherheit. Mein Dad vergötterte den Typen geradezu. Und dann kamen ewig lange Vorträge über den Van Doyle-Tower, den Firmensitz, in dem der Kongress stattfindet, Computersoftware und Anti-Viren-Schutz und was weiß ich alles, das die Van Doyle Company zu ihrem Spezialgebiet erklärt hat. In dem Tower befinden sich sogar Hotelzimmer, in dem die Kongressteilnehmer übernachten werden. Schon ironisch, dass jetzt ausgerechnet der Mann, der einer der führenden Softwareriesen in Europa ist, seinen Kongress zur Handy-freien Zone erklärt hat…
„Wir sind da“, sagt der Taxifahrer plötzlich.
Überrascht schrecke ich hoch. Bei all den Gedanken an den Kongress muss ich kurz weggedöst sein. Verfluchter Jetlag.
Ich blicke aus dem Fenster, aber einen Tower of London sehe ich nirgends. Fragend schaue ich den Fahrer an.
„Da vorne ist eine große Baustelle, die ganze Straße ist gesperrt. Weiter kann ich Sie leider nicht bringen. Aber es sind wirklich nur ein paar hundert Meter.“
„Kein Problem“, erwidere ich, krame meinen Geldbeutel aus meiner Tasche hervor und gebe ihm trotzdem ein gutes Trinkgeld. Er bedankt sich lächelnd.
Ich steige aus und stelle fest, dass es immer noch angenehm mild ist für den Monat Oktober. Aber vielleicht hätte ich mir auch einen Schirm mitnehmen sollen. Zwar regnet es noch nicht, aber in London weiß man ja nie…
Das Taxi fährt davon und ich stelle plötzlich fest, dass hier kaum noch Menschen unterwegs sind. Ab und zu läuft mal ein Jogger vorbei, aber ansonsten – von Touristen keine Spur. Bestimmt wegen des Wetters. Oktober dürfte auch kaum die Hauptsaison für Touristen sein… Erneut fällt mir New York ein, aber im Gegensatz zur Stadt die niemals schläft, scheint London gerade jetzt eher verschlafen zu wirken – was ja aber nicht unbedingt etwas Negatives ist.
Ich gehe ein paar Schritte, sehe mich um, betrachte die Lichter von London. Ich mag die Backsteinhäuser mit den bunten Türen, die man hier überall findet. Ganz anders als unsere modernen Häuser in den Staaten, scheinen diese hier noch eine Seele zu haben.
Die Abendstimmung ist friedlich, durch die Baustelle gibt es keinen Autolärm und es ist auch sonst kaum ein Geräusch zu hören. Hier gibt es vor allem Bürogebäude, aus manchen Fenstern dringt auch jetzt noch Licht. Menschen, die Überstunden schieben. Auf dem Weg hierher und auch bei unserer Ankunft habe ich viele Leute in Anzügen und Kostümen gesehen, die Trolleys hinter sich hergezogen haben, während sie auf ihre Smartphones starrend durch die Stadt gehetzt sind. Komisch, vorhin haben alle so busy gewirkt, und jetzt trifft man hier kaum noch eine Menschenseele an. Aber das liegt bestimmt an der Baustelle.
Ich laufe ein paar Meter weiter, doch von dem Tower sehe ich immer noch nichts. Müsste ein dermaßen bekanntes Gebäude einem nicht schon von weitem ins Auge springen? Wie groß ist dieser Tower eigentlich? Bin ich vielleicht schon vorbeigegangen? Oder laufe ich sogar in die falsche Richtung?
Ein wenig genervt krame ich mein Handy aus meiner Tasche und versuche, Google Maps aufzurufen, aber das funktioniert auch nur schleppend. Hat bestimmt etwas mit meinem amerikanischen Handy zu tun. Im Hotel gab es jedenfalls freies W-Lan… Die Seite lädt immer noch.
„So ein Mist!“, fange ich schon wieder an, wütend vor mich hinzumurmeln, „Wo ist dieser dämliche Tower nur?“ Ich seufze.
„Der Tower ist da hinten, sind nur etwa zweihundert Meter, wenn du da vorn um die Ecke biegst.“
Ich zucke zusammen und lasse beinahe mein Handy fallen. Dann blicke ich mich um, auf der Suche nach der Ecke, aus der die Stimme plötzlich gekommen ist. Da, nur ein paar Meter von mir entfernt sitzt ein Junge auf dem Boden, halb versteckt im Schatten eines niedrigen Gebäudes. Erst auf den zweiten Blick sehe ich, dass er auf einer Decke sitzt und ein Rucksack, sowie eine Plastikdose, in der ein paar Münzen liegen, neben ihm stehen. Oh.
„Ähm… danke“, sage ich jetzt und höre selbst, wie unsicher ich klinge. In Milwaukee hatte ich noch nie mit Obdachlosen zu tun – und auch sonst noch nirgends. Wie geht man mit solchen Leuten um? Was sagt man überhaupt? Tut mir leid, dass du auf der Straße leben musst?
Ich versuche, mich etwas zusammenzureißen, dann gehe ich die paar Meter zu ihm, greife in meine Umhängetasche und nehme meinen Geldbeutel.
„Ich äh weiß nicht so recht, welchen Wert englisches Geld hat“, erkläre ich, während ich an dem Reißverschluss herumnestele und nach etwas Kleingeld suche. Ich befördere ein paar Münzen zutage, große und etwas kleinere, auf denen das Konterfei der Queen prangt.
„Ist das okay so?“, frage ich und zeige ihm die Münzen, die ich auf meiner Handfläche gesammelt habe.
„Klar, danke“, sagt er und grinst.
Eigentlich ist er ganz süß, denke ich. Er hat ein hübsches Lächeln. Seine Zähne sehen gesund aus, obwohl er auf der Straße zu leben scheint. Von seinen Haaren sehe ich nur ein paar Büschel, die unter der schwarzen Mütze, die er sich über die Ohren gezogen hat, hervorlugen. Die Farbe seiner Augen kann ich im Dämmerlicht auch nicht richtig erkennen. Aber wieso interessiert mich das auch? Ich werde ihn jetzt sowieso nie wiedersehen, höchstens später, wenn ich vom Tower zurückkomme.
Wenn ich ihn zu Hause auf einer Party gesehen hätte, hätte ich ihn vielleicht sogar angesprochen.
Er ist zwar süß, aber auch verdammt arm. Er könnte dir nichts bieten, sagt eine kleine, gemeine Stimme in meinem Kopf.
„Danke für deine Hilfe“, sage ich und lächle ihm zu, bevor ich mich umdrehe und mich wieder auf den Weg mache.
Doch ich gehe nur ein, zwei Schritte, als ich plötzlich ein Geräusch höre. Jemand rennt. Schnelle Schritte kommen direkt auf mich zu. Verwirrt bleibe ich stehen, als sie im nächsten Moment auch schon direkt vor mir anhalten. Es sind drei Männer, jeder von ihnen mindestens einen Kopf größer als ich, in dunklen Outfits. Ich glaube, kugelsichere Westen zu erkennen. Und noch etwas erkenne ich sofort: Jeder von ihnen trägt eine Waffe – Pistolen, die sie, als sie direkt vor mir stehen, plötzlich ergreifen.
Mein Herz und mein Gehirn scheinen im gleichen Moment auszusetzen und anstatt länger wie gelähmt rumzustehen, mache ich kehrt und laufe los, so schnell ich kann.
„Hey!“, schreit einer von ihnen und im nächsten Moment höre ich, wie eine Kugel in das Gebäude einschlägt, an dessen Mauer gelehnt der Junge sitzt. Sofort bleibe ich stehen und mein Blick schnellt zu ihm. Er lebt noch, Gott sei Dank! Auch er ist aufgesprungen, sein Gesichtsausdruck ist vor Entsetzen erstarrt. Doch als sie weiter in unsere Richtung rennen, hält auch ihn nichts mehr an seinem Platz.
„Oh Scheiße!“, stößt der Junge hervor, greift sich noch schnell seinen Rucksack und rennt los.
„Los, los!“, treibt er mich an, ergreift meinen Arm und reißt mich mit sich.
„Hinterher!“, höre ich einen der Männer brüllen.
Der Junge zieht mich nach links, in eine kleine Gasse, in der wir es gerade so schaffen, weiter nebeneinander zu rennen. Auf einmal werde ich zurückgerissen. Einer der Männer hat meine Tasche ergriffen. Ich versuche, mich loszureißen, doch er gibt nicht auf. Panisch schlüpfe ich unter dem Gurt hindurch und überlasse sie ihm. Doch anstatt stehen zu bleiben, verfolgen die Männer uns weiter.
„Lassen Sie uns in Ruhe! In der Tasche ist eine Menge Geld!“, kreische ich. Doch der, der sie mir abgenommen hat, lacht nur spöttisch.
„Als ob uns das reichen würde, Süße!“
Ich renne noch schneller, falls das überhaupt möglich ist. Plötzlich höre ich einen Knall, spüre einen Luftzug direkt neben meinem Ohr und im nächsten Moment bricht ein Stück Fenstersims kurz über meinem Kopf weg. Sie haben schon wieder geschossen! Der Sims verfehlt mich nur knapp, und der Junge drängt mich nach rechts, wo wir in die nächste Straße einbiegen. Ich höre nichts, außer den Schritten unserer Verfolger und meinem keuchenden Atem. Ich war noch nie gut in Sport, und in einer solchen Situation habe ich mich bisher höchstens in meinen Albträumen befunden. Was passiert hier?
Doch bevor ich anfangen kann, zu denken, spüre ich, wie der Junge mich an meinem Arm nach links, in eine neue Abbiegung, reißt, und gleich darauf wieder nach rechts. Meine Augen können all die Eindrücke gar nicht mehr richtig einordnen. Wie in einem Tunnel nehme ich nur noch die Gassen wahr, die direkt vor uns liegen. Mich umzudrehen wage ich sowieso nicht. Der Junge stößt mich in eine weitere Gasse, dieses Mal eine so schmale, dass wir nicht nebeneinander hineinpassen. Ich blicke ihn fragend und voller Panik an, doch er bedeutet mir nur mit seinen Händen, schnell vorneweg zu rennen. Ich folge seiner stillen Anweisung, doch als ich mich in der Mitte der Gasse befinde, reißt er mich plötzlich wieder an meinem Arm zurück und geht auf einmal in die Hocke. Erst jetzt sehe ich, dass in einer kleinen Einbuchtung eines Hauses, unter der sich wohl ein Kellerfenster befinden muss, ein Gitter liegt. Mit einem schnellen Handgriff zieht er das Gitter einfach aus seiner Halterung. Er muss mir keine Anweisung geben. Schnell steige ich in die entstandene Öffnung und verschwinde in dem Loch. Einen Augenblick später befindet sich auch schon der Junge neben mir und platziert das Gitter über unseren Köpfen – keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment tauchen unsere Verfolger auf. Und sie rennen einfach weiter! Wir haben sie tatsächlich getäuscht!
Der Junge nimmt auf einmal meine Hand und bedeutet mir mit einer Geste, noch kurz zu warten, bevor wir wieder nach oben gehen. Ich nicke und spüre, wie mein rasender Herzschlag langsam wieder abnimmt. Doch im nächsten Moment würde ich am liebsten losheulen: Diese Gangster haben meine Tasche mitgenommen – mit meinem Geld und meinem Handy! Was mache ich denn jetzt? Wie komme ich wieder ins Hotel? Wo ist überhaupt die nächste Polizeistation? Noch nicht mal meine Eltern kann ich erreichen, denn die sind ja auf dem dämlichen Kongress mit dem dämlichen Handyverbot! Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen, doch sofort versuche ich, sie wegzublinzeln. Der Junge soll mich auf keinen Fall weinen sehen! Ich schaue weg, blinzele weiter, schlucke ein paar Mal und versuche, ruhig durchzuatmen. Besser gesagt als getan. Wie soll man sich bitte beruhigen, nachdem man gerade überfallen wurde? Ich kann nicht fassen, dass das gerade mir passiert ist – an meinem ersten Tag in London! Vielleicht hatten meine Eltern doch recht. Vielleicht ist das Karma, weil ich nicht auf sie gehört habe. Jetzt bin ich ihnen jedenfalls eine Erklärung schuldig, wenn sie zurückkommen. Allein der Gedanke daran ist schon so schrecklich unangenehm, dass ich sofort versuche, ihn irgendwie zu verdrängen.
Ich schaue den Jungen von der Seite an. Der Arme, da lebt er schon auf der Straße, und dann verliert er noch das bisschen Geld, das er hat, weil irgendeine reiche Amerikanerin, die zufällig in seiner Nähe auftaucht, überfallen wird. Dabei war er noch so nett und hat mir den Weg zum Tower beschrieben. Life’s a bitch…
„Ich glaube, die Luft ist jetzt rein“, flüstert der Junge neben mir plötzlich und will schon das Gitter wegnehmen, als ich ihn aufhalte.
„Bist du dir sicher? Was, wenn die immer noch in der Nähe sind?“
Der Junge überlegt einen Moment lang und horcht noch einmal in die Stille, doch dann nimmt er das Gitter weg und steigt aus der Vertiefung. Er reicht mir die Hand und hilft mir, ebenfalls wieder aus dem Loch zu kriechen. Ich will gar nicht wissen, wie viele Spinnen uns da unten Gesellschaft geleistet haben…
„Danke“, murmele ich, als er das Gitter wieder an seinen Platz setzt.
„Wir sollten irgendwo hingehen, wo eine Menge Leute sind“, meint der Junge, als er sich wieder aufrichtet.
„Und wo wäre das?“, frage ich.
„Erst mal zur London Bridge“, erwidert er, „Das ist nicht weit von hier, da sind immer eine Menge Touristen. Und ein paar Bullen laufen meistens auch rum, dann kannst du gleich ‘ne Anzeige aufgeben.“
Ich nicke betrübt. Mein schönes Handy…
„Mir ist so was noch nie passiert“, sage ich und denke im nächsten Moment, wie schrecklich peinlich das klingt. Doch der Junge scheint es noch nicht mal zu bemerken.
„Mir auch nicht“, erwidert er nur.
Ich schweige und laufe einfach weiter neben ihm her. Vor einer Stunde war ich noch in meiner schönen, warmen, kuscheligen Hotelsuite. Warum ist die mir noch mal so schlimm vorgekommen?
Ich weiß gerade noch nicht mal mehr, ob ich überhaupt noch hier studieren möchte. Wenn das hier überall so läuft, na dann gute Nacht… Was wäre eigentlich gewesen, wenn der Junge nicht gerade zufällig auch dort gewesen wäre? Ich schaudere. Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht! Diese Arschlöcher hätten Gott weiß was mit mir anstellen, und mich danach einfach abknallen können, und keiner hätte es herausgefunden, bis meine Eltern nach dem Kongress nach mir gesucht hätten. Eine Welle der Dankbarkeit durchflutet mich plötzlich.
„Du hast mir das Leben gerettet“, stoße ich hervor und schaue den Jungen dabei an.
Jetzt erwidert er meinen Blick. „Keine Ursache“, entgegnet er, „Ich bin froh, dass ich auch dort war.“ Als hätte er meine Gedanken gelesen…
„Hör mal“, sage ich, „Wenn ich zurück in mein Hotel komme, würde ich dir gerne etwas Geld geben, um mich bei dir zu bedanken.“
Doch der Junge winkt ab. „Lass stecken“, meint er, „Ich hab’s ja nicht für Geld getan.“
„Bist du sicher?“, frage ich überrascht, „Ich meine, weil du doch…“ Der Rest des Satzes bleibt mir im Halse stecken.
„Weil ich auf der Straße lebe?“ Er zieht eine Augenbraue hoch.
„Tut mir leid, so wollte ich das nicht sagen!“, erwidere ich schnell.
„Schon gut“, sagt er.
Ich beiße mir auf die Lippe. Warum bin ich heute nur so dämlich? Andererseits: Ich bin gerade überfallen worden. Ist es da nicht normal, dass das Gehirn mehr oder weniger aussetzt?
„Ich bin übrigens Phoebe“, sage ich, um die peinliche Stille zu übertönen.
„Ich bin Blake“, erwidert er.
Blake. Passt irgendwie zu ihm.
„Was machst du in London, Phoebe?“, fragt er.
„Ich…“ Plötzlich ist mir die ganze Situation ungeheuer peinlich. Was soll ich denn sagen? „Ich mache Urlaub in einem der teuersten Hotels in London, im höchsten Gebäude von London, ganz in der Nähe der London Bridge, wo du mich gerade hinbringst?“
„Ich sehe mir Unis an“, sage ich stattdessen, „Ich will bald anfangen, hier zu studieren.“
Er nickt und wir schweigen erneut. Jetzt sehe ich auch mal den Tower of London, an dem wir gerade vorbeilaufen. Sieht wirklich ganz schön aus, wenn auch ein wenig unheimlich in der Dunkelheit. Vielleicht werde ich mir, wenn meine Eltern wieder zurück sind, mit ihnen gemeinsam die Kronjuwelen ansehen, die da drinnen ausgestellt sind. Oder auch nicht. Gerade ist mir das ganze Sightseeing ziemlich egal, wenn ich nur endlich wieder zurück in die Sicherheit des Hotels komme. Zum Glück ist Blake bei mir, wenn ich jetzt allein zur Polizei gehen müsste, hätte ich noch mehr Angst… Es sind immer noch wenige Menschen unterwegs, obwohl wir gerade an einer der Hauptattraktionen vorbeigehen. Muss wohl an der Uhrzeit liegen. Aber immerhin gehen wir ja jetzt an einen Ort, an dem – laut Blake – viele Menschen sind.
Wir laufen an der Themse entlang und ich betrachte das ruhende Wasser, auf dem weder Schiff noch Enten zu erblicken sind. London ist am Abend tatsächlich unspektakulärer als ich gedacht hätte. Ich denke an die Abende, an denen ich mit meinen Freundinnen ausgegangen bin. Ashley hat meistens die Planung übernommen und Chloé hat den Alkohol besorgt. Chloé… eigentlich war sie nie meine Freundin, ich weiß nicht mal, ob ich sie überhaupt richtig mag. Als wir das letzte Mal in einem Club waren, hat sie dauernd mit Ricky geflirtet, und das vor meinen Augen. Gut, sie war sturzbetrunken, aber ist das wirklich eine Ausrede? Ich schüttele den Gedanken ab und versuche es noch einmal mit Smalltalk.
„Es ist so still hier“, sage ich, „Ist das normal?“
Blake zuckt mit den Schultern. „Abends fahren kaum noch Schiffe, falls du das meinst.“
„Nicht nur das“, erwidere ich, „Es sind auch so wenige Touristen unterwegs. Ich meine, wo sind die denn alle?“
Blake lächelt. „Um diese Uhrzeit vermutlich in Soho. Wieso fragst du? Lust, ein bisschen Party zu machen?“
„Gerade eher nicht so“, winke ich lachend ab, „Aber es ist schon komisch, wenn ich das mit New York oder so vergleiche… Warst du schon mal…?“ Oh Mist!
„In den USA?“, fragt er, „Nein.“
Natürlich nicht. Dumme Frage.
Ich schweige und denke nach. Wie kann ich diese Situation nur weniger unangenehm machen?
Blakes Kopf dreht sich zu mir und ich merke, dass ich ihn schon die ganze Zeit über anstarre.
„Ist das jetzt so unglaublich?“, fragt er und ich senke beschämt den Blick.
„Nein, nein“, erwidere ich schnell, „Geht mich ja auch nichts an.“
„Was ist mit dir? Warst du vorher schon mal in Europa?“, fragt er plötzlich.
Ich bin zu überrascht, um mir auf die Schnelle eine Lüge auszudenken, und antworte wahrheitsgemäß: „Ja, schon oft.“
Jetzt ist er es, der skeptisch eine Augenbraue hochzieht. Ich erröte unter seinem Blick. Er will etwas erwidern, doch bevor er dazu kommt, werden wir von einem Klingeln unterbrochen. Ich zucke zusammen und wir blicken beide in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Ein paar Meter neben uns steht eine dieser typischen roten Londoner Telefonzellen. Das Telefon darin klingelt. Bisher war mir noch nicht mal klar, dass man in Telefonzellen überhaupt anrufen kann. Das Ganze wirkt ziemlich unheimlich und ich weiß nicht, was wir tun sollen. Mein Instinkt sagt mir, dass wir jetzt besser zügig weitergehen sollten, anstatt abzunehmen. Blake blickt mich an.
Ich schüttele den Kopf. „Vielleicht sollten wir besser nicht…“
Er scheint zunächst ebenso unschlüssig zu sein wie ich. Doch dann ändert sich sein Gesichtsausdruck und er geht entschlossen auf die Telefonzelle zu.
„Hey, warte!“, stoße ich erschrocken hervor.
„Das ist nur eine Telefonzelle! Du hast ja wohl keine Angst vor einem Hörer“, meint er nur, öffnet die Tür zu der Zelle und nimmt ab.
„Hallo?“, sagt er und hält den Hörer an sein Ohr. Mit trotzigem Gesichtsausdruck lauscht er den Worten, die am anderen Ende gesprochen werden, während ich immer noch an der Tür der Zelle stehe und gebannt beobachte, wie sich Blakes Züge plötzlich anspannen.
„Was? Wer sind Sie überhaupt?“, fragt er erschrocken.
Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Also bewahrheitet sich meine ungute Vorahnung gerade tatsächlich.
„Hören Sie…“, setzt Blake an, doch er wird unterbrochen. Dann schluckt er und blickt mich an.
„Phoebe“, sagt er, „Komm bitte mal her.“
Ich muss ebenfalls schlucken und trete dann ängstlich neben Blake in die Telefonzelle. Dieser tritt so nah zu mir, dass seine Stirn meine beinahe berührt, und hält den Hörer so, dass wir beide den Worten lauschen können, die der Mann am anderen Ende nun sagt. Angespannt halte ich den Atem an.
„Hallo Kleine“, sagt eine tiefe Stimme, die offensichtlich von irgendeinem Computer verzerrt wird.
„Wer sind Sie?“, frage ich, doch der Mann lacht nur. Oder ist es überhaupt ein Mann? Der Verzerrer macht es unmöglich, zu sagen, wie sich die Stimme in echt anhören würde.
„Das ist jetzt nicht von Relevanz“, übergeht er meine Frage, „Was jetzt wichtig ist, ist, dass ihr beide mir gut zuhört. Zuerst einmal: Es wird keine Polizei eingeschaltet. Nicht jetzt, und später auch nicht.“
„Was?“, stoße ich entsetzt hervor, „Soll das etwa heißen, Sie stecken hinter dem Überfall vorhin?“
„Sieh an, die Kleine denkt mit!“, erwidert er spöttisch.
Blut steigt in meine Wangen und ich spüre erneut einen fetten Kloß in meinem Hals.
„Wie gesagt, keine Polizei, denn sonst wird im Van Doyle-Tower eine klitzekleine Bombe detonieren. Nichts Großes, das Gebäude wird nicht einstürzen oder so. Aber doch groß genug, um alle Menschen, die sich im Kongresssaal aufhalten, zu töten.“
Mir wird plötzlich schwarz vor Augen und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich muss mich an Blake festhalten, sonst, so fürchte ich, werde ich das Bewusstsein verlieren.
„Woher wissen Sie das?“, frage ich mit erstickter Stimme, „Woher wissen Sie, dass meine Eltern auf dem Kongress sind?“
Es folgt nur Schweigen. Anscheinend findet er, dass meine Frage es nicht wert ist, von ihm beantwortet zu werden.
„Was wollen Sie überhaupt von uns?“, stoße ich hervor und meine Stimme bricht, während mir Tränen über die Wangen laufen.
„Ist das nicht offensichtlich?“, fragt er.
„Ihre Schläger haben sich schon meine Tasche unter den Nagel gerissen. Da war ein Haufen Geld drin und ein Handy, das vermutlich mehr wert ist als Ihr Auto!“, schreie ich in einer Mischung aus Verzweiflung und Wut. Doch am anderen Ende der Leitung höre ich nur ein höhnisches Lachen.
„Ich schwöre Ihnen“, stoße ich voller Hass hervor, „Wenn Sie meinen Eltern irgendwas antun, dann…“
„Was dann?“, fragt er scheinbar amüsiert, „Du hast keine Ahnung, wer ich bin. Wie willst du mich denn finden, Schätzchen?“
„Er will Lösegeld, Phoebe“, sagt Blake niedergeschlagen. Er kann mir dabei kaum ins Gesicht sehen.
Mir laufen ununterbrochen Tränen übers Gesicht, als der Mann weiterspricht: „Ganz genau. Aber ich will nicht nur das. Ich will bei dem Ganzen auch noch ein wenig Spaß haben. Kennt ihr beide Räuber und Gendarme?“
Keiner von uns erwidert etwas.
„Das macht nichts“, fährt er fort, „Wir drei werden ein wenig Fangen spielen, und mit drei meine ich euch beide gegen mich – und ein wenig Unterstützung von meinen Männern. Ihr wisst schon, die, die ihr vorhin schon kennenlernen durftet…“
„Wenn Sie Lösegeld wollen“, frage ich mit tränenerstickter Stimme, „Warum haben diese Männer dann vorhin auf uns geschossen?“
„Nun, Lösegeld bedeutet zwar, dass ich euch nicht töten werde, aber es bedeutet nicht, dass ich euch nicht ein wenig wehtun darf.“ Mir wird übel von der Vorfreude, die unverkennbar aus seiner Stimme klingt.
„Meine einzige Bedingung bei dem Spiel ist, wie gesagt, dass ihr euch keine Hilfe holt. Das wäre ja dann geschummelt, oder nicht? Also: Keine Polizei und auch sonst keine Unterstützung. Denn sonst wäre ich leider gezwungen, denjenigen umzulegen. Ihr dürft mit niemandem sprechen. Wenn ihr auch nur mit einem einzigen Menschen redet, jage ich den Konferenzsaal im Van Doyle-Tower sofort in die Luft. Und denkt daran: Ich habe meine Augen überall.“
Mir ist eiskalt und ich habe plötzlich Kopfschmerzen. Vor Angst kann ich nichts erwidern. Doch das ist auch gar nicht mehr nötig, denn im nächsten Moment ertönt auch schon ein Tuten, das uns zeigt, dass er aufgelegt hat. Entsetzt sehe ich Blake an. Auch in seinem Blick liegen Verzweiflung und Panik.