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Kapitel 6
ОглавлениеTower Bridge, Southwark, London. Dienstag, 23:47 Uhr.
Viele Leute beschreiben einen Sturz aus solcher Höhe als das Gefühl, endlos lange zu fallen. Doch für mich fühlt sich das Fallen genauso kurz an wie der Moment, in dem ich darüber nachgedacht habe, was ein Sturz aus solcher Höhe anrichten kann.
Schmerz. Reiner Schmerz ist alles, was ich spüre, sobald ich unter Wasser bin. Das Wasser ist eiskalt, doch ich spüre die Kälte nicht als Kälte, sondern als die grausamsten Schmerzen, die ich je gefühlt habe. Wie tausende winziger Nadeln sticht sie meine Haut, setzt ihren Stachel in meine Lungen, mein Herz und mein Gehirn, lässt mich gleichzeitig erfrieren und verbrennen. Ich öffne meinen Mund zu einem stillen Schrei, doch das sorgt nur dafür, dass ich spüre, wie das Wasser in meine Lungen dringt und sie verstopft, den Sauerstoff herauspresst, und mich langsam und qualvoll erstickt. Ich blicke nach unten und sehe nichts als tiefschwarze Dunkelheit. Panik übermannt mich und ich beginne, zu strampeln. Plötzlich werde ich mit einem Ruck nach oben gerissen und merke, dass Blake meine Hand die ganze Zeit über nicht losgelassen hat, und, im Gegensatz zu mir, mit dem Kopf wieder über Wasser ist. Das ist meine einzige Chance zu überleben, ich muss ebenfalls wieder über Wasser!
Mit letzter Kraft ziehe ich mich an seinem Arm nach oben und tauche keuchend und hustend an der Oberfläche auf. Blake blickt sich zu mir um.
„Alles in Ordnung?“, fragt er fröstelnd.
„S-so k-k-kalt!“, stoße ich zitternd hervor. Und tatsächlich spüre ich erst jetzt, wo ich mit dem Kopf über Wasser bin, die eisige Kälte des Flusses, in den wir gerade gesprungen sind. In meinem gesamten Leben war mir noch nie so kalt. Es ist so eisig kalt, dass ich Angst habe, mein Herz könnte jeden Moment stehenbleiben.
Blake stößt einen angestrengten Laut aus, und nun sehe ich auch, was er mit seinem ‚Plan‘ gemeint hat: Er hält sich an der Leiter eines Schiffes fest, das plötzlich unter der Brücke aufgetaucht ist.
„Hör zu“, sagt er mit zitternder Stimme zu mir, „Du musst dich hier festhalten und du darfst nicht loslassen, okay?“ Er deutet mit dem Kopf auf die Leiter, die an Bord des Schiffes führt, und zieht mich näher zu sich. Ich ergreife die Stangen, welche rechts und links von den Stufen angebracht sind. Blake bleibt hinter mir, ergreift sie nun ebenfalls mit beiden Händen und drückt mich so gleichzeitig mit seinem Körper an den Schiffsrumpf.
„K-können wir da hoch?“, frage ich zögernd.
„Nein“, erwidert Blake, „Der Schatten des Schiffs v-versteckt uns vor den Killern.“
Das war also sein Plan: Als er sich auf der Brücke umgeblickt hat, hat er gesehen, dass gerade ein kleines Schiff unter der Brücke hindurchfährt, dessen Schatten uns das perfekte Versteck bietet, und dessen laute Motorengeräusche verbergen, dass wir den Sturz überlebt haben. Also ist er mit mir nach unten gesprungen und in den Schatten getaucht, sodass die Männer uns nicht länger sehen können. Eine ziemlich geniale Idee, wenn nur die schreckliche Kälte nicht wäre, die es mir schwer macht, mich immer weiter an den Eisenstäben festzuhalten.
Plötzlich ertönen mehrere platschende Geräusche nacheinander, als ob kleine Gegenstände ins Wasser fallen würden. Ich schaue zurück zur Brücke, von der wir uns mit dem schnellen Boot bereits einige Meter entfernt haben, und stelle entsetzt fest, dass die drei Männer aufs Wasser schießen, und zwar genau auf die Stelle, an der wir gerade eben, nach unserem Sprung, vermutlich aufgekommen sind. Zum Glück hat uns das Schiff mittlerweile einige Meter weiter transportiert.
„Sieh nicht hin“, murmelt Blake dicht an meinem Ohr, „Denk lieber an etwas Schönes!“
Und das versuche ich dann auch. Ich schließe die Augen und versuche, mich abzulenken. Doch die eisige Kälte holt mich schnell zurück auf den Boden der Tatsachen und vertreibt jede Kreativität und Vorstellungskraft aus meinem Gehirn. Wie lange kann man eigentlich in so eisigem Wasser bleiben, ohne zu erfrieren? Der Gedanke trifft mich wie ein Schlag. Was, wenn wir jetzt hier draußen erfrieren und unsere Leichen erst in ein paar Monaten gefunden werden? Niemand könnte unseren Verfolgern etwas nachweisen, geschweige denn ihrem Auftraggeber.
Und wieder frage ich mich, wer der Mann sein könnte, der mich jagt wie ein wildes Tier. Meine Eltern haben keine Feinde, zumindest keine, von denen ich wüsste. Natürlich haben sie einige Konkurrenten, der Markt ist ja stark umkämpft, aber richtige Feinde, die bereit sind, ihre Tochter zu töten? Der Mann hat vorhin von Rache gesprochen, aber als ich ihn danach gefragt habe, ist er natürlich nicht näher darauf eingegangen. Die Ungewissheit macht mich fertig. Wer will sich an meinen Eltern rächen? Und wofür denn bitte? Was haben sie getan, wovon ich nichts weiß? Es muss etwas Schreckliches sein, wenn es einen Menschen dazu bringt, so weit zu gehen. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine lieben, guten Eltern einem Menschen etwas Derartiges antun könnten. Vielleicht war es ja in ihrer lange zurückliegenden Vergangenheit? Oder vielleicht haben gar nicht sie es getan, sondern die Eltern von meiner Mutter oder meinem Vater oder ihre Geschwister? Ich wünschte nur, ich könnte meine Eltern anrufen und mit ihnen sprechen, mich zumindest vergewissern, dass es ihnen gut geht. Dieser dämliche van Doyle! Was, wenn doch er dahinter steckt? Wenn das Motiv eigentlich Rache und nicht Habgier ist, ist das doch gar nicht mehr so abwegig, oder? Aber Rache wofür, verdammt? Außerdem kennen meine Eltern und er sich doch erst seit ein paar Monaten – oder etwa doch nicht? Hat er vielleicht sogar eine andere Identität angenommen, um sie in seine Falle zu locken? Aber was ist dann mit den anderen Konferenzteilnehmern? Wäre er tatsächlich bereit, sie ebenfalls umzubringen, nur, um meine Familie zu töten? Das darf ich auf gar keinen Fall zulassen!
Und wenn es nun doch nicht van Doyle ist? Dann stehe ich wieder ganz am Anfang meiner Überlegungen. Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich und ich habe so langsam das Gefühl, verrückt zu werden.
„Phoebe? Nicht einschlafen, hörst du!“, fährt mir Blake dazwischen.
„Ja!“, erwidere ich bibbernd. Mein Atem gefriert dabei zu einer Eiswolke. Aber je länger ich im Wasser bin, desto weniger spüre ich die Kälte. Sind meine Gliedmaßen etwa schon abgefroren? Ich strample probeweise und ein scharfer Schmerz fährt mir in die Beine. Noch alles dran.
„Siehst du das kleine Boot da vorne?“, fragt Blake in dem Moment. Ich drehe meinen Kopf nach links, sodass ich sehen kann, was er meint.
Mehrere Boote liegen an einem Steg vor Anker, das kleinste von ihnen ist vielleicht so groß wie ein Rettungsboot auf einem der Luxusdampfer, auf dem meine Eltern und ich schon die ein oder andere Kreuzfahrt gemacht haben.
„Ja“, erwidere ich mit vor Erschöpfung heiserer Stimme.
„Wir schwimmen gleich dorthin und versuchen, auf das Boot zu kommen.“
Wenn es mir nicht so schlecht gehen würde, würde ich jetzt lachen. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch in der Lage bin, zu schwimmen, von Klettern ganz zu schweigen…
Ich denke wieder an die endlose Dunkelheit, die dort unten lauert. Was, wenn mich meine Kraft beim Schwimmen endgültig verlässt und ich dort hinunter sinke? Das Gefühl eben, als meine Lungen angefangen haben, sich mit Wasser zu füllen, möchte ich für nichts auf der Welt noch einmal erleben. Und was, wenn Blake irgendwann nicht mehr weiter kann? Ich habe nicht genug Kraft, uns beide dort hinüber zu bringen. Aber um Hilfe rufen darf ich auch nicht… Vor Angst und Verzweiflung kommen mir schon wieder die Tränen, als Blake plötzlich sagt: „Wir sind nah genug dran. Los!“
Ich spüre, wie er das Boot loslässt. Ich schließe einen Moment lang die Augen und sende ein weiteres Stoßgebet gen Himmel, bevor ich mich ebenfalls vom Schiffsrumpf abstoße und beginne, zu schwimmen. Obwohl ich schlecht in Sport bin, war ich doch immer eine ganz passable Schwimmerin, aber bisher bin ich auch noch nie in so eisigem Wasser geschwommen. Mein Herzschlag beschleunigt sich wieder, sobald ich die Griffe, und somit mein einziges bisschen Sicherheit, loslasse. Ich versuche, mit möglichst großen, kräftigen Zügen zu schwimmen.
Es sind nur ein paar Meter!, sage ich mir, Nur noch ein paar Meter mehr!
Dennoch kommen mir diese paar Meter endlos lange vor. Ich versuche, mich auf Blake zu konzentrieren, der voraus schwimmt. Er krault, was ich selbst noch nicht mal kann. Er scheint generell ziemlich sportlich zu sein. Ob er in Oxford wohl in einem Sportteam war? Bestimmt hatte er ein Sportstipendium, sodass seine Familie die Kosten für die Uni nicht tragen musste. Ob er wohl gut in der Uni war? Ich wüsste so gern mehr über sein früheres Leben, was für ein Typ er war, bevor er auf der Straße gelandet ist. Ob seine Kommilitonen wohl ab und zu an ihn denken? Ob sie sich fragen, wo er abgeblieben ist? Vielleicht hat sein Vater ja eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Danach habe ich ihn noch gar nicht gefragt, das muss ich auf jeden Fall nachholen – aber erst, wenn diese schrecklichen Schmerzen aufhören, die jetzt mit jedem Schwimmzug stärker werden. Ich frage mich, wie lange ich das noch aushalte. Wahrscheinlich hält mich nur noch das Adrenalin, das schon den ganzen Abend durch meine Adern rauscht, am Leben. Und dennoch werde ich schon wieder schrecklich müde. So abrupt wie ich vorhin aus meinem Traum gerissen worden bin, würde ich auch jetzt gerne aus diesem Albtraum befreit werden.
Oh Gott, immerhin kommt das Boot jetzt endlich näher! Blake hat es schon fast erreicht, während ich weiter mit meiner schwindenden Kraft kämpfe. Ich atme schwer und trotz der Kälte läuft mir immer noch der Schweiß in Strömen über die Stirn. Meine Lungen tun weh, in der Eiseskälte des Wassers ist es schmerzhaft, wenn sie sich beim Ausatmen entfalten.
Das Boot ist jetzt direkt vor mir, und während meine Schwimmzüge immer schwächer werden, sehe ich, wie Blake sich mühsam an der kleinen Leiter am Rand nach oben zieht. Er rutscht ab und droht, wieder ins Wasser zu fallen, doch er fängt sich wieder und zieht sich mit eisernem Willen an Bord. Die letzten Meter sind die schwersten: Anstelle von richtigen Schwimmbewegungen, bin ich mittlerweile nur noch in der Lage, mich strampelnd irgendwie über Wasser zu halten. Keuchend und schnaufend bewege ich mich vorwärts in diesem Meer aus Schmerz. Und dann komme auch ich endlich an der Leiter an. Ich versuche, mich an einer der Sprossen nach oben zu ziehen, doch meine Hände sind taub vom kalten Wasser und ich bekomme sie nicht richtig zu greifen. Verzweifelt stöhne ich auf, als es auch beim zweiten Versuch nicht klappt. Blake taucht nun über der Reling auf und kommt mir erneut zu Hilfe. Mit gerade so viel Kraft wie er noch übrig hat, bückt er sich nach unten, greift mir unter die Arme und versucht, mich nach oben zu ziehen. Doch wir sind beide völlig entkräftet und so muss er mich schnell wieder absetzen, bevor er selbst zurück ins Wasser fallen könnte. Blake atmet einmal kurz und heftig durch, dann versucht er es erneut und ich versuche, ihm so gut es geht zu helfen, indem ich meine Füße auf die Sprossen der Leiter stelle und probiere, nach oben zu klettern.
Blake stöhnt auf vor Anstrengung und ich halte die Luft an, darauf gefasst, jeden Moment wieder im Wasser zu landen, aber wie durch ein Wunder schaffen wir es dieses Mal tatsächlich: Blake zieht mich nach oben und wie ein nasser Sack fallen wir beide zu Boden. Ich bin auf ihm gelandet und schaffe es gerade noch so, mich auf den Rücken zu rollen.
So liegen wir jetzt nebeneinander und sind beide zu schwach, noch irgendetwas zu tun. Ich versuche, ruhig durchzuatmen und lausche Blakes Atem, der genauso heftig geht wie mein eigener. Mein Blick ruht auf dem sternenlosen Himmel. Nichts anderes ist in meinem Blickfeld außer dieser tiefen Schwärze, die mich an die Dunkelheit unter Wasser erinnert, von der wir gerade nur durch die dünnen Schiffsplanken getrennt werden. Schnell schließe ich die Augen und versuche, an etwas anderes zu denken. Doch sobald meine Augen geschlossen sind, fange ich an, vor mich hin zu dösen und ich darf hier draußen nicht einschlafen! Das könnte meinen Tod durch Unterkühlung bedeuten…
Ich drehe mich mühsam zur Seite, um zu sehen, ob Blake noch wach ist. Ja, er liegt auf dem Rücken und starrt in den Himmel, während sein Brustkorb sich nun langsamer hebt und senkt, aber er ist zum Glück bei vollem Bewusstsein.
Langsam kehrt das Gefühl in meine Gliedmaßen zurück. Zaghaft versuche ich, meine Zehen zu bewegen und stelle erleichtert fest, dass sich alle ganz normal bewegen lassen. Keiner ist abgefroren. Auch meine Finger bewege ich nun: Ich balle meine Hände zu Fäusten: Einmal. Zweimal. Und dreimal. Auch hier scheint noch alles dran zu sein.
„Wir müssen aufstehen“, sagt Blake auf einmal mit heiserer Stimme, „Wir müssen unseren Kreislauf wieder hoch bringen.“
Ich seufze allein bei dem Gedanken daran. Doch dann nehme ich meine gesamte Kraft zusammen und setze mich langsam auf. Sofort wird mir schwarz vor Augen.
Ich stoße ein leises, wimmerndes Geräusch hervor und greife mir instinktiv an die Stirn.
„Mach langsam!“, sagt er.
Ich schließe für einen Moment die Augen und atme tief durch, dann öffne ich sie wieder.
„Geht wieder“, murmele ich und gehe langsam auf meine Knie.
Blake tut es mir gleich. Er sieht extrem fertig aus, aber ich will gar nicht wissen, wie ich gerade aussehe. Wir bleiben beide einen Moment auf unseren Knien, bevor Blake vorsichtig aufsteht. Ich will es ihm gleichtun, aber sobald ich mich aufrichte, fährt ein scharfer Schmerz in meine Beine. Ich ziehe scharf die Luft ein und versuche es dann erneut. Ich darf einfach nicht auf den Schmerz hören!
Reiß dich zusammen!, befehle ich meinem Körper und stehe schließlich auf.
Aber wo ist Blake denn jetzt abgeblieben? Panisch schaue ich mich um und laufe über das kleine Deck, in dessen Mitte sich eine Art kleines Häuschen befindet, in dem jetzt hoffentlich niemand schläft, der uns gleich wieder rausschmeißen wird… Ich gehe auf die andere Seite des Häuschens und entdecke Blake endlich. Er betrachtet gerade das Türschloss und scheint zu überlegen, wie wir da reinkommen könnten.
„Das wird leider nicht anders gehen“, murmelt er und sieht mich an. „Wir müssen wohl wieder durchs Fenster.“ Mit diesen Worten geht er zu dem kleinen Fenster neben der Tür, lässt seine Hand im Ärmel seiner Kapuzenjacke verschwinden, zieht den Ärmel ein wenig zurück und hält ihn fest, und schlägt dann das Fenster ein. Mit einem lauten Krachen zersplittert das Glas. Ich halte meine Hände vors Gesicht, um mich vor Glassplittern zu schützen. Blake bricht noch ein paar spitze Scherben aus dem Rahmen, damit wir nicht aufgeschlitzt werden, wenn wir hindurchgehen. Gleich darauf steigt Blake auf die Fensterbank und lässt sich vorsichtig ins Innere des Bootes hinab.
Nervös blicke ich mich um, aber von Passanten ist hier zum Glück keine Spur. Wir sind zwar immer noch in London, aber lange nicht mehr so zentral wie noch vorhin. Eine kühle Brise fegt über das Wasser und ich schlinge fröstelnd die Arme um den Leib.
„Die Luft ist rein“, wispert Blake in dem Moment, worauf ich ebenfalls zögernd auf die Fensterbank steige. Ich will gar nicht wissen, wie viele Gesetze wir in der kurzen Zeit, die wir uns jetzt kennen, schon gebrochen haben…
Drinnen ist es dunkel und ich erkenne kaum etwas.
„Wir können kein Licht machen, sonst sieht uns vielleicht noch jemand“, meint Blake. Natürlich, das kommt ja auch noch dazu…
Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, die nur von ein paar weit entfernten Straßenlaternen erhellt wird. Ich erkenne eine etwas abgenutzte Einrichtung: Einen kleinen Stuhl, daneben einen winzigen Beistelltisch, einen gewebten Teppich, eine große Truhe in einer Ecke – und das war’s dann auch schon.
„Glaubst du, hier gibt es… ein Bad?“, frage ich Blake. Er zuckt mit den Schultern und sieht sich um. Beinahe gleichzeitig entdecken wir eine kleine Tür direkt neben der Eingangstür. Blake öffnet sie und erwidert dann: „Hier steht eine Campingtoilette, und ein Waschbecken gibt’s auch… Und da drinnen können wir auch das Licht anmachen, hier sind keine Fenster.
„Okay“, murmele ich und gehe in das winzige Bad. ‚Winzig‘ ist hier nicht übertrieben, denn in dem gesamten Raum ist tatsächlich gerade so Platz für das Campingklo und das Waschbecken, über dem zum Glück kein Spiegel hängt. Auf meinen Anblick kann ich gerade wirklich gut verzichten. Sonst gibt es hier nichts, noch nicht einmal einen Haken für ein Handtuch. Es steht noch nicht einmal Seife auf dem Waschbeckenrand. Aber das ist alles nur halb so schlimm, denn ich bin ja sowieso von oben bis unten mit dreckigem Flusswasser bedeckt. Ich stelle mich über die Toilette, während ich pinkele, damit ich die Klobrille nicht berühren muss. Immerhin eine Rolle Klopapier finde ich unter dem Waschbecken. Ich war zwar noch nie campen, aber diese Toilette gehört tatsächlich zu den ekelhaftesten Dingen, die ich je gesehen habe. Und wenn man die dann auch noch ausleeren muss, wie die fehlende Toilettenspülung erahnen lässt, na dann gute Nacht…
Ich schaudere, als ich meine eiskalte, klatschnasse Hose wieder hochziehen muss. Sie klebt an meinen Oberschenkeln und ist schrecklich schwer. Meine Zähne haben angefangen zu klappern. Je länger ich aus dem Wasser raus bin, desto stärker spüre ich die Kälte, die es in jeder Faser meines Körpers zurückgelassen hat. Ich versuche, mich zusammenzureißen und presse meine Kiefer fest zusammen, um das Zittern zu unterbrechen.
Ich mache das Licht wieder aus und gehe zurück in das andere Zimmer. Blake hat inzwischen seinen Rucksack ausgeleert und dessen Inhalt auf den Tisch gelegt: Sein Handy, zwei zum Trocknen ausgebreitete Pfundscheine, ein paar Münzen, zwei völlig durchnässte Päckchen Taschentücher, ein Fläschchen Desinfektionsmittel, ein Handyladekabel, das jetzt vermutlich nicht mehr funktioniert, ein Taschenmesser. Immerhin ist er gut für ein Leben auf der Straße ausgerüstet…
„Ein paar von meinen Sachen waren in meinem Schlafsack. Und mein Handy ist anscheinend kaputt gegangen“, sagt Blake, als er mich erblickt, „Ist ja auch kein Wunder… Na ja, wenn es eine Weile trocknet, geht es vielleicht wieder…“ Ich höre, dass er selbst nicht daran glaubt. „Aber ich habe auch gute Nachrichten.“ Er greift nach einer Plastiktüte, die auf dem Stuhl liegt. „Ich hab hier drin immer ein paar Kleider zum Wechseln. Sie war zugeknotet, als wir die Brücke runtergesprungen sind und es ist tatsächlich noch alles, was da drin ist, trocken. Jetzt müssen wir die Sachen nur noch unter uns aufteilen.“
„Ich will dir nicht auch noch deine Kleider wegnehmen“, erwidere ich zitternd.
„Phoebe“, Blake sieht mich wieder mit diesem intensiven und gleichzeitig irgendwie abwesend wirkenden Blick an, „Wir müssen aus unseren nassen Sachen raus, sonst holen wir uns noch den Tod. Also…“ Er nimmt die Tüte, greift hinein und holt die Sachen einzeln raus. „Hier habe ich eine Jogginghose… zwei Paar Socken – für jeden von uns eins – zwei Paar Boxershorts, einen Kapuzenpullover und ein T-Shirt. Was davon willst du?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Hey, vielleicht ist in der Truhe da ja noch irgendwas, was wir brauchen könnten“, meint er und geht zu der Truhe, die in der Ecke steht. Er öffnet sie vorsichtig und starrt einen Moment hinein, bevor er eine Decke herausnimmt.
„Die können wir für heute Nacht nehmen“, meint er und greift ein weiteres Mal hinein. Er hält eine Truckercap in der Hand. „Nicht ganz das, was ich erwartet hab, aber als Tarnung auch nicht schlecht.“ Blake greift noch einmal in die Truhe und befördert eine alte Jacke mit Holzfäller-Karo-Muster zutage. „Die nehme ich, dann kannst du meinen Pullover haben“, meint er.
„Nein, Blake, du musst wirklich nicht…“
„Ich will es aber“, unterbricht er mich, nimmt die Jacke und geht damit zurück zu dem Stuhl, auf dem seine Kleider ausgebreitet liegen.
„Okay, du bekommst ein Paar Socken, den Pulli… Du kannst auch die Hose haben, dann hoffen wir einfach, dass meine oder deine bis morgen früh getrocknet ist.“ Er reicht mir die Sachen und zögert einen Moment lang. „Die Boxershorts sind frisch gewaschen…“, meint er dann und senkt beschämt den Blick. Ich strecke die Hand aus und er gibt mir ein Paar.
„Im Bad ist es zu eng, um sich dort umzuziehen…“, sage ich zögernd und spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt.
„Okay“, entgegnet er unschlüssig.
„Ich bleibe hier und ziehe mich um, und du tust es dort hinten. Und wehe du guckst!“, sage ich, was ihn zum Lachen bringt. Dann drehe ich mich um, lege die Sachen auf den Boden und werfe noch einmal einen Kontrollblick zu Blake, bevor ich zögernd meinen Pulli über den Kopf ziehe. Als nächstes ziehe ich meine Stiefel und Socken aus und streife meine Hose ab. Auch wenn ich es gerade selbst gefordert habe, bin ich nun doch ein wenig neugierig. Ich fasse mir ein Herz und riskiere einen schnellen Blick zu Blake. Vor Aufregung stockt mir der Atem. Er steht mit dem Rücken zu mir, so, wie ich es von ihm verlangt habe. Sein Oberkörper ist nackt und er ist gerade dabei, seine Jeans auszuziehen. Schnell streift er sie ab, steigt aus den Hosenbeinen und trägt jetzt nur noch seine dunklen Boxershorts. Ich habe ja schon die ganze Zeit über gesehen, wie sportlich er ist, aber jetzt wird es mir noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt: Blakes Schultern sind breit, und im dämmrigen Licht der Straßenlaternen lässt sich das Spiel seiner Muskeln unter der glatten Haut erahnen, während er sein T-Shirt nimmt und es überstreift.
Er ist schön, denke ich, und muss mich schnell von seinem Anblick losreißen, damit er nicht vor mir fertig ist – und damit er nicht merkt, dass ich ihn anstarre. Ich schlüpfe schnell aus meiner Unterwäsche, ziehe Blakes Boxershorts an, nachdem ich zuerst daran gerochen, und mich vergewissert habe, dass sie auch wirklich gewaschen sind, und ziehe danach den Pulli und die Jogginghose an. Als letztes schlüpfe ich in die Socken und ziehe die Kapuze des Pullovers auf, damit meine Haare schneller trocknen. Sowohl die Boxershorts als auch die Jogginghose sind mir natürlich viel zu weit, deshalb ziehe ich die Bänder der Jogginghose zusammen und verknote sie, sodass die Hose nicht mehr rutscht.
„Bist du fertig?“, fragt Blake.
„Ja“, erwidere ich, „Und du?“ Ich drehe mich um und bin überrascht, als Blake mir bereits gegenüber steht. Als er sieht, dass ich erschrecke, lächelt er entschuldigend, legt seine Hände an meine Arme und schiebt mich behutsam zur Seite. Dann bückt er sich zu der Truhe, vor der ich gestanden habe, und holt die Decke heraus.
„Hör mal, das soll jetzt keine billige Anmache sein oder so, aber wahrscheinlich trocknen wir schneller, wenn wir uns gegenseitig wärmen…“, meint Blake, während er zurück zu dem Stuhl geht. Fragend sieht er mich an und ich nicke eilig, bevor ich meine Kleider vom Boden aufhebe und sie zum Trocknen auf die Truhe lege. Blake hat seine Sachen bereits auf dem Stuhl ausgebreitet.
„Blöd, dass ich meinen Schlafsack am Tower zurückgelassen hab. Sieht wohl so aus, als ob wir auf dem Boden schlafen müssen. Immerhin haben wir einen Teppich, auf den wir uns legen können…“ Es scheint ihm nichts auszumachen, die Nacht mit mir auf dem Boden verbringen zu müssen. Klar, er ist es ja so gewohnt… Obwohl Blake gerade nur Boxershorts anstelle einer richtigen Hose, und dazu noch die hässliche Holzfäller-Jacke trägt, sieht er immer noch gut aus, sogar mit seinen verstrubbelten, nassen Haaren.
Aber er ist arm. Vergiss ihn!
Er setzt sich auf den Boden und breitet die Decke über seine Beine aus, dann blickt er mich an.
„Kommst du?“, fragt er, „Wir können beide eine Mütze Schlaf vertragen.“
Erneut nicke ich stumm und gehe zu ihm. Er schlägt die Decke zur Seite, und ich lasse mich neben ihn auf den Boden sinken. Ich sehe ihn an, und er erwidert meinen Blick. Es ist ganz still, und weder er noch ich sehen weg. Das scheint einer dieser Momente zu sein, in denen einfach alles passieren könnte. Doch etwas hält mich zurück. Ich lasse seinen Blick los und lege mich auf die Seite, mit dem Rücken zu ihm. Als ich höre, wie Blake sich ebenfalls auf den Teppich sinken lässt, rücke ich enger an ihn, und er legt zögernd seinen Arm um meine Taille. Augenblicklich wird mir wärmer. Ich genieße das leichte Gewicht seines Armes, der sich unter meinen Atemzügen beinahe unmerklich hebt und senkt. Obwohl mir immer noch kalt ist, und wir beide nach Fluss stinken, habe ich mich noch nie so geborgen gefühlt wie jetzt.
Ricky hat nie bei mir übernachtet, und ich nicht bei ihm. Meine Eltern wollten das nicht – und ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Schon komisch, wenn ich jetzt auf die Zeit vor meinem Schulabschluss blicke, fühlt es sich beinahe wie ein anderes Leben an. Ein anderes Leben von einem anderen Mädchen, das mir plötzlich merkwürdig fremd erscheint. Aber wie soll mein Leben jetzt weitergehen? Falls es überhaupt weitergeht…
Ich schlucke hart. Das hier ist die härteste Prüfung, die das Leben mir jemals auferlegt hat, und ich bin froh, mich jetzt ein wenig ausruhen zu können, wenn auch nur für ein paar Stunden.
So liegen wir nun also hier, zwei fast Fremde, eng umschlungen, auf dem Teppich in einem fremden Boot, in das wir eingebrochen sind, nachdem wir mithilfe eines Schiffes durch die Themse geschwommen sind. Diese Geschichte ist fast schon zu unglaublich, um sie irgendjemandem zu erzählen. Und dennoch wünsche ich mir, dass ich möglichst bald das alles meinen Eltern erzählen kann, und mit ihnen wieder etwas mehr Zeit verbringe als ich es in letzter Zeit getan habe. Und ich wünsche mir, dass ich Blake wiedersehe. Das wird mir jetzt erst so richtig klar. Er ist obdachlos und ich kenne ihn kaum und dennoch mag ich ihn. Ich bin verrückt.
Das viele Nachdenken hat mich noch müder gemacht und ich spüre, wie ich langsam in den Schlaf sinke, während ich Blakes warmen Körper an meinem spüre. Ich wünschte nur, ich könnte für immer hier in seinen Armen schlafen, auf dem Teppich, auf dem Boden, in dem fremden Schiff…