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Kapitel 5

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Southwark, London. Dienstag, 23:27 Uhr.

„Phoebe!“

Ich reagiere nicht auf die Stimme. Wenn ich mich einfach weiterhin schlafend stelle, darf ich vielleicht noch ein bisschen weiter dösen.

„Phoebe!“

Ach Mist, jetzt wird sie energischer. Ich versuche, etwas zu erwidern, aber es kommt dabei nur ein müdes Murmeln heraus.

„Hey!“ Jetzt rüttelt sogar noch jemand an meiner Schulter. Was fällt dem nur ein?

„Ich komm gleich, Dad. Nur noch fünf Minuten“, murmele ich.

„Phoebe, ich bin nicht dein Dad. Ich bin’s, Blake!“

Blake, wer war das noch mal?

Blake!

Mit einem Mal bin ich hellwach.

„Was ist? Ist jemand gekommen?“

„Pscht!“, ermahnt er mich sofort.

„Sorry!“, flüstere ich.

„Wir müssen schnell hier weg. Eben war eine Frau da. Sie ist total erschrocken, als sie das Loch in der Scheibe gesehen hat und geht jetzt, glaube ich, ihren Mann holen. Also komm.“

Er erhebt sich und ich realisiere, dass mein Kopf die ganze Zeit an seiner Schulter gelegen hat. Ich werde rot. Ob er wohl auch geschlafen hat?

Blake reicht mir seine Hand und ich stehe ebenfalls auf. Im gleichen Moment schießt ein stechender Schmerz durch meine Gliedmaßen. Ich ziehe scharf die Luft ein. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen solchen Muskelkater hatte.

Blake ist schon beim Fenster und ich eile nun auch quer durch den Raum. Geschickt steigt Blake durch die eingeschlagene Scheibe, während ich nervös zur Tür blicke. Hoffentlich schläft der Mann schon und seine Frau muss ihn erst mal aus dem Bett holen… Wie viel Uhr ist es überhaupt? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren.

Blake streckt mir erneut seine Hand entgegen und mit seiner Hilfe steige ich durch das Fenster nach draußen. Blitzschnell hat er das Gitter angehoben und schiebt es so leise wie möglich aus dem Weg. Er sieht sich kurz um, stemmt dann seine Hände auf die Kante und stößt sich ab. Sobald er draußen ist, hilft er mir dabei, ebenfalls aus dem Loch zu steigen, und schiebt dann das Gitter wieder zurück an seinen Platz.

Die Straße ist leer bis auf zwei Betrunkene, die lachend herumtorkeln, auf uns zeigen und dabei irgendwas lallen. Schnell ergreifen wir die Flucht. Dieses Mal rennen wir nicht, dafür schmerzen meine Muskeln viel zu sehr, aber wir laufen doch in schnellem Tempo.

„Wo sollen wir hin? Was hast du vor?“, frage ich.

„Nicht weit von hier gibt es eine Obdachlosenunterkunft, in der ich schon mal übernachtet habe. Aber die ist in der Nähe der Tower Bridge“, erwidert er und läuft los.

Ich eile ihm nach, bis ich mit ihm gleichziehe. Dann frage ich: „Wie viel Uhr ist es eigentlich? Wie lange hab ich geschlafen?“

Blake schaut auf seinen Handybildschirm. Ich sehe, dass er nur noch wenige Prozent Akkuladung hat.

„Halb zwölf“, erwidert er, „so an die zwei Stunden.“

„Und du?“, frage ich.

„Was und ich?“, entgegnet er gestresst.

„Na, hast du auch geschlafen?“

„Kurz, bis diese Frau aufgetaucht ist.“

„Aber sie hat uns nicht gesehen, oder?“

Blake schüttelt den Kopf. „Deswegen haben wir uns ja hinter dem Sichtschutz versteckt.“

„Blake, warte“, sage ich und er bleibt sofort stehen.

„Was ist denn?“, fragt er genervt.

„Ich kann nicht so schnell“, erwidere ich schnaufend, „Mir tut alles weh, bitte mach ein bisschen langsamer!“

„Entschuldige“, entgegnet er abwesend und verlangsamt seine Schritte, während er sich mit beiden Händen die Haare zurückstreicht.

Ich kann seine Genervtheit gut nachvollziehen. Auch ich dachte, wir hätten unser Quartier für die Nacht gefunden, und jetzt sitzen wir wieder auf der Straße.

Blake muss jeden Tag so leben, denke ich und frage mich, wie er dieses Leben aushält – vor allem, weil er auch die andere Seite kennt: sich keine Sorgen um Geld machen zu müssen, genug zu essen zu haben, und ein Dach über dem Kopf.

Ich bin zwiegespalten: Auf der einen Seite bewundere ich ihn, weil er sich in dieser kalten Welt ganz allein durchboxt. Auf der anderen Seite kann ich den Groll, den er gegen seinen Vater hegt, zwar nachvollziehen, aber ist es das wirklich wert, auf der Straße zu leben? Kälte, Armut und Kriminalität gnadenlos ausgeliefert zu sein? Ich verstehe ihn einfach nicht, vermutlich auch, weil ich mit meinen Eltern ein so gutes Verhältnis habe…

Müde laufe ich neben Blake her, ich stecke noch halb in meinem Traum fest. Ich habe vom Abschlussball geträumt, nur dass dieses Mal alles anders lief. Ich war nicht mit Ricky dort, sondern mit Blake. Als ich daran denke, schießt mir das Blut in die Wangen und ich hoffe, dass er mich jetzt nicht ansehen wird. Und ich habe Glück: Blake scheint völlig in Gedanken versunken zu sein. Er starrt geradeaus, während wir zur Tower Bridge laufen, und scheint über irgendetwas nachzugrübeln. Vielleicht hat ihn unser Gespräch vorhin zum Nachdenken gebracht. Vielleicht will er ja doch wieder studieren. Ich würde es mir für ihn wünschen…

Wieder kommen uns kaum Menschen entgegen, nur ab und zu mal ein paar Betrunkene. Die Mädels hier tragen alle Minikleider, viele sogar ohne Strumpfhosen. Ich frage mich, wie sie das aushalten, denn mittlerweile hat die Kälte doch noch Einzug gehalten. Auch ich friere ein wenig in meinem Wollpullover. Ich schlinge meine Arme um meinen Oberkörper. Ich hätte nie gedacht, dass London auch so ungemütlich sein könnte. Für mich stand es bisher irgendwie immer für menschliche Wärme, Gastfreundlichkeit und einen entspannteren Lebensstil – verglichen mit den Großstädten in den Staaten zumindest. Aber da wusste ich ja auch noch nicht, dass ich mal in einem solchen Albtraum landen würde…

Wir laufen an einer Telefonzelle vorbei und ich fixiere sie ängstlich mit meinem Blick.

Bitte fang nicht an zu klingeln!, denke ich und wende meinen Blick keine Sekunde von ihr ab, als ob ich kontrollieren könnte, wann jemand anruft und wann nicht.

Kein einziger Stern ist über uns am Himmel zu sehen, und es kommt uns auch niemand mehr entgegen. Bis auf ein Auto ab und zu sind alle Geräusche verstummt, so, als ob wir vollkommen allein auf der Welt wären. Was ich mir zuvor in meinem Leben so manches Mal gewünscht hätte jagt mir nun kalte Schauer über den Rücken.

Wir sind an der Telefonzelle vorbeigelaufen und ich will gerade erleichtert ausatmen, als das bereits vertraute, grausame Geräusch ertönt.

Ich zucke heftig zusammen, als es klingelt, und Blake und ich wechseln einen verstörten Blick. Es klingelt weiter, doch keiner von uns rührt sich vom Fleck.

„Wir müssen rangehen“, stoße ich ängstlich hervor, „Meine Eltern…“

Blake nickt niedergeschlagen und geht voraus. Ich folge ihm und trete nach ihm in die Telefonzelle. Wir blicken beide auf den Hörer, als wäre er ein gefährliches Tier, ein Krokodil, das jeden Moment aus dem Wasser schnellen, und uns beiden die Kehle herausreißen könnte. Das bloße Geräusch des Klingelns ist so nervenaufreibend, dass ich fast erleichtert bin, als Blake den Hörer abnimmt.

„Hallo?“, fragt er und versucht dabei, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, doch ich höre trotzdem, wie viel Beherrschung ihn dieses eine Wort schon kostet.

Am anderen Ende der Leitung ist zunächst nichts zu hören.

Erneut stehen wir einander so nah gegenüber, dass unsere Gesichter sich beinahe berühren und unbewusst nutze ich die Gelegenheit, um ihn ein wenig näher zu betrachten. Er hat kleine Bartstoppeln auf seinem Kinn und seinen Wangen, aber sie sind wirklich kurz, als habe er sich höchstens eine Woche lang nicht rasiert. Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn. Ob vor Angst oder vor Anstrengung weiß ich zwar nicht, aber ich kann es mir denken.

„Hallo ihr zwei Hübschen“, sagt schließlich die grausame, verzerrte Stimme, die mich bestimmt für den Rest meines Lebens in meinen Albträume verfolgen wird.

„Was wollen Sie von uns?“, fragt Blake und seine Stimme zittert nun doch ein wenig.

„Also zuerst einmal möchte ich mich bei euch beschweren“, sagt die Stimme mit trügerischer Ruhe, „Was fällt euch eigentlich ein, euch meinen Augen zu entziehen? Das hat mich sehr, sehr wütend gemacht.“ Er macht eine kurze Pause, in der Blake und ich einen skeptischen Blick austauschen.

„Oh, ihr müsst nicht so schauen, denn ich habe mir schon eine passende Strafe für euch beide ausgedacht: Ab sofort seid ihr zum Abschuss freigegeben. Scheiß doch auf das Lösegeld, wenn man stattdessen etwas viel Besseres bekommen kann: Rache.“

„Rache wofür?“, kreische ich panisch, doch als Antwort bekomme ich nur ein Tuten am anderen Ende der Leitung.

Entsetzt starre ich Blake an.

„Scheiße, verdammt!“, schreit dieser nur, lässt den Hörer fallen und stürzt aus der Telefonzelle.

Ich stolpere hinterher und wir beginnen wieder zu rennen. Der stechende Schmerz in meinen Beinen ist mir nun vollkommen egal, denn ich habe die Worte des Mannes klar und deutlich gehört: Ab jetzt sind wir zum Abschuss freigegeben.

„Wir müssen zu dieser Obdachlosenunterkunft, so schnell wie möglich!“, rufe ich, während wir rennen.

„Und dann? Wenn wir uns wieder vor ihm verbergen, jagt er den Kongress hoch!“

„Was? Was meinst du mit ‚verbergen‘? Und was meint er damit?“, stoße ich keuchend hervor.

„Darüber habe ich die ganze Zeit nachgedacht“, erwidert er, „Verstehst du es nicht? Er hat uns in dem Keller nicht gesehen, weil es dort keine Kameras gibt! London hat ein flächenweites Überwachungssystem für alle öffentlichen Plätze – und das muss er angezapft haben! Das meinte er vorhin auch mit seinen ‚Augen‘ – die Kameras!“

Was?“, stoße ich entsetzt hervor, „Aber ich dachte… van Doyle ist doch der Hersteller des Systems! Dann ist es vielleicht doch er!“

„Oder irgendein Hacker“, erwidert Blake.

„Aber es hieß doch immer… dass man sich… da nicht reinhacken kann!“ Meine Lunge brennt, und vor lauter Anstrengung keuche ich meine Antwort eher, als dass ich sie spreche.

„Dann muss er wohl ziemlich gut sein“, entgegnet Blake und zieht das Tempo noch einmal an.

Ich habe Mühe, ihm hinterherzukommen, also ergreift Blake meine Hand und zieht mich mit sich. Ich spüre meine Beine mittlerweile kaum noch. Wie Roboter hören sie nur noch auf den Befehl, den ich ihnen gebe, ohne irgendetwas zu fühlen. Und dieser Befehl lautet: rennen.

Die Tower Bridge ist nun so nah, dass ich von ihrer Größe überwältigt wäre, wenn ich nicht gerade um mein Leben fürchten müsste. Ich hätte nie gedacht, dass ich das Londoner Wahrzeichen unter solchen Umständen zum ersten Mal sehen würde.

Während mir kalter Schweiß über meinen gesamten Körper läuft, bete ich still und bitte Gott darum, dass sowohl ich, als auch Blake und meine Eltern diesen Albtraum überleben werden. Doch gerade weiß ich noch nicht mal, wohin wir überhaupt rennen, geschweige denn, wo das alles denn letztendlich hinführen soll.

Die Brücke ist nun in Reichweite, nur noch ein paar Meter trennen uns davon. Aber wäre es überhaupt klug, jetzt hinüber zum anderen Ufer zu rennen?

„Blake, wo sollen wir denn jetzt hin?“, frage ich, doch Blake gibt mir noch nicht einmal mehr eine Antwort.

Seine Antwort erledigt sich ohnehin, als aus einer Seitenstraße unser Killerkommando dringt – die Männer, die uns schon zuvor verfolgt haben – und uns den Weg nach rechts versperrt. Sie sind noch relativ weit weg, aber dennoch zieht sich mein Brustkorb vor Angst zusammen. Sie sind nur noch zu zweit, der, den Blake vorhin mit dem Stein ausgeschaltet hat, ist nicht mehr dabei. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll, oder ob es mir nur noch mehr Angst macht… Und… Was soll das denn? Mir fällt plötzlich auf, dass die beiden ja gar nicht mehr ihre dunkle Kleidung von vorhin tragen, sondern als Polizisten verkleidet sind. Mein Herz bleibt fast stehen. Jetzt wird sie niemand mehr aufhalten. Sie können allen weißmachen, sie wären die Guten und wir die Verbrecher, und jeder wird es ihnen glauben. Mir wird so übel, dass ich Angst habe, mich jeden Moment übergeben zu müssen und kalter Angstschweiß läuft mir den Nacken hinunter.

Blake zieht mich zur Brücke und ich bin erleichtert, als ich einige späte Fußgänger sehe. Sie werden es doch nicht riskieren, auf uns zu schießen und möglicherweise einen von ihnen zu treffen, oder etwa doch? Ich werfe einen Blick zurück. Die Männer rennen jetzt ebenfalls. Sie sind ausgeruht, im Gegensatz zu uns, und werden schnell aufholen. Ich weiß nicht, wie wir ihnen jetzt noch entkommen sollen, auf einer Brücke, während sie uns als Polizisten verkleidet verfolgen.

„Hey, stehen bleiben!“, ruft nun auch einer von ihnen und eine kleine Gruppe von Fußgängern dreht sich tatsächlich zu uns um. Zum Glück sind sie zu überrascht, um uns aufzuhalten, als wir an ihnen vorbeirennen. Die Schritte hinter uns werden lauter.

Sie kommen näher!

Ich kann kaum noch laufen und habe das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen. Meine Lungen spielen nicht mehr mit, ebenso wenig mein Herz, und meine Nerven existieren schon gar nicht mehr.

Und dann scheint mein Herz sogar für einen Moment komplett auszusetzen, als plötzlich ein weiterer Polizist vor uns auftaucht. Ein Polizist, der einen Verband am Kopf trägt. Es ist tatsächlich der Mann, den Blake vorhin niedergeschlagen hat. Ich kann nicht mehr! Was soll uns denn noch alles passieren?

Ich höre Blake neben mir fluchen. Beinahe gleichzeitig drehen wir uns um. Doch wir erblicken nur unsere beiden anderen Verfolger, die uns inzwischen gefährlich nahe gekommen sind. Ich schaue wieder in die andere Richtung. Der dritte macht sich noch nicht einmal die Mühe, zu rennen. Geradezu spöttisch langsam läuft er auf uns zu. Sie sind in der Überzahl. Wir sitzen in der Falle.

„Phoebe“, stößt Blake unter schweren Atemstößen hervor, „Wir müssen hier weg… Und ich hab einen Plan, aber… du musst… mir vertrauen.“

Panisch sehe ich ihn an. Er hatte bisher ein paar gute Ideen, die uns aus brenzligen Situationen gebracht haben, aber was für ein Plan kann uns aus dieser Situation retten?

„Vertraust du mir?“, fragt Blake eindringlich.

„Ja“, stoße ich panisch hervor, „Ja!“

„Okay“, sagt Blake und holt noch einmal tief Luft, „Dann steig mit mir über die Brüstung und spring.“

Was?“ Ich bin entsetzt. Hat er das gerade wirklich zu mir gesagt?

„Die anderen Wege sind versperrt, wir haben keine andere Wahl, aber ich weiß, wie ich uns rette, okay? Also vertrau mir!“

Wir haben keine Zeit mehr zu verschwenden. Also nicke ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Mit schnellen Schritten steigen wir beide über die Brüstung.

„Hey, was habt ihr beiden vor?“, ruft einer der Fußgänger von weiter hinten entsetzt und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie die ‚Polizisten‘ auf uns zu rasen.

„Nimm meine Hand!“, sagt Blake, „Bei drei springen wir. Eins… Zwei… Drei!“

Genau rechtzeitig lassen wir die Brüstung los. Hinter uns höre ich noch entsetzte Schreie, bevor ich auf die Wasseroberfläche treffe.

Lost in London

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