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Kapitel 4
ОглавлениеThe Shard, Southwark, London. Dienstag, 21:12 Uhr.
Auf einmal spüre ich, wie sich neben mir etwas rührt und ich erinnere mich wieder daran, dass Blake mich gepackt und zu Boden gerissen hat. Ich atme tief ein und merke dabei, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte. Meine Lungen füllen sich auf einmal mit Sauerstoff, so schnell, dass es wehtut und ich husten muss.
„Sachte“, murmelt Blake, setzt sich auf und hilft dann mir, es ihm gleichzutun.
Ich kann immer noch nichts sagen und starre weiter geschockt auf das Szenario direkt vor uns, ohne auch nur ein einziges Geräusch wahrzunehmen. In meinem Kopf gibt es nur einen schrillen Ton, der langsam anschwillt, bis er mich komplett ausfüllt.
Das ist alles unsere Schuld!
„Phoebe!“, sagt Blake plötzlich und rüttelt an meiner Schulter, womit er mich zurück in die Realität holt. Erschrocken sehe ich ihn an.
„Wir müssen hier weg“, meint er. In dem Moment taucht mit lauter Sirene und Blaulicht ein Krankenwagen auf.
„Wenn die Polizei hier auftaucht, werden sie uns als Zeugen vernehmen wollen. Und du weißt, was passiert, wenn wir mit einem Polizisten reden…“
Ich nicke. Auch, wenn der Schock mein Gehirn größtenteils ausgeschaltet hat, verstehe ich doch, was er sagen will: Wir sind in Gefahr – schon wieder.
Mühsam ächzend steht Blake auf, dann reicht er mir seine Hand. Ich schaue noch einmal auf das Chaos, das wir zurücklassen, dann ergreife ich seine Hand und lasse mich von ihm hochziehen, denn die Kraft, allein aufzustehen, habe ich nicht mehr.
Langsam, um so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, entfernen wir uns vom Tatort. Wir laufen in Richtung London Bridge, weg von dem sicheren Hotel, in dem ich jetzt so gern wäre. Stumm laufen mir Tränen über die Wangen. Kein Schluchzen, sogar dafür fehlt mir mittlerweile die Kraft.
Je näher wir der Brücke kommen, desto mehr Menschen kommen uns entgegen. Sie wollen sicher alle zu dem Ort, an dem ein Mülleimer explodiert ist und eine Frau verletzt wurde. Alle wollen Zeugen des Unglücks werden, sich ein Bild von dem Zwischenfall machen, ein Stück Sensation mit nach Hause nehmen. Es wird zunehmend enger in der Gasse, weil sich mehr und mehr Menschen an uns vorbeidrängen. Ihr Murmeln schwillt an und man kann kaum noch etwas verstehen bei dem hohen Geräuschpegel. Der Atem der Menschen nimmt der Atmosphäre den Sauerstoff, man bekommt kaum noch Luft. Ich atme krampfhaft ein und muss für einen Moment stehen bleiben und die Augen schließen.
„Hey, ich bin bei dir!“, höre ich plötzlich eine Stimme direkt hinter mir. Er ergreift meine Hand und zieht mich an den Rand des Gedränges. „Dieser Massenauflauf ist die perfekte Chance für uns, unterzutauchen“, raunt er mir ins Ohr. Er blickt sich nach allen Seiten um, auf der Suche nach einem unserer Verfolger, dann murmelt er dicht neben meinem Ohr: „Gib mir Deckung, okay?“
Ich nicke stumm und Blake tritt zunächst hinter mich, bevor er in die Knie geht. Ich traue mich nicht, nachzusehen, was er dort unten tut. Mit einem einzigen Blick könnte ich ihn verraten.
Der Menschenstrom versiegt nicht – im Gegenteil: Es werden eher noch mehr. Je schneller sich die Nachricht verbreitet, desto mehr Menschen drängen sich durch die schmale Straße. Es sind mittlerweile so viele, dass sie mich fast schon wieder berühren, während sie vorbeilaufen. Ich will nicht mehr, ich muss hier raus!
In genau dem Moment spüre ich Blakes Hand, wie sie mich am Arm berührt.
„Schnell, geh nach unten. Aber pass auf die Scherben auf!“, murmelt er in mein Ohr.
Ich nicke, ohne mir richtig über die Bedeutung seiner Worte bewusst zu sein. Dann gehe ich an die Stelle, an der er bis gerade eben noch beschäftigt war und sehe, was er meint: Erneut hat er das Gitter über einem Kellerfenster herausgehoben. Er hat es allerdings nur soweit zur Seite geschoben, dass wir beide unauffällig in das Loch klettern, und das Gitter dann wieder zurück in seine Halterung ziehen können, ohne dass es jemandem auffällt.
Schon wieder ein schwarzes Loch, in das ich hineinklettern muss. Ich fühle mich wie Alice im Wunderland. Down the rabbit hole…
Ich atme noch einmal tief durch und mit viel Überwindung schaffe ich es, mich in das Loch hinabzulassen. Es ist tiefer, als ich dachte und als ich unten angekommen bin, sehe ich auch, was Blake gemeint hat: Er hat eine der Scheiben eingeschlagen, sodass wir hinunter in den Keller gehen können. Die Schwärze lacht mir hämisch entgegen und ich kann mich nicht dazu bewegen, als erstes in den Keller zu gehen. Stattdessen trete ich zur Seite, vor das zweite, nicht zerbrochene Fenster, und warte auf Blake. Dieser lässt sich gleich darauf geschmeidig wie eine Katze hinab in das Loch und schließt mit einer einzigen Bewegung das Gitter über unseren Köpfen.
„Blake!“, flüstere ich.
Er zuckt erschrocken zusammen. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst schon reingehen!“, meint er vorwurfsvoll.
„Ich hab Angst“, erwidere ich.
Blake seufzt genervt, dann tritt er entschlossen durch das zerbrochene Fenster. Ich kann nicht anders, als seinen Mut zu bewundern. Vielleicht lernt man das ja auf der Straße.
Ich sehe, wie sein Handybildschirm schwach aufleuchtet und sich langsam vorwärts bewegt. Er beleuchtet mehrere Dinge, die ich jetzt, wo sich meine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnen, auch schemenhaft erkennen kann: eine alte Couch, einen Paravent, der daneben steht, und hinter welchem Blake ebenfalls für zwei Sekunden verschwindet, einen Sessel, einige Kartons, ein altes Bügelbrett und einen Fitnesstrainer. Der Raum ist zwar nicht gerade groß, aber dafür ziemlich zugestellt, sodass man kaum noch Platz zum Laufen hat.
Vorsichtig stelle ich meine Füße auf die Fensterbank, gehe in die Hocke, halte mich mit meinen Händen an der Kante der Fensterbank fest und trete dann zuerst mit einem, und dann mit dem anderen Fuß in den dunklen Raum. Blake bedeutet mir mit einer Handbewegung, zu ihm zu kommen und ich folge ihm hinter den Paravent.
„Hier hinten ist das perfekte Versteck. Wenn jemand reinkommt, findet er uns hier zumindest nicht gleich.“
Ich nicke zustimmend und nehme neben Blake Platz, der sich bereits auf den alten Holzboden gesetzt hat. Die Dielen knacken, als ich mich hinsetze und ich zucke unwillkürlich zusammen. Kein Wunder, dass ich nach einem solchen Abend schreckhaft geworden bin…
Es ist bequemer als es aussieht, aber in diesem Moment würde ich wohl jeden Ort bequem finden, an dem nicht auf mich geschossen wird.
Blake nimmt seine Mütze ab und zum ersten Mal sehe ich seine Haare, wenn auch nur im Dunkeln. Sie sind ganz wirr vom Schweiß und stehen in alle Richtungen ab. Er fährt sich mit beiden Händen durch die Haare und streicht sie so zurück. Seine Mütze verstaut er in seinem Rucksack, den er abgenommen und neben sich gestellt hat, zwischen uns. Ich beobachte dabei jede seiner Bewegungen.
„Deine Eltern sind also reich“, sagt Blake plötzlich in die Dunkelheit hinein. Überrascht blicke ich ihn an. „Deswegen lassen deine Eltern dich hier studieren, obwohl ihr aus den USA kommt. Wobei, die Studiengebühren sind bei euch ja so hoch, dass es vermutlich sogar günstiger ist, hier zu studieren…“
Ich blicke ihn an und werde wütend. Ist das sein Ernst? Jetzt, wo wir in Sicherheit sind, fängt er an, mich zu verurteilen?
„Woher willst du das wissen“, entgegne ich, „Du warst doch noch nie dort.“
Er sieht weg. Ich beiße mir auf die Lippe.
„Tut mir leid“, sage ich leise, „Das war blöd.“
„Ist schon okay“, erwidert Blake, „Ich hab ja nicht immer auf der Straße gelebt.“
„Also warst du doch schon mal dort?“, frage ich überrascht.
Blake sieht mich an und verdreht genervt die Augen. „Ihr reichen Mädchen seid doch alle gleich: Sobald ihr hört, dass jemand ein bisschen Kohle hat, heftet ihr euch wie eine Klette an seine Fersen und lasst erst wieder los, wenn er euch ein paar Mal in ein Luxusrestaurant ausgeführt, und euch ein schönes Collier zum Geburtstag geschenkt hat.“
Entgeistert schaue ich ihn an. „Du kennst mich doch gar nicht!“, erwidere ich wütend, spüre aber gleichzeitig, wie ich rot werde, denn tief in meinem Inneren weiß ich, dass er im Grunde genommen recht hat. Was war mein erster Gedanke, als ich ihn gesehen habe? Er ist zwar süß, aber auch verdammt arm. Er könnte dir nichts bieten…
„Da musst du aber schon ein paar reiche Mädchen gehabt haben, wenn du das so genau weißt“, erwidere ich spitz.
„Auch in meiner Schule gab es ein paar coole reiche Kids“, entgegnet er mit einer Stimme, die vor Sarkasmus nur so trieft, „Und ich war auch mit ein paar von ihnen befreundet, bis ich gemerkt habe, dass sie dich fallen lassen, sobald sie dich nicht mehr brauchen. Sie waren alle gleich: verwöhnt, manipulativ und gefühlskalt. Und sie kümmern sich einen Dreck um ihre sogenannten Freunde.“
Ich muss schlucken und sehe Blake vorsichtig an.
„Da hast du recht“, erwidere ich leise, „Seit ich hier bin, habe ich angefangen, zu zweifeln. Von meinen Freundinnen hat sich nur eine gemeldet, seit ich angekommen bin, ganz zu schweigen von dem Typen, den ich gerade date…“
„Lass mich raten“, sagt Blake, „Er ist Quarterback.“
„Nein, nur Offensive Tackle“, erwidere ich sarkastisch.
„Was für eine Schande!“, entgegnet er amüsiert. „Wie lange datest du ihn schon?“, fragt er dann.
Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Zu lange.“
Er stößt ein schnaubendes Lachen aus.
„Ich bin nicht verliebt in ihn“, sage ich, „Ich weiß noch nicht mal, ob ich ihn überhaupt mag.“
„Warum datest du ihn dann?“, fragt Blake.
„Ach, ich weiß nicht“, erwidere ich, „Vielleicht wollte ich einfach ein Date für den Abschlussball haben. Er ist sehr beliebt an meiner alten Schule, alle mochten ihn. Und ich dachte, das würde ich auch. Bis er dann vor meinen Augen mit einer meiner Freundinnen geflirtet hat.“
„Autsch. Na, dann haben wir wohl beide negative Erfahrungen mit der High Society an Schulen gemacht.“
„Nichts für ungut“, erwidere ich, „Aber die High Society an meiner Schule bestand nur aus Leuten, deren Eltern Multimillionäre waren. Das ist noch mal eine andere Stufe von Arroganz.“
Und ich selbst war bis vor kurzem ein Teil davon, füge ich in Gedanken hinzu.
Blake nickt verständnisvoll. Dann schweigen wir wieder. Ich lausche den Geräuschen, die durch das zerbrochene Fenster dringen. Immer noch eilen Menschen vorbei, aber es sind deutlich weniger geworden. Die Sensationslust ebbt ab, vermutlich ist die Frau sowieso schon längst ins Krankenhaus gebracht worden. Ich bin froh, dass wir hier unten sind, fühle mich sogar fast schon wohl in diesem fremden Keller, in einem fremden Haus. Hoffentlich kommt nicht gleich jemand rein und entdeckt die zerbrochene Scheibe. Noch eine Flucht möchte ich heute Abend nicht ertragen müssen.
Wie bin ich hier nur gelandet?, frage ich mich nicht zum ersten Mal.
Ich lausche Blakes Atem. Er ist viel ruhiger als vorhin. Ich würde ihn gerne ansehen, sein Gesicht näher betrachten, aber das würde ihm sofort auffallen.
„Ist… mit deinen Eltern irgendwas passiert?“, frage ich vorsichtig in die Stille hinein.
Blake schaut mich an. Der Blick seiner Augen, deren Farbe ich in der Dunkelheit immer noch nicht erkennen kann, ist intensiv und gleichzeitig zögernd. Dann nickt er und senkt den Blick.
„Ich hatte noch nie das beste Verhältnis zu meinem Vater“, beginnt er, zu erzählen, „Er war schon immer kühl, hat selten Emotionen gezeigt und mir nie solche Sachen gesagt wie „Ich bin stolz auf dich“ oder „Ich hab dich lieb“ oder so was. Je älter ich wurde, desto öfter haben wir uns gestritten.“ Er sieht kurz weg. Es ist ihm unangenehm, mir das zu erzählen. Doch ich unterbreche ihn nicht, viel zu gespannt bin ich auf den Grund, warum er auf der Straße lebt.
„Das war zwar nie besonders schön, aber es wurde immer durch meine Mutter ausgeglichen.“ Seine Augen leuchten auf, als er von ihr erzählt: „Sie war so ein wundervoller Mensch. Ich hab sie über alles geliebt.“ Blake muss schlucken, bevor er weiterspricht: „Sie ist vor ein paar Monaten gestorben. Es war ein Verkehrsunfall, sie war sofort tot, von einem Moment auf den nächsten.“
Er spricht nicht weiter und ich bin unschlüssig, was ich tun soll. Spontan ergreife ich seine Hand. „Das tut mir leid“, sage ich leise.
Blake sieht mich einen Moment lang an, dann senkt er seinen Blick wieder und erzählt weiter: „Nach ihrem Tod bin ich erst mal in ein tiefes Loch gefallen. Ich hab drüber nachgedacht, mein Studium abzubrechen, aber dann habe ich mich dafür entschieden, erst mal ein Semester lang auszusetzen. Meinem Vater hat das natürlich gar nicht geschmeckt. Er ist total ausgerastet, als ich es ihm gesagt habe. Ich werde die Worte, die er gesagt hat, nie vergessen: ‚Deine Mutter wäre enttäuscht von dir, wenn sie dich jetzt sehen könnte.‘“ Ich sehe die Wut in seinem Gesicht. Doch er lässt nicht zu, dass sie aus ihm hervorbricht. „Dann bin ich gegangen“, sagt er und sieht mich an.
Ich erwidere seinen Blick einen Moment lang und schaue dann weg. Was er mir gerade erzählt hat, ist schrecklich. Einen Elternteil zu verlieren ist das Schlimmste, was ich mir überhaupt vorstellen kann – und wenn dann der andere Elternteil auch noch so reagiert, ist es nachvollziehbar, dass Blake abgehauen ist.
„Aber hättest du nicht zu einem deiner Freunde gehen können?“, frage ich zögernd.
„Was für Freunde?“, erwidert er mit einem zynischen Lachen, „Ich habe dir doch gerade erklärt, dass die dich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, sobald sie genug von dir profitiert haben. Und wenn ich zu einem meiner Kommilitonen gegangen wäre, hätte der mich sofort an meinen Vater verpfiffen. Er kann ziemlich… einschüchternd auf andere Leute wirken.“
„Hat dein Vater keine Vermisstenanzeige aufgegeben?“
Blake zuckt mit den Schultern. „Ich glaube nicht. Wahrscheinlich wäre es ihm peinlich vor seinen Kollegen und Bekannten gewesen. Sie hätten gesehen, dass er als Vater versagt hat. Und sein Ansehen war ihm schon immer wichtiger als ich…“
Ich versuche, mir Blakes Vater vorzustellen – einen Mann, der so grausam sein kann, dass sein Sohn vor ihm auf die Straße flieht und dann noch nicht einmal versucht, ihn zu finden. Für mich ist das einfach unvorstellbar.
„Und was hast du jetzt vor?“, frage ich weiter.
„Wie meinst du das?“ Blakes Stimme klingt müde, als hätte er jetzt genug von meiner dauernden Fragerei.
„Na ja… Du kannst ja nicht vorhaben, für immer auf der Straße zu leben, oder? Willst du nicht wieder zurück an die Uni gehen?“
„Von was denn?“, erwidert er, „Mein Vater hat mir den Geldhahn zugedreht, als ich abgehauen bin – würde ich vermutlich genauso machen. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass ich dann reumütig zu ihm zurück gekrochen komme, aber da hat er sich getäuscht.“
Ich schaue weg. Es ist mir unangenehm, Blake von so etwas Persönlichem wie der Beziehung zu seinem Vater sprechen zu hören. Wir kennen uns erst seit heute Abend und unter normalen Umständen hätten wir nie über so etwas gesprochen. Unter normalen Umständen hätten wir uns gar nicht kennengelernt. Ich schaue ihn zögernd wieder an. Sein Blick scheint in weite Ferne zu gleiten.
„Hör mal, Blake“, sage ich vorsichtig, „wenn es nur am Geld scheitert, kann ich dir helfen. Meine Eltern bezahlen mein Studium, und das ist echt keine große Sache für sie. Ich bin mir sicher, ich könnte sie davon überzeugen, dir zu helfen…“
„Du würdest einem Wildfremden, den du gerade eben erst kennengelernt hast, ein Studium in Oxford bezahlen?“, fragt Blake lächelnd.
„Du warst in Oxford?“, erwidere ich überrascht.
Ertappt zuckt er zusammen.
„Wow, das ist echt beeindruckend. Hattest du gute Noten?“
„Ich war nicht schlecht“, winkt er ab, „Aber wegen deinem Vorschlag eben: Das kann ich nicht annehmen, Phoebe.“ Ich mag es, wie er meinen Namen mit seinem britischen Akzent ausspricht. Meine Freundinnen haben im Vorfeld meiner Reise Witze darüber gemacht und gemeint, ich solle mir doch einen Engländer mit einem sexy Akzent krallen. Ich habe dabei nur die Augen verdreht.
„Ich will keine Almosen von dir“, fährt er fort, „Ich komme schon allein klar.“
„Nein, tust du nicht!“, erwidere ich energisch, „Sonst wärst du jetzt nicht hier…“
Blake seufzt. „Lass uns über etwas anderes reden, okay?“, meint er.
Ich nicke widerwillig.
„Deine Eltern sind also gerade auf diesem IT-Kongress im Van Doyle-Tower?“
„Hast du schon mal was davon gehört?“, frage ich überrascht.
„Der findet jedes Jahr statt und ist dann immer in allen Medien, weil da IT-Mogule aus aller Welt kommen: Terada, Al Aguim und Sörensen sind dieses Jahr die bekanntesten, habe ich in einer Zeitung gelesen“, entgegnet er schulterzuckend.
„Ja, meine Eltern haben sich seit Monaten darauf gefreut“, erwidere ich, „Mein Dad will einen Deal mit ein paar internationalen Konzernchefs einfädeln, und am liebsten wäre ihm einer mit diesem van Doyle. Der ist der reichste Mann Londons, glaube ich.“
„Sogar reicher als die Queen“, bestätigt Blake.
„Er hofft, dass unsere Hardware-Firma dann auch in Europa bekannt wird.“
„Wie heißt eure Firma?“, fragt er.
„Shamrock Computers“, erwidere ich, „Glaube nicht, dass dir das etwas sagt.“
Er schüttelt den Kopf.
„Offiziell sind wir hier, damit meine Eltern auf den Kongress gehen, und wir uns danach noch Unis anschauen können, aber eigentlich wollen sie nur den Deal einfädeln. Die Unis sind eigentlich nur ein Vorwand, damit ich nicht zu Hause bleibe und unser Haus mit wilden Partys zerstöre…“
Blake lacht. Er hat ein angenehmes, tiefes Lachen, ich mag seine Stimme irgendwie.
„Der Kongress dauert aber noch zwei Tage und dieser van Doyle hat ein Handy-Verbot erlassen, deshalb kann ich auch meine Eltern nicht anrufen.“ Als ich das ausspreche, trifft es mich plötzlich wie ein Schlag. Ich schaue Blake geschockt an. „Was, wenn van Doyle hinter dem Überfall und den Lösegeldforderungen steckt?“
Doch Blake winkt nur ab: „Das glaube ich nicht. Der Typ hat Milliarden. Ein paar Millionen Lösegeld wären für den doch nur Peanuts. Wieso sollte er dafür so einen Aufwand betreiben.“
„Stimmt, das wäre unlogisch“, erwidere ich, „Aber wer könnte es dann sein? Wer ist dieser Typ mit der verzerrten Stimme?“
„Ich habe keine Ahnung“, meint Blake.
„Ich wünschte wir hätten Bodyguards, dann wäre das Ganze nie passiert“, seufze ich.
„Habt ihr nicht?“, fragt Blake lachend.
„So reich sind wir jetzt auch wieder nicht“, entgegne ich und spüre mit einem Mal, wie müde auch ich geworden bin. Ich sitze zwar nicht gerade bequem angelehnt an ein Regal, und meine Glieder tun mir weh von all dem Rennen und dem Aufprall auf den Boden vorhin, aber in diesem Moment könnte ich überall schlafen – buchstäblich überall.
„Hast du dir vorhin eigentlich wehgetan, als ich dich umgerissen hab?“, fragt Blake genau in dem Augenblick.
„Geht schon“, erwidere ich. Nach einem Moment füge ich zögernd hinzu: „Danke.“
„Danke wofür?“, fragt Blake.
„Soll das ein Scherz sein?“, erwidere ich lächelnd, „Du hast mir heute ein paar Mal das Leben gerettet. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn du nicht gewesen wärst. Und…“ Ich zögere. „Und du machst mir noch nicht mal Vorwürfe, weil du wegen mir in diese Scheiß-Situation geraten bist. Ein anderer hätte mich vermutlich von Anfang an allein gelassen und nur sich selbst gerettet.“
„Aber ich kann dich doch nicht einfach so im Stich lassen“, erwidert Blake.
„Das wäre für viele nicht so selbstverständlich wie es für dich ist“, entgegne ich leise.
Blake lächelt schwach. „Mach dir deswegen keine Gedanken, wir schaffen das schon irgendwie zusammen.“
„Okay“, erwidere ich und spüre, wie die Müdigkeit mich endgültig zu übermannen droht. Wäre es wirklich gut, in einer solchen Situation einzuschlafen? Andererseits hat schon seit ein paar Minuten niemand mehr versucht, mich zu entführen. Wäre es so falsch, nur für einen Moment die Augen zu schließen? Nur ganz kurz? Ich versuche, mich an einen anderen Ort zu denken. Ich liege in meinem Himmelbett zu Hause, mit meiner kuschelweichen Decke in meinem nach frischer Wäsche duftenden Schlafanzug. Ich bin geschützt. Niemand kann mir etwas tun.
Doch bevor ich einschlafe, fällt mir doch noch etwas ein.
„Blake?“, frage ich, schon halb im Traum.
„Hm?“, erwidert er müde.
„Wie alt bist du eigentlich?“
Es dauert einen Moment lang, bis eine Antwort kommt. Dann sagt er leise: „Neunzehn. Und du?“
„Achtzehn“, erwidere ich.
„Wenigstens etwas, das passt“, ist das letzte, was ich höre, bevor ich in den Schlaf sinke. Oder habe ich mir das doch nur eingebildet?