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Kapitel 3
ОглавлениеCity of London, London. Dienstag, 20:41 Uhr.
„Und was jetzt?“, frage ich mit vor Angst schrill klingender Stimme.
„Wir müssen von hier verschwinden“, sagt Blake. Auch er klingt gehetzt. „Er hat seine Männer bestimmt schon her gelotst, während wir mit ihm telefoniert haben.“
„Warum musstest du auch rangehen?“, schreie ich und meine Stimme überschlägt sich beinahe, „Ich hab dir gesagt, dass du das lieber nicht tun solltest, aber du konntest ja nicht auf mich hören!“
„Ist das dein Ernst?“, erwidert er sofort und tritt aus der Telefonzelle, „Glaubst du etwa, wenn ich nicht abgenommen hätte, würden die Typen uns jetzt nicht verfolgen?“
Ich erwidere nichts. Ich kann nichts erwidern, weil mir Tränen übers Gesicht laufen. Stattdessen sehe ich Blake nur an, bemüht, irgendwie meine Fassung zu wahren.
Blake seufzt. Anscheinend versucht er ebenfalls vergeblich, sich irgendwie zu beruhigen.
„Tut mir leid, okay?“, sagt er dann, „Aber wir müssen hier schleunigst verschwinden. Also komm jetzt!“
Ich folge seiner Aufforderung, voller Angst, was uns jetzt wohl erwarten möge. Und erneut fliehen wir beide. Wie vorhin rennen wir auch jetzt, nur, dass unsere Verfolger uns dieses Mal nicht direkt auf den Fersen sind. Doch von einer unsichtbaren Gefahr umgeben zu sein fühlt sich auch nicht gerade besser an. Ich denke an meine Eltern, wie sie jetzt im Van Doyle-Tower sitzen, völlig ahnungslos, in was für einer Gefahr ich gerade schwebe. Und in was für einer Gefahr sie schweben.
Ich kann nicht aufhören zu weinen, zu schmerzhaft ist der Gedanke daran, was meinen Eltern droht, falls die Bombe tatsächlich hochgeht. Klar, wir waren nicht immer einer Meinung und haben uns auch manchmal gestritten, aber sie sind gute Eltern. Sie sind die besten Eltern, die ich mir vorstellen kann, haben mir erlaubt, jede Universität, auf die ich gehen möchte, zu wählen, und ich habe ihnen nie dafür gedankt. Es gibt so viele Dinge, die ich ihnen noch sagen möchte, so viele Fragen, die ich ihnen noch stellen will.
Langsam, jetzt nicht verzweifeln!, sage ich mir selbst im Geiste. Vielleicht schaffen wir es ja. Vielleicht können wir diesen Verbrechern entkommen und irgendwie einen Notruf abschicken. Es muss einfach irgendwie möglich sein. Ich kann meine Eltern doch nicht irgendeinem Irren überlassen! Aber wenn ich einen Notruf absende, und er bekommt das mit, dann sind meine Eltern zum Tode verurteilt. Ich weiß nicht mehr weiter, und mit jedem Schritt werde ich verzweifelter.
„Blake, meine Eltern… Was soll ich nur tun?“, stoße ich hervor, während ich mit brennender Lunge weitereile.
„Keine Angst“, erwidert er, „Diese Drecksäcke kriegen uns nicht. Und deinen Eltern passiert auch nichts. Er hat doch gesagt, dass er die Bombe nur zündet, wenn wir jemanden um Hilfe bitten.“
„Und wie sollen wir das ohne Hilfe bitte schaffen?“, entgegne ich wütend.
„Indem wir erst mal untertauchen“, erwidert er.
„Hast du Erfahrung mit so was?“, frage ich keuchend.
„Nein“, entgegnet er zögernd, „Aber auf der Straße habe ich gelernt, mich durchzuboxen. Vertrau mir einfach!“
Das ist leichter gesagt als getan. Ich habe diesen Typen vor gefühlten fünf Minuten zum ersten Mal getroffen, wie soll ich ihm da jetzt vertrauen? Andererseits: Habe ich überhaupt eine andere Wahl? Ich will wieder zurück in mein sicheres, wohlbehütetes Leben und ich will, dass meine Eltern in Sicherheit sind. Ich habe Angst. Schreckliche Angst. Und mit dieser Angst will ich nicht allein gelassen werden.
Eigentlich muss ich Blake dankbar sein. Er, ein armer Straßenjunge, wird in eine schreckliche Verfolgungsjagd mit reingezogen, und das alles nur wegen mir. Ein kranker Sadist jagt mich, um von meinen Eltern Lösegeld zu erpressen, und er ist unfreiwillig mit im Boot und macht mir noch nicht mal Vorwürfe. Wie kann das sein? Doch das kann ich ihn nicht fragen. Wenn ich ihn das frage, dann überlegt er es sich vielleicht doch anders und lässt mich allein zurück, um seinen eigenen Arsch zu retten. Würde er das tun? Er ist ein Fremder, ich kann ihn nicht einschätzen. Also schweige ich nur und renne weiter.
„Wir müssen schnell weg von hier“, unterbricht Blake meine Gedanken, „Und da vorn ist unser Ausweg.“
Er deutet mit dem Kinn auf irgendetwas, doch ich erkenne nicht, worauf. Mit meinem Blick suche ich die vor uns liegende Straße ab und stoße schließlich auf ein rotes, kreisförmiges Schild, auf dem in einem blauen Rechteck das Wort ‚Underground‘ prangt.
„Was ist das?“, frage ich, „Die U-Bahn?“
Blake nickt nur. Ich habe schon viel über die U-Bahn von London gehört, aber natürlich bin ich noch nie damit gefahren. Ich weiß nur, dass es die älteste U-Bahn der Welt ist und zudem die größte Netzlänge Europas besitzt – Dinge, die man bei Wikipedia nachliest, wenn man sich auf seinen Urlaub vorbereitet, so wie ich vor ein paar Tagen.
‚Monument Station‘ steht auf einem blauen Schild über dem Eingang. Mit Monument ist wohl die Säule gemeint, die ich in einigen Metern Entfernung sehen kann. Auf ihrer Spitze befindet sich irgendwas Goldenes, das ich von hier aus nicht erkennen kann, und sie erinnert mich ein wenig an die Siegessäule in Berlin, auf der ich vor ein paar Jahren mit meinen Eltern gewesen bin. Ich schlucke die schmerzhaft schöne Erinnerung an unseren Urlaub damals herunter und konzentriere mich auf das Hier und Jetzt, wie schwer mir das im Moment auch fallen mag.
Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie U-Bahn gefahren. Meine Eltern haben immer Taxis bevorzugt – sauberer, abrufbar und ohne Kriminalität. Und ich bin ihrem Beispiel gefolgt, zumindest bis jetzt. Irgendwie bin ich gespannt auf die unter der Erde fahrenden Züge, die ich nur von Videos und Bildern kenne.
Ich folge Blake, als er die Treppe nach unten eilt. Zwei Männer kommen uns entgegen und ich erschrecke für einen kurzen Moment, bevor ich erkenne, dass es ganz normale Passanten sind, die nicht zu der Gruppe gehören, die uns vorhin verfolgt hat. Wenn das so weitergeht, bekomme ich heute noch einen Herzinfarkt… Eine weitere Treppe folgt und ich frage mich unwillkürlich, wie weit unter der Erde die Züge wohl fahren. Ich leide unter einer leichten Platzangst und will es eigentlich lieber nicht wissen. Blakes und meine Schritte hallen von den schmutzigweißen Fliesen an Wänden und Boden wider. Und erneut erblicke ich niemanden außer uns. Das kann doch nicht wahr sein! London ist wie ausgestorben um diese Uhrzeit, in diesem Stadtteil. Aber vielleicht ist es auch besser so. Ich möchte niemanden gefährden, will nicht, dass ich noch jemanden mit in mein Unglück ziehe.
Ich will zu der Metallschranke rennen, doch Blake läuft in eine andere Richtung.
„Was machst du?“, frage ich und folge ihm.
„Wir müssen uns erst Tickets kaufen“, erwidert er und hält vor einem etwas in die Jahre gekommenen Automaten an.
„Kann man das nicht einfach so bezahlen?“, frage ich nach Luft ringend, während er seinen Rucksack abzieht und hektisch einen Geldbeutel hervorkramt.
„Das ist kein Taxi, Süße“, erwidert er.
Süße? Was bildet er sich überhaupt ein? So hat mich bisher nur Ricky genannt und selbst bei dem habe ich das gehasst. Doch ich bin zu fertig, um ihm eine Antwort zu geben. Stattdessen beobachte ich nur, wie Blake blitzschnell durch das Menü navigiert, irgendeinen Pfundschein in den Automaten steckt und schließlich sein Wechselgeld, sowie zwei Tickets aus dem kleinen Fach auf Kniehöhe nimmt. Er steckt das Geld in seine Hosentasche und gibt mir eine der beiden Karten. Dann eilen wir beide zu den Schranken.
„Schieb sie in den kleinen Schlitz da“, sagt Blake und deutet auf die Vertiefung im Metall, die sich vor der Schranke befindet.
Ich tue, was er gesagt hat, und die Schranke öffnet sich wie von Zauberhand. Schnell trete ich hindurch.
„Ticket nicht vergessen!“, sagt Blake und ich sehe, dass der Automat mein Ticket auf der anderen Seite wieder ausgespuckt hat. Schnell ergreife ich es, stecke es in meine Hosentasche und folge Blake. Dieser hat sich nach rechts gewandt, zu einem Gang, über dem in dunklen Buchstaben ‚Northern Line‘ steht und hinter dem sich eine weitere Treppe verbirgt.
Ich seufze und renne trotz Seitenstechens hinter Blake her. Dieser legt ein erstaunliches Tempo vor. Dafür, dass er schon zwei Sprints heute Abend hinter sich hat, ist er noch überraschend fit – im Gegensatz zu mir. Ich werde immer langsamer und falle hinter ihm zurück. Mittlerweile habe ich kaum noch Kraft. Doch dann taucht wie durch ein Wunder endlich der erlösende Tunnel vor mir auf. Ich bin überrascht, wie hell es hier unten ist, wo wir uns doch so tief unter der Erde befinden.
Blake wartet bereits auf mich. Ungeduldig ergreift er mein Handgelenk und zieht mich auf eine der beiden Plattformen, die sich hier unten befinden.
„Der Zug müsste gleich ankommen“, sagt er und kaum hat er diese Worte ausgesprochen, taucht die Bahn auch schon auf.
‚Northern Line via Clapham North‘ steht auf dem Bildschirm, der sich an der Seite des Zuges befindet. Kaum haben sich die Türen geöffnet, steigen Blake und ich ein. Erschöpft lasse ich mich auf einen freien Platz fallen, Blake setzt sich neben mich. Jetzt sehe ich auch ihm die Erschöpfung an. Er ist genauso fertig wie ich, nur kann er es besser überspielen.
„Wohin fahren wir?“, frage ich.
Blake zuckt kraftlos mit den Schultern. „So weit wie möglich weg von hier.“
Ich atme aus. Anscheinend sind wir der Gefahr entgangen. Vielleicht wird jetzt alles besser. Wir können aus London raus, irgendwo aufs Land fahren und dort von irgendeinem Kaff aus Hilfe holen. Niemand wird gefährdet, weil niemand weiß, wo wir sind.
Endlich sind wir nicht mehr die einzigen Menschen weit und breit: Gegenüber von mir sitzt eine junge Frau, die ganz in ihr Buch vertieft zu sein scheint und etwas weiter rechts sitzen noch ein schmusendes Pärchen, das in unserem Alter sein dürfte und eine junge Mutter mit einem Kinderwagen.
„Hier, du hast bestimmt Durst von der ganzen Rennerei“, meint Blake und gibt mir eine halb volle Flasche Wasser aus seinem Rucksack.
Dankbar nehme ich die Flasche und trinke einen kräftigen Schluck von dem Wasser. Danach gebe ich sie Blake zurück und er leert sie mit einem einzigen Zug.
Ich lehne mich zurück und will mich gerade etwas entspannen, als mir plötzlich etwas ins Auge fällt. Mein Blick wandert noch weiter nach rechts.
Nein. Das kann nicht wahr sein. Das darf einfach nicht wahr sein!
„Blake!“, stoße ich leise hervor, meine panische Stimme ist kaum mehr als ein Wimmern.
Alarmiert folgt er meinem Blick und sieht das Gleiche, was auch mich in solchen Aufruhr versetzt: Einer der Männer, die uns verfolgt haben, steht einige Meter von uns entfernt, doch mit langsamen Schritten nähert er sich dem Waggon, in dem wir sitzen. Er hat seine Waffe abgenommen und scheint auch ansonsten darauf Wert zu legen, keine Unruhe bei den anderen Fahrgästen zu verursachen. Er scheint uns noch nicht gesehen zu haben.
„Wie hat der uns hier gefunden?“, flüstere ich in Blakes Ohr.
„Ich habe keine Ahnung“, murmelt er ungläubig und starrt geschockt in die Richtung des Mannes. „Schnell, geh zum Fahrer und sag ihm, dass wir bedroht werden!“, meint er plötzlich.
Ohne länger nachzudenken, folge ich seiner Anweisung, springe auf und eile die paar Meter zur Fahrerkabine. Ich klopfe an das Glas und versuche so, die Aufmerksamkeit des Fahrers auf mich zu ziehen. Doch als ich einen Blick in das Fahrerhaus werfe, halte ich schockiert inne. Da drinnen sitzt überhaupt kein Fahrer! Die Bahn wird automatisch gesteuert!
Ich drehe mich zu Blake um und die Panik in meinem Blick verrät ihm, dass wir geliefert sind. Er flucht, und dann geht alles ganz schnell: Blake springt auf, kommt zu mir gerannt und zieht plötzlich an der Notbremse, die direkt neben der Tür angebracht ist.
Mit einem lauten Quietschen von Metall auf Metall bleibt der Zug stehen und ich falle von der Wucht der Vollbremsung gegen die Glaswand zum Fahrerhäuschen. Die Menschen stoßen erschrockene Laute hervor und schauen überrascht zu uns. Der Mann hat uns jetzt ebenfalls entdeckt. Er steht bereits in der Mitte des Waggons, der sich hinter unserem befindet und nun fällt sein alarmierter Blick direkt auf uns. Ich schaue zu Blake und sehe geschockt, dass dieser gerade dabei ist, die Türen auseinanderzuziehen – und eine Sekunde später Erfolg hat.
„Schnell, komm!“, sagt er und hält die Tür zur Seite, während ich aus der Bahn springe. Dann tut er es mir gleich und die Tür fällt hinter uns wieder zu.
Wir rennen in den Tunnel hinein, auf den Schienen, und ich habe Todesangst. Was, wenn der Zug plötzlich weiterfährt und uns überrollt? Oder wenn auf der gegenüberliegenden Spur plötzlich ein Zug angerauscht kommt und der heftige Windstoß uns mit sich reißt?
Ich bete dafür, dass der Mann dieses Mal nicht auf uns schießen wird, denn wenn eine der Kugeln das uralte Steingewölbe trifft, könnte der Tunnel vielleicht einstürzen und uns einschließen, oder noch schlimmer: uns unter jahrhundertealtem Geröll begraben.
Zum dritten Mal heute Abend bin ich auf der Flucht und zum dritten Mal spüre ich mein Herz heftig gegen meine Rippen hämmern. Ich bilde mir ein, mit jedem Mal panischer zu werden, falls das überhaupt noch möglich ist. Wer weiß, vielleicht ist das alles ja nur ein endlos langer Albtraum, aus dem ich gleich erwachen werde. Ich werde in dem Bett in der Suite liegen, oder sogar noch besser: in meinem Himmelbett in unserer Villa zu Hause in Milwaukee. Doch ich weiß, dass das nicht passieren wird. Ich bin immer noch hier, in dieser schier endlosen Verfolgungsjagd gefangen, meine Eltern sind nicht in Sicherheit und ich höre nun auch die schnellen Schritte unseres Verfolgers, der mit jeder Sekunde näher zu kommen scheint.
Warum ich? Womit habe ich es verdient, hier unten, in den Tunneln der Londoner U-Bahn gekidnappt und vielleicht auch noch angeschossen zu werden?
Die Tunnel teilen sich jetzt und Blake deutet auf den rechten. Natürlich, im linken könnte uns ja jede Sekunde eine Bahn entgegenkommen… Das Licht der Scheinwerfer des Zuges dringt nicht mehr bis in den Tunnel und so finden wir uns plötzlich in völliger Dunkelheit wieder. Ich kann absolut nichts sehen und wünschte, ich hätte mein Handy hier. Ich habe mich noch nie in meinem Leben in einer solchen Dunkelheit befunden, nicht in der tiefsten und schwärzesten Nacht. Mit zögernden Schritten versuche ich, nicht über die Bahngleise zu stolpern. Ich werde vorsichtiger und dadurch auch langsamer. Dann sehe ich plötzlich ein schwaches blaues Licht vor mir, und im nächsten Moment ergreift Blake meine Hand.
„Ich hab mir die letzten fünfzehn Prozent Akku für einen Notfall aufgespart. Das ist jetzt wohl einer…“, meint er und leuchtet mit seinem Handy auf den Boden. Wir werden wieder schneller, jetzt, wo wir zumindest die schemenhaften Umrisse der Schienen erkennen können. Ich will gar nicht wissen, was sich jetzt alles über mir befindet – und was alles hier unten ist. Spinnen, Ratten, Fledermäuse… Meine Lunge zieht sich zusammen und plötzlich fällt es mir schwer, normal weiter zu atmen.
„Was ist denn?“, fragt Blake neben mir, dem das ebenfalls auffällt.
„Ich hab Platzangst!“, stoße ich wimmernd hervor und bleibe stehen. Ich kann nicht mehr weiter. Noch tiefer in diesen Tunnel, in diese unendliche Dunkelheit hinein – das ist einfach unmöglich.
„Auch das noch…“, murmelt Blake und im nächsten Moment spüre ich, wie er seine Hand auf meine Schulter legt. Ich sehe die Umrisse seines Gesichts vor mir. Seine Augen glänzen leicht. Sie wirken nun ganz dunkel.
„Ich versuche ja schon, uns so schnell wie möglich hier raus zu bringen“, sagt er, während seine schweren Atemzüge seine Anstrengung verraten, „Aber bitte, wir müssen weiter. Dieser Irre verfolgt uns und wenn wir hier bleiben, haben wir verloren. Ich verstehe ja, dass du Angst hast, aber ich bin bei dir. Du bist nicht allein und zu zweit schaffen wir das, okay?“
Ich nicke und versuche, den fetten Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, was mir nicht gelingt. Also kralle ich mich an Blakes Hand, während wir weitereilen. Von irgendwoher kann ich ein Tropfen hören. Wer sagt eigentlich, dass diese Tunnel hier wasserdicht sind?
Nicht drüber nachdenken!, ermahne ich mich und setze weiter tapfer einen Fuß vor den anderen. Ich schaue die Höhlenwände schon gar nicht mehr an, sondern achte nur noch auf die Schienen. Hätte nie gedacht, dass der Anblick von Zuggleisen mal beruhigend auf mich wirken würde… Hinter uns werden die Schritte lauter und ich zwinge mich, ebenfalls schneller zu gehen, während ich in geduckter Haltung auf den Boden starre.
„Na also, wer sagt’s denn“, murmelt Blake plötzlich. Ich blicke geradeaus und sehe nun ebenfalls unsere Rettung: Ein paar Meter weiter schimmert auf der rechten Seite ein schwach beleuchtetes grünes Notausgang-Schild.
Ich atme aus und fühle, wie die Last von einem kompletten Felsenriff von mir abfällt. Doch dann höre ich wieder die Schritte und ermahne mich selbst, mich nicht zu früh zu freuen. Blake und ich rennen die letzten paar Meter zu dem Schild, ohne weiter auf den Boden zu achten. In einer Vertiefung im Fels befindet sich tatsächlich eine Tür, die in die Freiheit führt. Innerlich danke ich Gott dafür, dass er uns aus dieser Gefahr erlöst. Dann will ich die Tür öffnen, doch Blake hält mich auf.
„Warte!“, sagt er und deutet auf den Boden vor der Tür, wo mehrere große Steine liegen, die sich wohl irgendwann mal von der Wand gelöst haben.
„Was denn? Sollen wir die erst noch aus dem Weg räumen oder was?“, frage ich gestresst.
Doch Blake schüttelt nur den Kopf, greift sich den größten und wiegt ihn kurz in der Hand.
„Blake, was soll das?“, frage ich wütend, doch Blake unterbricht mich mit einem energischen „Sch!“, schiebt mich in die Vertiefung des Türrahmens, und stellt sich neben mich.
„Hey!“, flüstere ich zurück.
„Kannst du nicht einmal die Klappe halten, wenn man es dir sagt?“, entgegnet Blake.
Entsetzt atme ich scharf die kühle Höhlenluft ein. Ich will gerade zu einer Antwort ansetzen, als plötzlich der Mann direkt vor uns auftaucht. Erschrocken sieht er uns an und will zu einem Angriff ansetzen, doch Blake ist schneller: Mit einer blitzschnellen Bewegung schlägt er dem Mann den Stein gegen die Schläfe. Dessen Blick zuckt noch einmal geschockt auf, bevor er zu Boden fällt und reglos liegen bleibt. Ich stoße einen erstickten Schrei aus.
„Oh mein Gott! Ist er etwa tot?“
„Glaube ich nicht“, erwidert Blake, „Schnell, jetzt müssen wir aber wirklich hier raus!“
Ich reiße mich vom Anblick des am Boden liegenden Mannes los und öffne dann endlich die Tür. Diese führt zu einer Treppe, welche sich in einer Spirale immer weiter nach oben schraubt.
„Blake, das… das war… Ich kann nicht fassen, dass du das getan hast.“ Mehr als diesen Satz bringe ich in dem Moment nicht zustande.
„Ich auch nicht“, erwidert er schwer atmend. Der Schock scheint ihm mindestens ebenso zuzusetzen wie mir – wenn nicht sogar mehr.
Ich habe mittlerweile kaum mehr die Kraft, mich weiter auf den Beinen zu halten, und ziehe mich Schritt für Schritt am Geländer nach oben. Ich hoffe, dass wir oben ankommen, bevor meine Beine nicht mehr mitspielen.
Blake und ich sprechen nicht mehr. Stattdessen konzentrieren wir uns beide darauf, so schnell wie möglich hier raus zu kommen. In kurzen Abständen beleuchten in die Wand eingelassene Lampen die Wendeltreppe, ihr kaltes Licht fällt auf die abgenutzten Metallstufen. Die Treppe scheint sich endlos weit nach oben zu schrauben, und ich versuche, mich von der Anstrengung, die mich beinahe in die Knie zwingt, abzulenken. Ich denke an zu Hause, an unsere Villa, unseren wunderschönen Garten – an alles, wonach ich mich gerade sehne. Wie gerne würde ich jetzt an unserem Pool liegen, ein Getränk in der Hand und eine Sonnenbrille auf der Nase. Stattdessen bin ich hier – verschwitzt, verängstigt und kurz vorm Zusammenbrechen.
„Endlich!“, sagt Blake plötzlich und einen Moment später sehe ich auch, was er meint: Vor uns taucht endlich eine Stahltür auf.
„Oh, bitte sei nicht verschlossen!“, murmele ich, während Blake die Klinke nach unten drückt und sich mit seinem gesamten Gewicht gegen die Tür lehnt.
Und wir haben tatsächlich einmal Glück: Die Tür öffnet sich sofort.
„Yes!“, sagt Blake und auch ich stoße einen kurzen Jubel hervor.
Wir treten aus der Dunkelheit und schließen die Tür hinter uns. Dann fallen wir uns spontan in die Arme. Blake ist ebenfalls nass geschwitzt und der Geruch seines Deos steigt mir in die Nase, als ich mich für einen Moment an seine Brust klammere. Es ist kein unangenehmer Duft, eher dezent, man merkt es kaum. Ich dachte immer, Obdachlose würden… nun ja, nicht so angenehm riechen?
„Das war echt krass“, keuche ich, während ich mich vorsichtig von Blake löse und versuche, nicht zusammenzubrechen. Meine Knie sind mittlerweile zu Pudding geworden und ich habe kaum noch die Energie, mich aufrecht zu halten.
„Das kannst du laut sagen“, erwidert Blake schwer atmend, „Komm, lass uns verschwinden.“
Erst jetzt sehe ich, wo wir hier überhaupt gelandet sind: Es ist eine weitere U-Bahn-Station und wir stehen genau an ihrem Ausgang, wo gerade einige Menschen unterwegs sind. Endlich! Je mehr Menschen, desto sicherer sind wir.
Wir gehen nun ebenfalls nach draußen und ich traue meinen Augen kaum, als ich es erblicke: The Shard, das höchste Hochhaus in London, in dem sich auch unser Hotel befindet! Ich stoße einen Jubelschrei aus. Ein paar Passanten blicken sich nach uns um, aber das ist mir jetzt völlig egal.
„Was ist denn?“, fragt Blake überrascht.
„Da vorne ist unser Hotel!“, erwidere ich freudestrahlend.
„Was? Wo?“
„Na, da vorne, in The Shard!“
„Was? Meinst du etwa das Shangri La?“
„Ja!“, entgegne ich nun etwas ungeduldig.
„Hast du eine Ahnung, wie teuer es dort ist? Von dem Geld, das man dort für eine Nacht bezahlt, könnte man sich einen Kleinwagen kaufen!“
„Das ist doch jetzt egal!“ Meine Geduld hat nun endgültig ihre Grenze erreicht. „Na los, komm mit! In unserer Suite sind wir sicher!“
Ich laufe los und Blake folgt mir seufzend. Ich kann meine Freude und Erleichterung kaum verbergen, schwinge ausgelassen die Arme, während wir die Straße überqueren, und strahle übers ganze Gesicht. Nur noch wenige Meter trennen mich vom Hotel. Ich sehe mich schon ein Bad nehmen in der Wanne, die direkt am Panoramafenster steht, die Minibar plündern, in meinem kuschelig weichen Bett schlafen…
Plötzlich ertönt ein lauter Knall und vereinzelt schreien Menschen auf. Ehe ich reagieren kann, umschlingen mich Blakes Arme und er reißt mich zu Boden. Ich schreie nun ebenfalls auf, und sehe, wie in wenigen Metern Entfernung Teile eines explodierenden Mülleimers zu Boden fallen. Das Metall ist innerhalb eines kurzen Augenblicks vollkommen zerfetzt worden, die Reste des Mülleimers stehen in Flammen und die Trümmerteile sind mehrere Meter weit geflogen. Uns beide hat zum Glück keines erwischt, doch ein paar Meter weiter hält eine Frau sich die blutende Schläfe. Ein Mann kniet neben ihr und redet nervös auf sie ein. Immer mehr Menschen laufen zu den beiden und eine Frau ruft: „Schnell, wir brauchen einen Krankenwagen!“
Ich zittere am ganzen Körper und mir ist plötzlich eiskalt.
Ist das etwa unsere Schuld gewesen?, frage ich mich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem gesamten Körper aus und erneut bin ich vor Schock wie gelähmt.
Mein Blick wandert von der Menschentraube, die sich um die verletzte Frau gebildet hat, zu dem brennenden Mülleimer. Die Flammen lodern weiter und in ihnen glaube ich, unser Spiegelbild zu erkennen.