Читать книгу Die Witwe des Millionärs - Laura Lippman - Страница 4
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ОглавлениеVom Himmel fiel nichts Nasses. Kein Schnee, kein Eis, kein Hagel; kein Regen, der sich in Graupel verwandelte, kein Schauer, der zu Dauerregen wurde. Das allein war Grund genug, befand Tess Monaghan, zu feiern. Sie würde zu Fuß nach Hause gehen, statt wie sonst den Bus zu nehmen, vielleicht würde sie einen Zwischenstopp bei Bertha’s einlegen und die Nase über die muschelessenden Touristen rümpfen, oder sie könnte sich etwas Warmes, Alkoholhaltiges im Henniger’s gönnen. Ein Montagabend im März in Baltimore würde niemals Mardi Gras sein, nicht einmal Lundi Gras, aber es war nett, wenn man sich die Mühe machte, darauf zu achten. Und das tat Tess. Zum ersten Mal seit über zwei Jahren hatte sie einen Vollzeitjob und einen Vollzeitfreund. Ihr Leben lief vielleicht nicht wie eine dieser Ganztagspartys in der Bierwerbung, aber immerhin war es langsam so angenehm wie in einem Werbespot für International Coffee.
Die ersten paar Blocks ihres Heimwegs war sie allein. Die Innenstadt wurde früh leer. Aber als Tess sich dem Inner Harbor näherte, war sie plötzlich von einer aufgeregten fröhlichen Menschenmenge umgeben. Tess war vielleicht keine Zeitungsreporterin mehr, aber ihre Instinkte funktionierten noch. Außerdem roch sie etwas zu essen: Hotdogs, Popcorn, Brezeln, irgendetwas leicht süßlich Angebranntes. Vielleicht Zuckerwatte – eine dieser verführerischen Sachen, die viel besser dufteten, als sie schmeckten.
»Kostet heute alles nichts, Schätzchen«, sagte ein Hotdog-Verkäufer und drückte ihr eines seiner Kunstwerke in die Hand. »Auf Kosten der Keys.« Tess hatte keine Ahnung, wovon er redete, nahm den Hotdog aber trotzdem.
Was würde an einem normalerweise gottverlassenen Montagabend so viele Leute hier in den Hafen locken, fragte sie sich und verschlang den Gratis-Heißhund mit drei Bissen. Geschäftsleute, die von der Arbeit kamen, junge Männer in Sportsachen und aufgedonnerte Frauen in Gabardine-Regenmänteln, deren hohe Absätze über einen Bürgersteig klickten, der gerade erst vom letzten Schneesturm freigeschmolzen war. Dann waren da noch die Vorstadtmuttis in Leggings, riesigen Pullovern und Daunenjacken, die sich fest an die Händchen von kleinen Kindern klammerten, die ihrerseits noch fester kleine schwarz-violette Fähnchen umklammerten.
Angezogen von der Menge und der begeisterten Vorfreude, landete Tess an dem kleinen Amphitheater zwischen den beiden Pavillons im Hafen. Hunderte von Leuten drängten sich bereits vor der kleinen Bühne. Ein Mann mit einem Megaphon, der Moderator des städtischen Fernsehsenders, feuerte die Menge an. Tess brauchte einen Moment, um die verzerrten, elektronisch verstärkten Worte zu verstehen.
»Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one!«
Dann kamen noch ein paar Männer auf die Bühne, eine Möchtegern-Basketballmannschaft in schwarz-violettem Aufwärm-Outfit. Ein paar Kerle trugen sogar Shorts, und ihre Beine überzog in der kalten Abendluft eine lila Gänsehaut. Wer war wohl verrückt genug, in einer solchen Nacht so aufzutreten? Tess erkannte den Gouverneur. Das passte; dem hatte bisher noch jedes Kostüm gefallen. Aber auch der Bürgermeister, der nicht gerade für seine Originalität berühmt war, stand da in einem schwarzen Trainingsanzug; sein üblicher Kente-Schlips ragte gerade noch über dem Reißverschluss heraus. Tess entdeckte noch einen Fernsehtypen, zwei Senatoren und ein paar arme Säcke der ehemaligen Baltimore Bullets, die inzwischen Washington Wizards hießen, wegen der zahlreichen Morde in der Stadt. Erstaunlicherweise hatte der Namenswechsel nicht dazu beigetragen, die Zahl der Gewaltverbrechen zu reduzieren.
»Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one!«
Über das Grölen der Menge hinweg konnte Tess blecherne Musik hören, ein alter Jingle der Stadt, mit dem man die Leute dazu hatte bringen wollen, die Straßen sauber zu halten, indem die Bürger »Müllball« spielten. Sie konnte sich noch ungefähr daran erinnern. Die orange-weißen Mülleimer der Stadt waren mit Slogans wie Jam One! oder Dunk One! beklebt worden. Dann hatten sie die Kampagne beendet, und Baltimorabilia-Sammler hatten alle Mülleimer gestohlen, bevor man sie hatte umstreichen können.
Nun hinkte noch ein Mann auf die Bühne, ein alternder Sportler, dessen Stock seinem scheußlichen Trainingsanzug einen eigenartig aristokratischen Touch verlieh. »Tuuuuutch, Tuuuuutch«, johlten die Männer, und ein paar Frauen kreischten tatsächlich, als er die Menge mit einem hochgereckten Daumen begrüßte. Ja, Paul Tucci sah immer noch gut aus und verfügte über den Körperbau des erstklassigen Sportlers, der er einst gewesen war, obwohl er nach der Knieoperation im Winter deutlich zugelegt hatte. Tess vermutete, dass die Frauen sich nicht so sehr für Tuccis Körper, sondern vor allem für Tuccis Geld interessierten. Er hatte mit Olivenöl angefangen und sich dann über praktisch jeden Aspekt des Lebens in Baltimore hergemacht, vom Import bis zur Müllverbrennung. »Die Tuccis spinnen Stroh zu Gold«, sagte man.
Über die Lautsprecher wurde nun ein fröhliches »Sweet Georgia Brown« ausgestrahlt, das man mit den Harlem Globetrotters in Verbindung brachte. Der Gouverneur, der ungeschickt mit einem Basketball dribbelte, löste sich aus der Gruppe, trat vor und spielte dann dem Bürgermeister den Ball zu, allerdings warf er ihn über seinen Kollegen hinweg. Die beiden hatten noch nie gut zusammengearbeitet. Der Bürgermeister rettete die Situation einigermaßen, holte den Ball wieder und spielte ihn durch die Beine hindurch einem Senator mit einem recht neuen, recht schlechten Haartransplantat zu. Die Menge johlte begeistert. Tess fragte sich, warum um Himmels willen. Schließlich fing Tucci den Ball und ließ ihn auf der Spitze seines Krückstocks kreisen, was noch ein paar Frauen mehr kreischen ließ. Dann übernahmen die echten Basketballspieler die Bühne, sie führten ein paar ordentliche Pässe und Moves vor.
Ein paar Minuten später trat der Fernsehmoderator ans Mikrophon. Zumindest ist er nicht blöd genug, mit nackten Beinen auf die Bühne zu kommen, fiel Tess auf.
»Haaaaallllllllloooooooooo, Baltimore.« Die Menge jubelte. »Wie ihr wisst, gibt es seit 1972 in dieser Stadt kein Basketball mehr, und erst vor Kurzem ist Football in unsere Stadt zurückgekehrt, obwohl die National Football League zuerst zögerlich war …«
»Nieder mit dem Commissioner!«, schrie ein durchgedrehter Fan direkt in Tess’ rechtes Ohr. »Nieder mit Tagliabue! Der verdammte Bob Irsay! Zur Hölle mit der verrottenden Leiche von Bob Irsay!« Irsay hatte die Baltimore Colts 1984 in einer Winternacht einfach weggeholt, und obwohl die Stadt mittlerweile eine neue Football-Mannschaft hatte und Irsay tot war, hasste man ihn immer noch. Baltimore vergaß vielleicht manchmal, aber vergab nie.
Der Fernsehmoderator sprach ungerührt weiter. »Aber ein Mann hat nie aufgegeben. Und jetzt wird dieser Mann den Basketball wieder zurück nach Baltimore holen. In wenigen Tagen will er einen Vorvertrag mit einer Profimannschaft abschließen, die in unsere ›Charm City‹ umziehen möchte. Im Gegenzug hat die Stadt sich bereit erklärt, ein wunderschönes neues Stadion zu bauen. Und alle Basketballfans sind heute hier angetreten, um der NBA zu zeigen, dass wir sehr wohl eine Mannschaft supporten können. Ja, das nenne ich Teamwork!«
Und eine großartige Verschwendung von Steuergeldern, dachte Tess verärgert. Aber der Staat hatte dasselbe ja schon für die Orioles und die Ravens getan. Wenn jemals eine Stadt ein Selbsthilfebuch brauchte, dann Baltimore: Städte, die zu sehr in den Sport verliebt sind, und die gierigen Mannschaften, die das ausnutzen.
»Also begrüßt bitte den Mannschaftskapitän, den Mann, der uns so weit gebracht hat, denjenigen, der allen ins Gesicht lachte, die ihm sagten, daraus würde nichts – unseren großartigen Gerard ›Wink‹ Wynkowski.«
Ein schlanker, nicht besonders großer Mann kam auf die Bühne. Er trug keinen Trainingsanzug, sondern ein lila Polohemd, eine schwarze Jeans und eine schwarze Motorradjacke. Grau-weiße Cowboystiefel aus irgendeinem exotischen, politisch sicher zweifelhaften Leder – vielleicht Strauß oder Schlange – ließen ihn ein paar Zentimeter größer werden, sodass er neben dem Gouverneur und dem Bürgermeister bestehen konnte. Aber er hielt sich fern von den Ex-Sportlern, die ihn meilenweit überragten.
»Seid ihr bereit für ein bisschen Basketball?«, knurrte er mit unverkennbarem Baltimore-Akzent.
Sein Gesicht war eckig und spitz, tief gebräunt, und seine braunen Locken trug er in einer Art Afro. Tess erinnerte sich, dass eine Karikatur dieses spitzen Gesichtes und wilden Haares das Logo für eine seiner Firmen gewesen war, aber welche? Im letzten Jahrzehnt hatte Winks Holding Montrose Enterprises mindestens ein halbes Dutzend Geschäfte gegründet, jedes erfolgreicher als das zuvor.
»Wink! Wink! Wink! Wink!«, bejubelte die Menge ihren Sportheiligen, genauso wie sie ihn vor 25 Jahren auf dem Basketballfeld der Highschool angefeuert hatten, als die Vorstellung, dass ein ein Meter achtzig großer Junge aus Polen Profi werden würde, nicht ganz so lächerlich gewesen war.
»Ihr seid die Größten«, verkündete er der Menge. »Ihr seid an diesem Abend hergekommen, obwohl ihr nicht mal wisst, mit welcher Mannschaft ich verhandle. Stellt euch mal vor, wie viele Leute in einer Woche hier sein werden, wenn ich offiziell unsere neue Mannschaft bekannt gebe – die Baltimore Keys.«
Die Menge grölte begeistert zurück: »Jam one! Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one! Slam dunk!«
Tess drängte sich durch die Menge nach vorne. Neugierig wollte sie einen besseren Blick auf diesen Lokalmatador erhaschen. Winks Lebensgeschichte könnte aus einem alten Dreißiger-Jahre-Spielfilm stammen: Er war ein vaterloser Kleingauner, der es tatsächlich zu etwas gebracht hatte, nachdem er als Jugendlicher für ein paar Kleindelikte in der Jugenderziehungsanstalt Montrose gelandet war. Sie hatte gewusst, dass er reich war, aber ihr war nicht klar gewesen, dass seine Restaurants und Fitnessclubs ihm genug Geld eingebracht hatten, um sich eine Basketballmannschaft kaufen zu können.
Als die Menschenmenge vor ihr zu dicht wurde, bog sie nach links ab und ging im Zickzack, bis sie an der Seite vorbei ganz nach vorne gelangte. Aus der Nähe waren Winks blaue Augen nicht die fröhlichen, tanzenden Lichter, die sie über so einem breiten Grinsen erwartet hätte. Sie ruhten groß und tief in seinem kleinen Gesicht, nahmen alles in sich auf und gaben nichts zurück.
Plötzlich schubste jemand Tess brutal von hinten, und zwar mit einer Selbstgerechtigkeit, wie sie nur Päpste, Könige und Kameramänner an den Tag legten. Da der Papst in der nächsten Zeit nicht erwartet wurde und Wallis Warfield Simpson Baltimores einziger Thronanwärter in diesem Jahrhundert gewesen war, wusste Tess schon im Voraus, dass sie in die Linse eines Kameramannes schauen würde, wenn sie sich umdrehte. Sie stand mitten im Pressebereich, wo die Fernsehreporter den ganzen Quatsch für die Elf-Uhr-Nachrichten aufnahmen.
»Du bist im Bild«, zischte der Kameramann sie an.
»Wie ungeschickt von mir.« Sie rührte sich nicht – jedenfalls nicht gleich.
In der Nähe standen zwei Zeitungsreporter, ein Mann und eine Frau, mit ihren Notizblöcken. Die Frau kritzelte wie wild in ihren, während der Mann Wink einfach nur anstarrte, als könnte er nicht glauben, was er sah. Einen Augenblick lang hatte Tess das Gefühl, sie sollte eine von ihnen sein, auch sie sollte einen Notizblock bei sich tragen. Dann erkannte sie den Mann – nicht an seinem Gesicht, das von ihr abgewandt war, sondern an seinen Knöcheln, die stets nackt waren, selbst an so einem Abend.
»Feeney!«, rief sie. Er schaute müde unter dem Schirm seiner wollenen Baseballkappe auf, lächelte dann aber, als er sah, wer seinen Namen gerufen hatte.
»Tess, meine Liebe!«, rief Kevin Feeney zurück und winkte ihr zu. »Komm hier rüber. Wir suchen bloß ein bisschen Stimmung.«
Die junge Frau neben ihm bedachte Tess mit einem schnellen tödlichen Blick. Tess konnte praktisch hören, wie sie insgeheim Punkte verteilte, wie es manche Frauen nun einmal taten: Größer – ein Punkt für sie. Hippie – ein Punkt gegen sie. Große Brüste, lange Haare – 2 Punkte für sie. Unfrisur, nur ein Pferdeschwanz – 2 Punkte gegen sie. Älter als ich – 3 Punkte gegen sie. Gesicht okay. Klamotten weder schick noch peinlich. Tess war nicht sicher, wie sie am Ende abschnitt, aber offensichtlich ein bisschen zu gut. Die Frau bedachte sie mit einem erschreckend falschen Lächeln, das zugleich darauf hindeutete, dass sie wenig Erfahrung mit echtem Lächeln hatte, und streckte die Hand aus.
»Rosita Ruiz.« Autsch. Die R’s rollten von ihrer Zunge wie Kugellager, und das T war eine akustische Machete. Rosita packte Tess’ Hand und zwickte sie zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein Krebs. Tess, die oft mit einem alten Tennisball Kraftübungen machte, während sie telefonierte, genoss es, Rositas Hand zu drücken und zugleich ihre eigene Inventur vorzunehmen.
Klein, aber Tess kamen die meisten Frauen klein vor. Sie sah aus wie eine Turnerin – schlanker Oberkörper, kräftiger Unterkörper. Gleichmäßige Züge und schwarz schimmerndes Haar – sie wäre hübsch, wenn sie nicht so säuerlich dreinblicken würde.
»Tess Monaghan«, sagte sie, ließ Rositas Hand los und wandte sich wieder Feeney zu. »Ich kann kaum glauben, dass du hier bist. Machen so was nicht Praktikanten? Oder Sportreporter? Du gehörst doch in den Gerichtssaal, wo du echte Nachrichten verfolgen solltest.«
»Ich hab’s dir doch schon gesagt. Wir sind hier nur auf der Suche nach ein paar Farbtupfern. Funkelnden Kleinigkeiten.«
»Weswegen?«
»Darf ich dir nicht sagen, meine Liebe, darf ich nicht sagen.«
»Wenn Feeney Farbtupfer sagt, meint er es nicht wörtlich«, erklärte Rosita allen Ernstes. »Sie müssen wissen, in der Zeitung bedeuten Farbtupfer …«
»Tess war eine von uns«, unterbrach Feeney freundlich, obwohl Tess das Gefühl hatte, keine Unterbrechung könnte für Rosita jemals freundlich genug sein. »Jetzt ist sie Privatdetektivin.«
»Na ja, so ähnlich. Ich muss immer noch meine Lizenz beantragen. Aber ich bin jedenfalls kein Mitglied der vierten Macht mehr.« Komisch, es tat gar nicht mehr weh, das zu sagen. Der Star war tot, das Leben ging weiter, Baltimore war eine Stadt mit nur einer Zeitung, und diese eine Zeitung war – egal, wie einem das gefiel – der Beacon.
»Sag uns Bescheid, wenn es so weit ist. Vielleicht kann Rosita was über dich schreiben, wenn du einen dicken Fall löst. Tess Monaghan, die rudernde Ermittlerin.«
»Um diese Jahreszeit rudere ich nicht«, erinnerte ihn Tess. »So hart bin ich nun auch nicht drauf. Ich geh am ersten April wieder aufs Wasser, keinen Tag früher.«
Feeney hörte sie nicht. Er strahlte, seine geheime Story ließ ihn von innen leuchten. Es war vielleicht etwas Politisches, vermutete Tess, wenn man bedachte, wer auf der Bühne stand. Für einen Artikel über den Gouverneur brauchte man auch immer frische Anekdoten, wie er sich wieder lächerlich machte. Oder vielleicht nutzte Familie Tucci auch ihre beachtliche Macht aus, um noch eine Müllverbrennungs-Konzession zu bekommen, obwohl immer weniger Stadtteile so eine Anlage herumstehen haben wollten. Aber wie die meisten reichen Familien beschwerten sie sich ganz schnell, wenn ihnen eine staatliche Regelung oder eine Gebühr nicht passte.
Viel wahrscheinlicher war, dass Feeney über das Ereignis des Abends schrieb, über Wink und seinen Basketball-Deal. Aber was hatte das mit einem Gerichtsfall zu tun? Und wieso hatte er noch eine andere Autorin dabei?
»Lass uns bald mal was trinken gehen«, sagte Tess, wobei sie die Stimme senkte, sodass Rosita nicht glauben könnte, sie wäre auch eingeladen. »Ist schon zu lange her.«
Er lachte. »Du willst von mir bloß alles erfahren.«
»Na klar. Aber das kann dir doch egal sein, wenn ich dich bei ein paar Drinks im Brass Elephant ausfrage? Du kriegst umsonst was zu trinken und wirst mir wahrscheinlich sowieso nicht antworten. Morgen Abend? Halb acht?«
»Sagen wir acht. Wer weiß – vielleicht ist dann schon Zeit zu feiern.«
»Okay. Bis dann.« Sie gab ihm die Hand, dann log sie Rosita ins Gesicht: »War nett, Sie kennenzulernen.«
Die junge Frau lächelte mit zusammengepressten Lippen, was die Temperatur stark abfallen ließ. Okay, ich bin auch nicht gerade warmherzig aufgetreten. Aber Tess fand, dass sie nur auf die Unhöflichkeit der kleinen Reporterin reagiert hatte, so wie man einen knallharten Aufschlag beim Tennis retournierte. Rosita trug ihren Ehrgeiz sichtbar zur Schau wie altgediente Reporter Trenchcoats. Zu ihrem jungen Körper passte das nicht gut.
Tess ließ sich noch einen Gratis-Hotdog geben und versuchte, damit den restlichen Weg nach Hause auszukommen. Von achtzehn Blocks war der Hotdog sechzehn zu kurz. Trotzdem war sie satt und zufrieden, als sie ihre Wohnung erreichte. Sie entschied sich, noch kurz im Buchladen ihrer Tante im Erdgeschoss hereinzuschauen und ihr von dem Menschenauflauf am Hafen zu berichten. Kitty wusste das Absurde zu schätzen, was man auch am Namen ihres Ladens erkannte: FRAUEN UND KINDER ZUERST.
»Oh, Tesser, wo warst du denn?«, rief Kitty, bevor Tess anfangen konnte, das spastische Dribbeln des Gouverneurs nachzumachen, die pseudocoolen Moves des Bürgermeisters und Tuccis alberne Angeberei. »Tommy hat immer wieder angerufen. Er hat dich im Büro knapp verpasst, und seitdem ruft er alle fünf Minuten hier an.«
»Tommy, Spikes hysterisches Helferlein? Wieso, hat ihm jemand die Einlagen geklaut? Oder sich ein paar Brezeln zu viel genommen oder einen ungedeckten Sieben-Dollar-Scheck hinterlassen? Glaub mir, Kitty, Tommys Anrufe sind nie so wichtig, wie er glaubt.«
In Kittys blauen Augen schimmerten Tränen. »Es geht um deinen Onkel Spike, Tess. Er liegt im Saint Agnes Hospital. Jemand hat versucht, das Point auszurauben, und der verrückte alte Sack hat versucht, das zu verhindern – und es wäre ihm beinahe gelungen.«
»Nur beinahe?«
»Nur beinahe.«