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Das Point hatte noch nie Fröhlichkeit ausgestrahlt, aber im Dämmerlicht nun wirkte es ganz besonders erbärmlich. Das letzte Sonnenlicht akzentuierte die unglaubliche Lieblosigkeit der Bar. Tess konnte den Staub auf den Tischen sehen, das verschmierte Glas der Jukebox und ein paar merkwürdige Flecken auf dem Boden. Aber das lag nicht an Spikes Abwesenheit. Genau genommen sah der Laden sogar etwas besser aus, jetzt, wo Tommy sich um alles kümmerte.

»Also, Tommy«, versuchte Tess es noch einmal und schenkte sich an der Bar eine wässrige Coke ein. »Woher hat Spike einen Windhund?«

»Die Blonde ist wirklich süß?«, sagte er mit Blick auf die Frühabendnachrichten, die auf einem Fernseher liefen, der über der Bar angeschraubt war. »Aber den Schwarzen mag ich nicht. Wieso sind es immer eine Blondine und ein Schwarzer? Warum haben sie nie einen blonden Typen und eine schwarze Frau? Hast du dich das mal gefragt? Und was glaubst du, wer das meistgrößte Gehalt bekommt, sie oder er?«

»Das größere Gehalt, Tommy. Und im Moment interessieren mich Windhunde deutlich mehr. Wieso hat sich Spike für Hunderennen interessiert?«

»Wir haben doch keine Hunderennen in Maryland?«, protestierte er.

»Wir haben auch keine Weltmeisterschaftsboxkämpfe, aber Spike hat auch auf die schon gewettet. Hat er irgendwas in Esskay investiert? Ist er der Partner irgendeines Hundetrainers in einem anderen Staat? Oder wettet er auf Windhunde?«

»Mit Windhunden wollte er nichts zu tun haben«, sagte Tommy entschlossen. »Er hat gesagt, sie sehen beängstigend aus? Er würde sie nicht gerne anschauen?«

»Wo anschauen? Da, wo er Esskay herhat?«

Tommy wandte sich wieder dem Fernseher zu. Reporter campierten vor Wink Wynkowskis Villa, einem nagelneuen Haus in nachgemachtem Tudorstil, der überhaupt nicht in den baumlosen Vorort passte. Offensichtlich war Wink den ganzen Tag nicht vor die Tür getreten, auch hatte er keine Stellung zu den Vorwürfen des Beacon bezogen. Die einzige Hoffnung der TV-Berichterstatter, die Story weiterzutreiben, war seine Reaktion. Sie konnten nicht die Recherchen nachliefern, für die Feeney die letzten paar Wochen gebraucht hatte. Außerdem, wieso sollte man sich irgendwelche langweiligen alten Gerichtsunterlagen anschauen oder mit möglichen Quellen reden, wenn man auch jemanden durch seinen eigenen Vorgarten jagen und dabei brüllen kann: »Wie geht es Ihnen?«

»Schade, dass die Zeitung die Basketballmannschaft vertrieben hat?«, sagte Tommy zum Fernseher. »Wäre gut für unser Geschäft gewesen?«

»Du benimmst dich, also ob dir der Laden gehört, Tommy. Man könnte glauben, es wäre dir ganz egal, ob Spike je wieder aufwacht.«

Tommy zupfte nervös an seiner Unterlippe. »Sei lieber vorsichtig, Tess? Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, so mit mir zu reden? Ich sehe ihn öfter als der Rest seiner Familie? Mehr als du

»Wo kommt der Hund her? Wieso wurde Spike zusammengeschlagen? Wie hängt das beides zusammen?«

Er wandte sich ab und begann am Bierzapfhahn herumzuspielen. Die ersten Stammgäste kamen herein, sodass Tommy die Gelegenheit hatte, sie eine Weile zu ignorieren. Langsam, beinahe zeremoniell, schüttete er kleine Brezeln in Holzschälchen auf der Bar, dann teilte er Untersetzer aus, die in der Geschichte des Point nie jemand benutzt hatte. Hinter der Bar wirkte Tommy in seinem leuchtend gelben Hemd mit der schwarzen Hose genauso neu wie die Untersetzer. Er wirkte sogar größer. Tess beugte sich über den Formica-Tresen und stellte fest, dass er hochhackige karamellfarbene Stiefeletten mit seitlichen Reißverschlüssen trug, etwa Jahrgang 1976.

»Scharfe Schuhe«, sagte Tess.

»Na ja, weißt du, ich kann keine Halbschuhe tragen? Schwache Knöchel?«

»Tun dir nach einem Tag auf den Beinen nicht die Hacken weh?«

»Du weißt doch, wie das ist – die Arbeit eines Mannes ist niemals getan?« Tommy schaute erstaunt, als alle lachten, aber Tess vermutete, dass er es beabsichtigt hatte. Sie hatte diesen speziellen Tommyismus nicht zum ersten Mal gehört.

Auch Esskay hatte einen harten Arbeitstag hinter sich, sie hatte Papierhandtücher und Toilettenpapier geschreddert, dann hatte sie die Stückchen aufgekaut und die Klümpchen hinter Möbelstücke und in die Ecken gespuckt. Ein besonders großes, matschiges Stück fand Tess mitten auf ihrem Kissen. Auf ihrem Kissen, nicht auf dem von Crow, was näher an der Tür gelegen hätte. Wusste Esskay, auf welcher Bettseite Tess schlief? Und wenn ja, war dies dann eine Opfergabe oder eher eine Drohung?

Nach einem langen heißen Bad holte sie immer noch Papierfetzen aus irgendwelchen Ecken, als das Telefon klingelte.

»Tesser! Du hast gesagt, ich soll dich anrufen, also mache ich das.« Whitney klang ein bisschen zu fröhlich. Die gut gelaunte Mannschaftskapitänin hob sie sich normalerweise für Fremde auf. Fremde, die Whitney auch nicht näher kennenlernen wollte.

»Ja, das tust du«, gab Tess ohne große Begeisterung zurück.

»Hast du Lust, rauszukommen und zu spielen?«

»Jetzt?«

»Warum nicht? Es ist erst halb neun, der Frühling kommt, und ich hab noch nicht genügend Leute auf der Spesenrechnung. Sie werden die Achtung vor mir verlieren, wenn ich diesen Monat weniger als dreistellig bleibe. Sei meine zögerliche Quelle. Ich werde es dir vergelten.«

Tess betrachtete die nassen Papierklumpen in ihren Händen. »Ich trage meinen Bademantel und bin schlecht gelaunt. Kannst du nicht ein bisschen Bourbon kaufen und damit herfahren und das auf deine Spesenrechnung schreiben?«

Sie rechnete mit einer Absage. Tess konnte Whitney weder eine Quittung noch eine Kreditkartenabrechnung geben. Sie konnte nicht mal ihre Parkkarte abstempeln.

»Okay, aber dann musst du dir irgendwas über deinen Bademantel ziehen. Ich will draußen auf deiner Terrasse sitzen, zumindest solange wir es aushalten. In zwanzig Minuten bin ich da.«

Tess’ Wohnung war nur halb so groß wie die Stockwerke darunter. Der Rest war ein flaches stinknormales Dach, auf das von ihrem Schlafzimmer aus eine Doppeltür führte. Ein willigerer Mieter hätte auf diesem Pseudo-Patio vielleicht Geranientöpfe aufgestellt oder gusseiserne Caféstühle und einen passenden Tisch arrangiert. Tess ließ das ganze Jahr über zwei Gartenstühle aus Plastik draußen, und wenn nötig, wischte sie mit einem Schwamm darüber. Der Blick auf den Hafen war so spektakulär, dass es ihr unnötig erschien, noch irgendetwas zu tun. Wer brauchte kleine weiße Lämpchen in Ficusbäumen, wenn das neonfarbene Domino-Sugar-Logo in Locust Point knallrot durch die Nacht strahlte?

Aber als Whitney kam, hatte sie es nicht eilig rauszugehen. »Hast du noch was …?«, fragte sie und schnaufte ein wenig. Esskay kam herangeschlendert, um herauszufinden, ob Whitney sie kraulte oder etwas zu essen bei sich hatte. Sie streichelte der Hündin den Kopf, fragte Tess aber nicht, wieso oder warum sie so einen hässlichen Hund hatte. Whitney war nicht wirklich neugierig. Journalismus fiel ihr nicht leicht.

»Habe ich was, Whitney?« Tess wusste genau, was sie meinte, fand es aber lustig, ihrer Freundin die Antwort abzuringen, sie zu zwingen auszusprechen, was sie wollte.

»Du weißt schon.« Ihre Stimme war jetzt ein bühnenreifes Flüstern. »Die kleine Schachtel unter deinem Bett.«

»Meine Pullover? Wollmäuse?«

»Deinen Stoff. Dein Dope. Gras. Mary Jane. Ganja. Das rauchbare Kraut aus den Siebzigern, das derzeit ein Comeback erlebt, wie es in der New York Times so schön heißt, wann immer sie eine dieser ›Was wurde eigentlich aus Marihuana?‹-Geschichten bringen. Zufrieden?«

»Ach das. Ich hab nichts mehr gekauft, seit ich für Tyner arbeite, weil es doch illegal ist. Liegt am Job.« Eine Halbwahrheit. Tyner hatte nur etwas gegen Marihuana, weil es die Fähigkeit der Lunge verringerte, Sauerstoff aufzunehmen.

Whitney aber schaute so traurig, dass Tess Mitleid mit ihr bekam. »Ein bisschen hab ich aber noch. Ich habe es aufgehoben.«

»Hol’s schon raus. Und lass uns eine Pizza bei BOP oder Al Pacino’s bestellen. Liefern die?«

»An Kittys Adresse schon.«

Eine Stunde später schnüffelte Esskay in zwei fettigen Schachteln in der Ecke der Terrasse, sie knabberte an Peperonistücken und Whitneys übrig gebliebenem Pizzarand. Die Nacht war überhaupt nicht frühlingshaft, aber Tess und Whitney wärmten sich an Bourbon und Pizza und teilten sich den zweiten Nachtisch-Joint. Vergangenheit und Jetzt verschmolzen miteinander. Sie hätten genauso gut im Washington College sein können, rauchend am Ufer des Chester River.

Der Joint war fast alle. Whitney bastelte einen Stummelhalter aus einem Anstecker an ihrem Blazer. »Ich mag deinen Toy-Boy Crow, aber ich bin froh, dass er heute nicht hier ist«, sagte sie und hustete leise. »Ich wollte dich mal für mich haben. Das gibt mir das Gefühl, wieder neunzehn zu sein. Ach, und das.« Sie zog noch einmal.

»Ich hab dasselbe gedacht. Nur waren die Nächte an der Ostküste so dunkel, und hier ist es so hell. Ist dir jemals aufgefallen, dass die Stadt von hier aus wie radioaktiv aussieht? Dieses verschmierte Glühen von den Straßenlaternen, die Verbrechen verhindern sollen, und das ganze Neon.«

»Worüber haben wir auf dem College gesprochen in all den Nächten, in denen wir geraucht, getrunken und geredet haben?«

»Über den Unterricht, unser Liebesleben, unsere Zukunft. Ich wollte eine klasse Reporterin werden, du wolltest Tokio-Korrespondentin der New York Times werden. Aber du kannst es immerhin noch schaffen. Außerdem haben wir Botticelli gespielt. Erinnerst du dich?«

»Du nennst es Botticelli. In meiner Familie heißt es ›Bist du ein gerissener österreichischer Diplomat?‹ Und du hast die unglaublichsten Leute genommen.«

»Jackie Mason ist überhaupt nicht unglaublich, Whitney.«

Tess war dran. Sie inhalierte. Es war kein besonders guter Stoff. Sie hatte leichtes Kopfweh genau zwischen den Augenbrauen bekommen. Als gute Gastgeberin überließ sie ihrer Besucherin den letzten Zug. Whitney zog noch einmal an dem Joint-Stummel, dann warf sie die Überreste vom Dach, in den Dreck der Straße dort unten – zerbrochene Flaschen, gebrauchte Kondome, Süßigkeiten, Papier.

»Du hast also gestern Nacht mit Feeney getrunken«, sagte sie plötzlich. »Hat er irgendwas Wichtiges gesagt?«

»Du kennst doch Feeney. Manchmal kriegst du den ganzen Abend kein Wort aus ihm raus.«

Whitney grunzte. »Das Einzige, was man aus ihm rauskriegt, sind Peinlichkeiten.« Sie hob ihre Hand an die Lippen, dann wurde ihr klar, dass der Joint alle war, und so steckte sie nur ihren Anstecker wieder an den Aufschlag. »Er hat dir von seiner Story erzählt, oder? Deswegen hast du mich heute danach gefragt.«

»Er hat mir erzählt, dass sie am Tropf hinge und die Woche nicht schaffen würde.« Spikes Gesicht tauchte in ihrem Kopf auf, und plötzlich fühlte sie sich schlecht für diese herzlose Metapher.

»So war es auch.«

»Und dann?«

»Die größte Wiederauferstehung, die es in dieser Stadt seit Jesus oder dem letzten Gouverneur gegeben hat, je nachdem, wie man die Welt sieht. Am Nachmittag wurde die Story gestrichen, aber in der Nacht ist sie für eine Ausgabe wieder auferstanden. Eine Ausgabe reichte. Der Nachtredakteur der Associated Press hat sie über den Ticker geschickt, danach gab es kein Zurück mehr. Alle haben sich darauf gestürzt, alle zitieren den Beacon

»Und wieso nur eine Ausgabe?«

»Gute Frage. Eine von vielen, die heute im Büro gestellt wurden.« Whitney schaute ihr genau in die Augen. »Sie sollte nicht erscheinen, Tess. Nicht heute. Vielleicht nie. Aber jemand hat dafür gesorgt.«

»Was ist passiert? Du solltest es wissen, du kriegst doch irgendwann einen Pulitzer für Redaktionstratsch.«

»Ich hätte lieber einen Job im Fernen Osten, einen in Hawaii oder einen Preis von Alicia Patterson für junge Journalisten«, sagte Whitney, als wäre Pulitzer das einzige Wort, das sie gehört hatte: Einen Moment lang schien sie nachzudenken, vielleicht sah sie sich durch den Orient streifen, wortwörtlich einen Kopf größer als der Rest der Bevölkerung. Sie zwinkerte und kehrte zurück nach Baltimore, zu Tess, aufs Dach.

»Ich weiß tatsächlich ein bisschen was darüber. Ich hab’s alles vom Chef, mit dem ich mich heute getroffen habe. Chefredakteur Lionel C. Mabry höchstselbst.«

»Kenne ich den?«

»Er ist vor neun Monaten zu uns gekommen, sie haben ihn aus seiner Frührente an der Northwestern University geholt. War CR beim Chicago Democrat, als da alles gut lief. Die Reporter nennen ihn den Löwenkönig, weil er eine blonde Haarmähne und große Geheimratsecken hat. Sie nennen ihn aber auch den Lügenkönig, weil er die Angewohnheit hat, nett zu einem zu sein, dann aber ins Meeting zu gehen und einem ein Messer in den Rücken zu rammen. Ein langes elegantes, verdammt scharfes Messer.«

»Doch nicht in deinen knochigen Rücken, Whitney. Chefs lieben dich.«

»Die alten schon. Aber Mabry kennt meine Reportergeschichten nicht, und er hat mitzureden, wer im Sommer in das Büro nach Tokio geht. Ich bin durchaus eine Kandidatin, aber sicher ist nichts. Nicht mal annähernd.«

Whitney runzelte die Stirn. Sie schaute erstaunt, ungefähr so wie damals, als sie zum ersten Mal einem Pessach-Essen bei der Familie von Tess’ Mutter beigewohnt hatte. »Das ist kein Meerrettich«, hatte sie höflich gesagt und mit ihrem Löffel gegen die krumme Wurzel gestoßen. »Meerrettich gibt’s im Glas.« Niemand hatte gewagt, ihr zu widersprechen.

Tess schenkte Whitney noch etwas Bourbon ein. »Du wirst ihn schon für dich einnehmen.«

»Oder dran verrecken. Gestern habe ich an ihm die Fahrstuhltechnik ausprobiert.«

»Was ist das, ein Blowjob aus der Cosmo?«

»Na ja, es ist keine Fellatio, aber tatsächlich ist es eine Art Oralsex.« Whitney rückte vor auf die Stuhlkante und nahm einen Schluck Bourbon; die Beine hatte sie an den Knöcheln übereinandergeschlagen. »Es gibt die Theorie, dass der wichtigste Augenblick deiner Karriere die dreißig Sekunden sind, die man mit dem Chef im Fahrstuhl verbringt – oder im Flur oder auf dem Klo, wobei mir das nur selten passiert. Da hört er einem zu, und man sollte sich darauf vorbereiten, so wie man sich auf mündliche Prüfungen am College vorbereitet, oder so wie man für ein Rennen trainiert, damit es einem in Fleisch und Blut übergeht.«

»Was sollte man vorbereiten?«

»Deine Bänder. Stell dir dein Hirn wie einen kleinen Kassettenrekorder vor. Du brauchst zwei oder drei Bänder, die du sofort einwerfen kannst, wenn der CEO in Sicht kommt. Oder in meinem Fall der Chefredakteur. Auf jedem Band ist eine zeitlose Frage oder Beobachtung, die zeigt, wie motiviert man ist, wie loyal, was für eine glückliche Arbeitsbiene man doch ist, die hundertzehn Prozent gibt, um diesen wunderbaren Arbeitsplatz noch herrlicher zu gestalten.«

»Das musst du mir mal vormachen.«

Whitney drückte die Schultern zurück und strich sich das Haar aus dem Gesicht, sie verwandelte sich in ein gieriges Mäuschen. »Mr. Mabry«, begann sie ein bisschen atemlos, ihre Stimme klang höher und süßer als sonst. »Mr. Mabry, mir ist aufgefallen, dass unsere Auflagenzahlen für die Abendausgabe sich stabilisiert haben. Glauben Sie, dass das Redesign und der Versuch, die Zeitung wieder als Nachrichtenbringer zu entdecken, geholfen haben, den jahrelangen Trend der schwindenden Nachmittagsauflage zu brechen?«

Bourbon brennt, wenn er einem durch die Nase rinnt. »Wie megapeinlich«, sagte Tess, schniefte und lachte. »Funktioniert das wirklich?«

»Also, ich bin vor drei Jahren als Reporterin in den Fahrstuhl gestiegen, habe mit einem Redaktionsleiter über die Wunder einer erstklassigen Universitätsausbildung geplaudert, und als ich ausstieg, war ich kurz davor, Kolumnistin zu werden.«

»Und ich hab gedacht, du wärst verrückt, als du Washington College für Yale verlassen hast«, sagte Tess und schüttelte erstaunt den Kopf. Nicht, dass sie nicht dasselbe tun würde, wenn sie die Chance hätte. Sie würde es nur nicht so gut hinbekommen. Vielleicht gab es wirklich nur zwei Arten Menschen auf der Welt: Arschkriecher und gescheiterte Arschkriecher.

»Heute, direkt nachdem wir einander über den Weg gelaufen sind, hab ich den Löwenkönig getroffen«, prahlte Whitney, die so stolz auf ihre Anbiederei war, als hätte sie eine neue Sportart gelernt. »Ich habe gesagt: ›Die Wynkowski-Story – die stand gar nicht im Plan für das Vier-Uhr-Meeting gestern, oder, Sir?‹ Um vier Uhr findet das letzte Nachrichtenmeeting des Tages statt. Manche Sachen erfährt man natürlich erst später, aber …«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Stimmt, manchmal vergesse ich, dass du eine von uns warst. Jedenfalls hat er ziemlich genervt gesagt: ›Nein, war sie nicht.‹ Also habe ich gesagt: ›Es geht mich ja nichts an, aber wenn Sie der Sache auf den Grund gehen wollen, und wenn Sie jemanden brauchen, dem Sie trauen können – eine diskrete Privatermittlerin, die sich bei Zeitungen auskennt –, dann wüsste ich genau die Richtige.‹ Also gingen wir in sein Büro und plauderten ein Stündchen, vor allem darüber, wie ihm Baltimore gefällt, und über seine Rückhand. Es stellte sich heraus, dass er unbedingt in den Baltimore Country Club will. Und mein Onkel sitzt im Bewilligungskomitee, musst du wissen.«

Tess hatte sich von Whitneys Gesabbel nicht ablenken lassen. »Moment mal. Wer ist denn diese diskrete Privatermittlerin, die sich bei Zeitungen so gut auskennt?«

Whitney lächelte scheu. »Lass uns Botticelli spielen, Tesser. Mein Buchstabe ist ›M‹. Stell mir eine Ja-Nein-Frage, um rauszukriegen, wer ich bin.«

»Lass mal sehen. Bist du eine einsfünfundsiebzig große Washington-College-Absolventin, deren ehemalige Zimmergenossin offensichtlich total spinnt?«

»Du hast es gleich erraten. Ich bin Theresa Esther Monaghan, die perfekte Frau für den Job, findest du nicht? Ich habe sogar morgen um zwei ein Meeting mit dem Chefredakteur. Du hast doch irgendwas Anständiges anzuziehen?«

Tess griff nach der Bourbonflasche und nahm einen Schluck, vor allem für den Effekt. Sie war nicht wirklich begeistert, dass Whitney sie ohne zu fragen für den Job vorgeschlagen hatte. Whitney schob Tess immer nach vorn, sie versuchte, mehr aus ihr zu machen, als sie war. Aber in diesem Fall hatte sie ein paar entscheidende Details vergessen.

»Ich habe schon einen Job, hast du das vergessen? Ich arbeite für Tyner.«

»Der übrigens gerne sehen würde, dass du mehr leistest. Ich habe mit ihm gesprochen, bevor ich dich heute Abend angerufen habe, und er ist einverstanden. Er sagt, er hätte sowieso nichts, um dich im Moment zu beschäftigen, und es klänge wie eine gute Gelegenheit.«

Toll, Tyner und Whitney, Präsident und Vizepräsident des Lass-uns-Tess-zu-was-bringen-Clubs, hatten sich hinter ihrem Rücken verbündet. Tess war überrascht, dass sie nicht noch das Gründungsmitglied des Clubs, ihre Mutter, offiziell um Genehmigung gebeten hatten.

»Mein Onkel Spike liegt im Krankenhaus. Wenn Tyner mich nicht braucht, würde ich mich lieber darum kümmern, was ihm zugestoßen ist.«

»Da kann es doch nicht schaden, auf das Archiv des Beacon zurückgreifen zu können. Computerisierte Gerichtsunterlagen, die Doku, Nexis-Lexis – du hättest alles, solange du bezahlt wirst.«

Das war schon eine Versuchung, aber Tess entdeckte noch einen letzten großen Fehler in Whitneys Plan.

»Hör mal, du sagst, es wäre Absicht gewesen, ja? Schlicht und ergreifend Computer-Hacking?«

»So sieht es aus.«

»Also suchen sie nach jemandem mit einem Motiv?«

»Natürlich.«

»Ja, sind denn da nicht Feeney und seine Rosita Taquita die Hauptverdächtigen? Ich kann doch nicht gegen einen meiner Freunde ermitteln. Was soll ich denn machen, wenn sich herausstellt, dass er es war?«

»Du greifst dir vor. Letztlich wirst du wahrscheinlich gar nicht herausfinden können, wer es war, aber Mabry will dem Herausgeber zeigen, dass er die Sache sehr ernst nimmt. Ich glaube, Mabry freut sich im Grunde, dass die Story gedruckt wurde. Es ist eine Riesensache, und der Beacon hat sie zuerst gebracht. Mabry war am Anfang nur wegen der anonymen Quellenangaben dagegen. Er wollte bloß, dass Feeney und Rosita die Leute dazu bringen, ihren Namen zu nennen. Irgendjemand hat die Sache einfach nur beschleunigt. Das ist alles.«

»Ja, aber wenn es Feeney …«

»Ich sag dir was, aber lass dich davon nicht abhalten: Wir glauben alle, es war Rosita. Niemand hält Feeney für dazu in der Lage. Vielleicht beschwert er sich mehr als andere, aber er würde es nicht riskieren, seinen Job wegen einer Story zu verlieren. Außerdem hat Feeney ein eisenhartes Alibi.«

»Hat er?«

Kichernd boxte Whitney ihr gegen den Oberarm. Solche Körperlichkeiten waren ein klares Anzeichen ihrer Trunkenheit, besser als jeder Atemtest. Der Schlag war ungefähr 0,08 auf der Talbot-Skala, wohingegen Armdrücken anzeigte, dass sie richtig besoffen war. Es wäre nicht das erste Mal, dass Tess ihr ein Bett auf der Couch zurechtmachte oder Whitney für die Fahrt nach Hause ins Worthington Valley in ein Taxi setzte. Dort lebte sie immer noch bei ihren Eltern. Sofern man ein Gästehaus auf einem Grundstück von zwanzig Hektar als »bei den Eltern« bezeichnen kann.

»Sehr lustig, Tesser«, sagte Whitney immer noch kichernd. »Feeney hat mir erzählt, dass ihr beide bis nach Mitternacht getrunken hättet. Er sagt, das wäre das Einzige, woran er sich von der letzten Nacht erinnern kann. Das will man zwar nicht unbedingt den Redakteuren erzählen, aber ein besseres Alibi könnte er doch nicht haben, oder?«

Tess kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum, was sie eigentlich geglaubt hatte, sich abgewöhnt zu haben. Es war noch nicht mal acht Uhr gewesen, als Feeney aus dem Brass Elephant gestürmt war. Wieso hatte er Whitney erzählt, es wäre Mitternacht gewesen?

»Tess?« Whitney versuchte erneut, sie zu hauen, traf aber daneben, und dabei segelte ihr Bourbonglas runter auf die Straße. »Also, was denkst du?«

»Ich denke, das ist schon ein verdammt gutes Alibi.«

Die Witwe des Millionärs

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