Читать книгу Die Witwe des Millionärs - Laura Lippman - Страница 5
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Оглавление»Tore, ich hab sie gesehen, die Tore«, murmelte Spike. Seine braunen Augen starrten milchig ins Nichts, sie konnten gar nichts sehen. »Tore.«
»Ich weiß, Onkel Spike, ich weiß«, sagte Tess und tätschelte seine Hand. Aber sie wusste gar nichts. Tore? Vielleicht sah er sein Leben vor sich, die Tore, die er in gut fünfzig Jahren geschossen hatte? Sie wertete dieses Klischee als gutes Zeichen. Wenn der Tod näher käme, würde man ja wohl origineller reagieren.
»Die Tore.«
Spikes Gesicht war geschwollen, überall waren kleine Platzwunden, und die Leberflecke, die ihn ein bisschen wie einen Spaniel aussehen ließen, wurden beinahe von rot-lilafarbenen Schwellungen verdeckt. Nur sein spitzer, kahler Kopf, der oben aus seinem braunen Haarkranz ragte, war immer noch weiß und unbefleckt.
»Tore«, murmelte er.
»Ich hab ihn gefunden?«, sagte Tommy, der Tellerwäscher aus Spikes Bar, der fast alles wie eine Frage aussprach. Diese Wischiwaschi-Tendenz, zusammen mit seinem starken Baltimore-Akzent und seiner Angewohnheit, Worte miteinander zu verwechseln, machte ihn für praktisch jedermann außer Spike unverständlich. »Vor ungefähr zwei Stunden? Ich wollte mich auf die Leute am Montagabend vorbereiten? Ich wollte ein paar hart gekochte Eier pellen, weil der neue Koch nicht gekommen ist, die faule Sau?«
»Ein Überfall?« Tess hatte das nicht als Frage gemeint, aber Tommys Aussprache war ansteckend.
»Ja, ein Überfall, aber am Montag haben wir nicht viel Geld, nicht außerhalb der Football-Saison? Deswegen haben sie sich aufgeregt? Deswegen haben sie ihn zusammengeschlagen?«
Tommy hatte schon recht: Onkel Spike sah aus wie eine schlecht gewordene Pflaume oder eine gehäutete zermatschte Tomate. Wer tat einem alten Mann das an? Aber Tess wusste Bescheid. Amateure. Kinder. Idioten, genau die Leute, derentwegen Verbrecher einen schlechten Ruf genießen. Die haben keine Ahnung von der Etikette, nach der man bei einem Kneipenüberfall einfach niemanden tötet, und schon gar nicht versucht, jemanden totzuprügeln. Überhaupt raubte man keine Kneipen aus, denn die Besitzer hatten normalerweise abgesägte Schrotflinten unter der Bar, vor allem, wenn sie nebenbei auch noch illegal als Buchmacher arbeiteten. Spike arbeitete nebenbei als Buchmacher, Spike hatte eine Schrotflinte. Wieso hatte er sie nicht benutzt?
»Nummern«, brachte er schwach hervor, als dächte auch er an die Wetten, die ihm viel mehr einbrachten als die Bar. Dann sagte er nichts mehr, die Augen fielen ihm zu.
So verharrten sie – Tess hielt Spikes Hand, Tommy saß auf der anderen Seite des Bettes und wippte nervös vor und zurück, er hatte sich die Arme um den Körper geschlungen – bis ein junger Arzt hereinkam und sie bat, zu gehen.
Der schlaksige Tommy bestand darauf, Tess zu ihrem eigenen Schutz zum Wagen zu begleiten. Auf dem Parkplatz waren die Pfützen zugefroren, und das vielversprechende Gefühl, das Tess am frühen Abend noch empfunden hatte, war verschwunden. Der März, mit seinem Morgenregen und den winterlichen Nächten, kam ihr plötzlich so bitter vor wie Kuvertüre.
»Er hat etwas für dich?«, sagte Tommy etwas zögerlich. »In der Bar? Bevor die Notärzte ihn mitgenommen haben, hat er mir gesagt, ich soll’s dir geben?«
»Er erwartet doch nicht, dass ich die Bar schmeiße, oder?«
Tommy keckerte laut los, er bog sich vor Lachen über die Vorstellung, dass Tess das Point, Spikes Bar, leiten könnte. Zwischen den Lachattacken brachte er sogar ein paar fragezeichenlose Sätze hervor.
»Nein, nicht die Bar. Aber es ist in der Bar. Komm mit, dann geb ich’s dir. Aber folge mir, okay? Ich nehm eine Abkürzung?«
Sie verließen das Saint Agnes Hospital und fuhren durch kleine Gässchen in Südwest-Baltimore zur Kneipe ihres Onkels. Die Highways waren in Baltimore selten der schnellste Weg, irgendwo hinzukommen, jedenfalls nicht von Osten nach Westen, aber Tommys Abkürzung schien doch ungewöhnlich viele Kreisfahrten zu enthalten, er näherte sich dem Point durch die gewundenen Straßen des Leakin Park.
Das Point war dunkel, verschlossen für die Nacht, vielleicht für immer. Tommy führte Tess durch den Hintereingang, durch die Küche – die Küche, in der sie ihre ersten Pommes frites gegessen hatte, ihren ersten Zwiebelring, ihren ersten Mozzarella-Stick, sogar ihren ersten gefüllten Jalapeño. Das war die Basis von Spikes Nahrungspyramide, und Tess konnte gut damit leben.
Tommy schloss einen Lagerraum auf, blieb auf der Schwelle stehen und schaute in die Dunkelheit.
»Da«, sagte er schließlich und zeigte auf etwas, das aussah wie ein schwarzer Sack.
»Was?«, fragte Tess. Erschreckenderweise begann der Sack sich zu bewegen, er erhob sich auf vier Stöckchen und kam auf sie zu, ins Licht. »Was zum Teufel ist das?«
Es war ein Hund, ein knochiger, hässlicher Hund mit mattschwarzem Fell und kahlen Stellen am Hintern. Seine braunen Augen waren genauso glasig wie Spikes, die Schultern hochgezogen wie die von Richard M. Nixon.
»Das ist ein Greyhound, ein Windhund? Spike hat ihn dieses Wochenende bekommen?«
»Greyhound? Aber er ist schwarz.«
»Die meisten Windhunde sind nicht grau, und wenn doch, dann nennt man es blau.« Tommy sagte das ganz entschlossen, er schien sich sicher zu sein. »Manche sind beige, andere sind fleckig, und es gibt auch schwarze. Es heißt, die Grauen laufen nicht so gut, aber das ist bloß ein Vorurteil.«
»Wollte Spike den Hund hier Rennen laufen lassen?«
»Nein, diese Hündin ist in Rente? Und sie war auch nie besonders gut? Spike hat sie von irgendeinem Typen?«
»Was für einem Typen?«
»Einem Typen aus diesem Laden, wo er manchmal hingeht?«
Die Hündin schaute zu Tess auf, und der herunterhängende Schwanz bewegte sich ein wenig, als hätte sie eine vage Erinnerung daran, vor langer Zeit einmal damit gewedelt zu haben. Tess schaute zurück. Sie war kein Hundemensch. Sie war auch kein Katzenmensch, Fischmensch oder Pferdemensch. An schlechten Tagen war sie noch nicht einmal ein Menschenmensch. Sie aß Fleisch, trug Leder und liebte heimlich den alten Nerz ihrer Mutter. Pelz war warm, und die Winter in Baltimore schienen immer schlimmer zu werden, trotz der globalen Klimakatastrophe.
»Wieso kannst du sie nicht nehmen, Tommy?«
»Ich kann keinen Hund in der Bar halten, dann macht die Gesundheitsbehörde uns zu? Ihr Name ist S.K.?«
»Was sind denn das für Initialen, S.K.?«
»Nein, Esskay? Wie die Wurst?«
»Wie in ›Schmeck den Unterschied der Kawalität?‹, diesem Spot, bei dem sich Cal Ripken Jr. eine Scheibe Speck in die Basketballfresse schiebt?«
»Ja, das ist ihr Lieblingsessen, aber das kriegt sie nur ausnahmsweise. Die restliche Zeit bekommt sie dieses besondere Hundefutter, das Spike ihr gekauft hat.«
Fünf Minuten später saß Tess in ihrem zwölf Jahre alten Toyota, das Hundefutter lag im Kofferraum, und Esskay stand mit durchgestreckten Beinen auf dem Rücksitz, rutschte in jeder Kurve vor und zurück und wimmerte bei jedem Schlagloch, also etwa alle zehn Meter. Baltimores Straßen, um die es sowieso nie gut gestanden hatte, litten unter diesem Winter mehr als alles andere. Und es half nicht, dass der Wagen hinter ihr das Fernlicht an hatte und offensichtlich bis nach Fells Point an ihrer Stoßstange kleben wollte. Letztendlich überfuhr sie an der Edmondson Avenue eine rote Ampel, nur um diesen Idioten endlich loszuwerden.
»Sitz! Setz dich hin!«, zischte Tess die Hündin an, aber Esskay starrte einfach nur zurück und glitschte weiter über den Vinyl-Rücksitz, sie stieß sich den Kopf am Fenster, dann rutschte sie zur anderen Seite und knallte mit dem Hintern ans andere Fenster. Aber sie bellte nicht, das fiel Tess auf, sie machte überhaupt kein Geräusch, außer diesem fast unhörbaren Wimmern ganz tief im Rachen.
Die Sonne war gerade schwächlich aufgegangen, als Tess am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Komisch, normalerweise wachte sie im Winter nicht so früh auf, es war die einzige Jahreszeit, in der sie ausschlafen konnte. Vom Frühjahr bis zum Herbst, wenn sie ruderte, war sie mit den Vögeln auf. »Und jetzt bist du mit Crow im Bett«, scherzte ihre Freundin Whitney immer wieder; ein bisschen zu regelmäßig in den letzten paar Monaten. Ihr war nicht ganz klar, ob Whitney etwas dagegen hatte, dass Tess einen Freund hatte, oder ob sie einfach nur diesen speziellen Freund lächerlich fand. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem.
Aber an diesem Morgen lag nicht Crows langer, warmer Körper neben ihr. Sie rollte sich in die Mitte des zu weichen Bettes und starrte plötzlich in das leichte Schielen Esskays, die ungeschnittenen Krallen der Hündin bohrten sich in ihren Arm, und die Hinterbeine zuckten spastisch.
Tess stützte sich auf einen Ellenbogen und starrte die Hündin an, die Hündin wich zurück, dabei riss sie die traurigen Augen auf.
»Nimm’s nicht persönlich, aber du bist der hässlichste Hund, den ich je gesehen habe.«
Die Schnauze erinnerte sie an einen Dinosaurier, genau genommen an den langen Kiefer des Velociraptors. Die Beine waren dürr, das Fell spärlich und zum Teil verklebt. An Rumpf und Schwanz leuchteten rote Stellen, und der wässrige Blick wich einem aus. Insgesamt ähnlich wie Tess mit dreizehn – zu langer Körper, zu dünne Beine, rote fleckige Haut, schlechte Manieren. Aber auch um die Zähne der Hündin war es schlecht bestellt, dem fischigen heißen Atem nach zu urteilen, den Esskay in schnellen Stößen aushechelte.
Tess murmelte leise vor sich hin. Sie zog einen Trainingsanzug und Wanderstiefel an, um schnell mit dem Hund rauszugehen. Die Hündin sprang begeistert auf, als sie ihre notdürftige Leine sah, eine lange, schwere Metallkette, mit der Spike wahrscheinlich sonst sein Parkplatztor sicherte. Aber am oberen Ende der Treppe blieb Esskay plötzlich stehen. Letzte Nacht war der Windhund auch nicht bereit gewesen, die Treppe zu Tess’ Wohnung hochzugehen, also hatte sie Esskay zwei Stockwerke hochgetragen; sie war davon ausgegangen, dass die Hündin zu schwach zum Klettern war. Aber jetzt stellte sich heraus, dass der Windhund prinzipiell etwas gegen Treppen zu haben schien.
»Komm schon, du blöde Töle«, sagte Tess und zog am Halsband der Hündin, aber Esskay rührte sich nicht. Sie kniete sich hinter sie und versuchte, sie die Treppe runterzuschieben, aber die Hündin stemmte sich dagegen, und ihre dürren Beinchen erwiesen sich als ganz schön kräftig.
»Na los, verdammt noch mal! Ich trag dich doch nicht jeden Tag die Treppe rauf und runter.«
Tess’ Ausbruch beeindruckte den Hund gar nicht, ließ aber ihre Tante auf den Absatz im ersten Stock treten. Kitty war normalerweise genau die Art Vermieterin, die man liebte: Sie stellte wenig Regeln auf und hatte kaum etwas gegen Lärm und merkwürdige Besucher. Aber sie konnte nichts ertragen, was unschön aussah, und was das anging, war Esskay ganz bestimmt ein Problem.
»Wie geht’s Spike?«, fragte sie und hüllte sich in eine braune Chenille-Robe. Ihr blasses Gesicht war gerötet, ihre roten Locken waren zerzaust. »Tut mir leid, dass ich weg war, als du gestern Nacht zurückkamst, aber ich musste zu diesem Meeting der Ladenbesitzer aus der Gegend. Wir kämpfen immer noch gegen diese Megabars. Und was ist das? Die größte Ratte der Welt?«
»Das ist ein Riesennervvieh, und ich verdanke es Spike.«
Ein kleiner, muskulöser Mann tauchte hinter Kitty auf. Er trug einen karierten Bademantel, den Tess in den zwei Jahren, die sie über ihrer Tante wohnte, schon an vielen Männern gesehen hatte. Sie kannte diesen Typen nur vom Sehen – er war Barkeeper in einem neuen Laden an der Thames Street, einer der sogenannten Megabars, gegen die sich die Nachbarschaft in Fells Point engagierte. Aber Kitty war immer schon sehr offen gewesen; sie konnte sich gegen ein Geschäft einsetzen, aber sich dennoch gut mit den Angestellten verstehen.
»Das ist einer dieser Windhunde von den Hunderennen«, stellte der Barkeeper selbstzufrieden fest. »Wie lang hast du ihn schon?«
Erstaunlich, wie manche Männer ihr eigenes Geschlecht auf alles projizieren, als müssten alle Lebewesen männlich sein bis zum Beweis des Gegenteils.
»Ich hab sie seit ungefähr zwölf Stunden.«
»Na, da hast du die Ursache des Problems. So ein ehemaliger Rennhund hat noch nie Treppen gesehen, also musst du ihn erst dran gewöhnen. Ein Fuß, anderer Fuß. Ein Fuß, anderer Fuß. Mein Cousin hatte mal einen Windhund. Man hilft ihnen rauf und runter, bis sie’s kapieren. Sie kennen auch keine Spiegel.«
»Das Glück sollten Frauen haben«, murmelte Kitty. »Das ist übrigens Steve. Steve, das ist meine Nichte Tess.«
»Nichte?«
Andere Frauen hätten ihm sofort versichert, dass Tess’ Vater viele Jahre älter sei. Tess’ Tante Kitty war der Nachschlag in einer Familie mit vier Jungs, und sie war keine fünfzehn Jahre älter als die 29-jährige Tess. Aber Kitty war selbstsicher, lächelte einfach nur und nickte.
Tess kniete sich vor Esskay und führte die Vorderbeine der Hündin eine Stufe herunter. Die Hündin war erstaunlich kooperativ, sie ließ jede Pfote hochnehmen und absetzen. Aber sie ging nicht alleine weiter. Eins-zwei, Vorderbeine runter, drei-vier, Hinterbeine. Wiederholen. So brauchte Tess ein paar Minuten, um auch nur den Treppenabsatz zu erreichen, wo sie innehielt, um Atem zu schöpfen. Sie war gut in Form, aber ganz offensichtlich hatte sie bei ihren normalen Workouts die Muskeln vernachlässigt, die man für das Windhund-Treppentraining brauchte. Und Kauern war die Hölle für ihren Rücken und die Knie.
»Was wissen sie außerdem noch nicht?«, rief Tess zu Barkeeper Steve hoch, als sie mit Esskay die zweite Treppe in Angriff nahm.
»Sie sind an Zwinger gewöhnt, aber nicht stubenrein. Und du solltest sie nicht anschreien, wenn sie was nicht hinbekommt. Sie sind richtig, richtig empfindlich.«
»Sind wir das nicht alle?«
Tess war völlig fertig, als sie das Erdgeschoss erreichte, aber die Hündin war plötzlich ganz aufgeregt. Sie hob die Schnauze und bleckte die Zähne, sodass sie aussah wie James Cagney. Tess umrundete mit ihr ein paar leere Grundstücke in Fells Point, die Esskay geruchlich faszinierend fand. Tess meinte sich zu erinnern, dass es eine städtische Regel gab, nach der man hinter seinem Hundchen herputzen musste, aber andererseits ging sie davon aus, dass Hundekot das geringste Problem auf Grundstücken wäre, die seit fünf Jahrzehnten mit Chemikalien und Giften belastet wurden.
Es roch gut aus Kittys Küche im Erdgeschoss, als sie nach Hause zurückkehrte. Tess blieb im Flur stehen und fummelte an Esskays Leine herum. Sie hoffte hereingebeten zu werden, und sei es nur, um den langen Aufstieg zu ihrer Wohnung noch hinauszuzögern. Kitty ging wie alle Monaghans davon aus, dass Spike der Weinstein-Seite der Familie zuzuordnen war, aber sie hatte ihn immer gemocht. Sie wollte also mehr über seinen Zustand wissen. Und deshalb öffnete die großzügige Kitty ihre Tür und bat Tess herein.
Kittys Küche war eigenartig für jemanden, der hochhackige Schuhe anziehen musste, um auch nur einsfünfzig zu erreichen. Alles war übergroß, sodass Kitty darin wie ein Püppchen aussah. Aber Tess war schon vor langer Zeit aufgefallen, dass das kein Zufall war, denn normalerweise führte es dazu, dass Kittys neuester Freund stets das Essen zubereitete. Der Freund war außerdem meist fünfzehn Jahre jünger als die über vierzigjährige Kitty, eine clevere Rothaarige, die die Sonne gemieden hatte, während andere Frauen ihrer Generation sich mit Babyöl eingepinselt hatten.
Heute gab es French Toast von Barkeeper Steve. Er wirkte kräftig, was Tess nicht gefiel. Kleine Männer, die so viel Zeit damit verbrachten, ihre Muskeln auszubilden, neigten dazu, andere wichtige Bereiche zu vernachlässigen. Aber ihr hatte sowieso keiner der Freunde ihrer Tante gefallen, seit Thaddeus Freudenberg auf die FBI-Akademie in Quantico gegangen war. Das war im Januar gewesen – zwei Monate im Kalender, vier Freunde in Kittys Kalenderrechnung.
»Hat Tommy dir sagen können, was gestern passiert ist?«, fragte Kitty, während Tess sich einen Kaffee eingoss. »Und wie geht es Spike?«
»Nicht so gut. Er wurde bewusstlos, während wir dort waren. Jemand – mehrere – haben ihn sich richtig vorgeknöpft. Und das wegen dreißig Dollar oder so.«
Steve interessierte sich nicht für weltliche Familienthemen wie den Raubüberfall und Beinahetod eines Verwandten, sodass er das Gespräch wieder auf ein Thema steuerte, bei dem er dominieren konnte.
»Hast du den Hund von einer dieser Tierrettungsgruppen der Stadt?«, fragte er und servierte Tess zwei Scheiben French Toast, dann streute er Puderzucker darauf. Tess wäre an einem Dienstagmorgen etwas weniger Klebriges lieber gewesen, ein Bagel oder eine Schüssel Müsli, aber sie würde sich nicht beklagen.
»Ich hab sie von meinem Onkel Spike.«
»Er muss sie gerade erst bekommen haben, wenn sie nicht weiß, wie man Treppen geht. Und diese wunden Stellen an ihrem Hintern, das kommt von den engen Zwingern.«
Esskay wimmerte, als hätte sie bemerkt, dass sie im Mittelpunkt eines nicht gerade schmeichelhaften Gesprächs stand. Kitty brach ein Stückchen Toast ab und hielt es der Hündin hin, die es erstaunlich flink verspeiste.
»Du solltest die Tierrettung anrufen und dir helfen lassen«, fuhr Steve fort. »Es gibt alles Mögliche, was du wissen solltest.«
»Zum Beispiel?« Kitty würde es nicht lange mit ihm aushalten, befand Tess, egal welche Talente er in Küche oder Boudoir hatte. Sie mochte es morgens ruhig.
»Essen. Bewegung«, sagte er vage und ließ seine Gabel durch die Luft kreisen. Tess hatte das Gefühl, das Ende seines Windhund-Wissens sei erreicht.
Als Steve seine Gabel mit einem Stückchen French Toast durch die Luft wedelte, sprang Esskay hoch und schnappte sich den süßen Bissen. Zum ersten Mal strahlten die Augen der Hündin, und sie ließ nicht mehr den Kopf hängen, als bettelte sie, nicht geschlagen zu werden. Esskay schien bereit zu sein, einen Kampf um den Rest des French Toast anzutreten.
»Ich hab eine Idee«, sagte Tess und schnitt den Rest ihres French Toast in kleine Stückchen. »Kitty, komm bitte mal kurz raus in den Flur.«
Am unteren Ende der Treppe reichte Tess Kitty den Teller und schickte sie auf halbe Höhe der ersten Treppe. Dann kniete sie sich selbst hinter die Hündin und legte die Hände auf deren Hinterbeine.
»Jetzt halt ihr eins der Toaststückchen hin«, sagte sie zu ihrer Tante. Kitty nahm eines der kleineren Stückchen zwischen Daumen und Zeigefinger, während Tess die Beine der Hündin die Treppe hinaufführte. Hinterbein, Hinterbein, Vorderbein, Vorderbein. Rechts, links, rechts, links. Sie konnte die Anspannung des armen Tieres spüren, während es den Hals streckte, um näher an das Stückchen French Toast zu kommen, das nur ein paar Zentimeter vor ihrer Schnauze in der Luft schwebte.
»Jetzt geh ein paar Stufen höher.« Kitty gehorchte. Hinterbein, Hinterbein, Vorderbein, Vorderbein. Wieder konnte die Hündin den Toast fast erwischen.
»Okay, gib ihr den Bissen, dann gehst du hoch zum Treppenabsatz und hältst ein größeres Stückchen hin.«
Das kleine Häppchen, sirupdurchtränkt und mit Zucker überpudert, ließ die Hündin fast durchdrehen. Wimmernd reckte sich Esskay in Kittys Richtung, die inzwischen den Treppenabsatz erreicht hatte. Tess kniete sich hinter die Hündin, sie kam sich vor wie eine Mutter, die gleich das Fahrrad ihres Kindes loslassen würde. Ein kleiner Stups, und Esskay stürzte vorwärts, sie nahm die restlichen Stufen in einem großen Satz. Kitty gab ihr wieder ein Stück French Toast, dann ging sie vier weitere Stufen hoch. Die Hündin folgte ihr allein, Tess krabbelte hinter ihr her. Sekunden später waren sie am oberen Treppenende vor Tess’ Wohnung, und der Teller glänzte wie frisch aus der Geschirrspülmaschine.
Steve, der diese Spontan-Unterrichtsstunde vom unteren Treppenende aus beobachtet hatte, war unbeeindruckt.
»Ruf mal lieber eine dieser Windhund-Rettungsgruppen an«, rief er hoch. »Ich wage zu bezweifeln, dass French Toast ihr gut bekommen wird. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn sie dir nicht die ganze Bude vollscheißt.«
Kitty kraulte die Hündin hinter den Ohren. Die Hündin schaute sie voller Liebe an. Es war mehr als Toast. Crow hatte Tess einmal erklärt, dass es quasi zwingend war, sich in Kitty zu verlieben, wenn man sich an der Ecke von Bond Street und Shakespeare Street aufhielt. Er sollte es wissen: Crow arbeitete bei FRAUEN UND KINDER ZUERST und war ewig in Kitty verknallt gewesen, bevor er sich plötzlich und unerwartet vor fünf Monaten auf Tess zu konzentrieren begonnen hatte.
»Sogar Hunde«, sagte Tess bewundernd. »Ist irgendjemand gegen deinen Charme immun?«
»Tausende. Ich verschwende bloß keine Zeit mit ihnen, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen.«
Kitty rief die Treppe hinunter: »Steve, du kannst schon mal abwaschen. Ich zieh mich um und schließ den Laden auf.«
Steve kehrte in die Küche zurück. Er pfiff vor sich hin, als wäre es eine Ehre, nach dem Essen, das er zubereitet hatte, auch sauber zu machen. Kitty schwebte einen Treppenabsatz hinab und verschwand in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock. Tess musste Esskay am Halsband festhalten, um die Hündin daran zu hindern, Kitty hinterherzutrotten.
Tess kannte sich aus mit Sportlern und ihren Bedürfnissen, also goss sie der Hündin eine große Schale Wasser ein und stellte sie auf eine Ausgabe des Beacon. Dann suchte sie ein altes Laken heraus und drapierte damit auf dem Schlafzimmerfußboden ein Bett. Erstaunt starrte Esskay darauf hinab. Sie betrachtete die blau karierte Wolle, als wartete sie darauf, dass etwas geschähe. Als Tess aus der Dusche zurückkehrte, stand die Hündin immer noch vor der Decke und knurrte leise.
Tess zog sich an und wollte zur Arbeit gehen, dann blieb sie in der Schlafzimmertür stehen und schaute die Hündin unsicher an. Sie hatte nie verstanden, wieso Leute mit Tieren redeten und sie wie Babys behandelten, aber es kam ihr auch komisch vor, ein warmblütiges Wesen ohne irgendeine Form der Verabschiedung zurückzulassen. Außerdem bedeutete diese Hündin Spike irgendetwas, also musste sie sie gut behandeln. Esskay und Tommy waren gar nicht so verschieden – nicht wirklich menschlich, aber Teil von Spikes Leben, und deswegen sollte man höflich zu ihnen sein.
»Heute gehe ich aus«, sagte Tess schließlich, »also komme ich erst spät wieder. Ich sage Kitty, dass sie nach dir schauen soll.«
Esskay schaute kurz auf, dann starrte sie wieder die Decke an. Na toll, dachte Tess. Ich rede mit einer Hündin, und die hört noch nicht mal zu. Dann rannte sie die Treppen hinunter, sie war zu spät. Das war einer der Nachteile, wenn das Büro nur zehn Minuten entfernt ist. Man konnte die Verspätung unterwegs nicht mehr aufholen.