Читать книгу Die Witwe des Millionärs - Laura Lippman - Страница 9
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ОглавлениеTess war schon einmal beruflich beim Beacon gewesen: Sie hatte sich dort vorgestellt, nachdem der Star eingestellt worden war. Sie hatte sich bei Femme ein Kostüm gekauft, das sie sich nicht leisten konnte, hatte sich Kittys beste Handtasche geliehen und eine Strumpfhose angezogen, in der sie tatsächlich keine Laufmasche gehabt hatte, bis sie wieder in ihren Wagen stieg. Die Zeitung hatte Bewerbungsgespräche mit allen 383 Nachrichtenredakteuren des Star geführt. Weniger als zehn hatten sie Jobs angeboten. Ein neues Kostüm, eine geliehene Handtasche und eine Strumpfhose ohne Laufmaschen reichten in Tess’ Fall nicht aus, um dazuzugehören.
Glücklicherweise war das Kostüm noch nicht zu altmodisch, auch wenn der Laden, in dem sie es gekauft hatte, schon pleite war. In Baltimore kam nichts aus der Mode, vor allem nicht die einfachen Klamotten, die am besten zu Tess’ unmodischer Figur passten. Fast drei Jahre später war ihr Bewerbungsgesprächskostüm immer noch fesch, wie ihre Mutter sagen würde: dunkelblau mit einer engen Jacke, zu der man keine Bluse brauchte, und einem schlichten Rock, der bis zu den Knien reichte. Mit hochgesteckten Haaren und dunkelblauen hochhackigen Schuhen war sie ein Bildnis demütiger Weiblichkeit von über einsachtzig.
»Eine echte Dame«, befand Tyner, der sie am Donnerstagmorgen betrachtete, als sie sich langsam vor dem körperhohen Spiegel auf der Innenseite der Schranktür seines Büros betrachtete.
»Das Dekolleté ist übel«, sagte Whitney, die tatsächlich die Nacht auf Tess’ Sofa verbracht hatte. Sie war mit Kopfschmerzen aufgewacht, weigerte sich aber anzuerkennen, dass es ein Kater war, und hockte jetzt auf Tyners Schreibtisch. Sie trug einen Pullover und einen Rock von Tess. An Whitney sahen die zu großen Klamotten schick und bewusst gewählt aus.
»Danke, Whitney. Du bist eine echte Freundin.«
»Ich bin nicht unhöflich, aber wenn sie einen Lehrfilm über sexuelle Belästigung drehen, dann würdest du als die verführerische Sekretärin besetzt werden. Man könnte dir zwischen die Brüste stürzen und würde nie wieder zum Vorschein kommen. Es ist zu sexy. Dir fehlt Autorität. Du brauchst einen Schal.«
»Natürlich. Mir ist aufgefallen, dass der Präsident auch immer einen trägt, wenn er Ansprachen zur Lage der Nation hält.«
Whitney ignorierte sie und grub in ihrer Dooney & Burke-Handtasche herum, bis sie einen Hermès-Schal mit einem Western-Motiv hervorzauberte – Lassos, Sporen und Hufeisen in Kupfer und Gold vor blau-elfenbeinernem Hintergrund.
»Cool«, sagte Tess. »Kannst du jetzt auch noch einen Quarter hinter meinem Ohr hervorzaubern?«
»Ich kann noch viel bessere Tricks.« Whitney arrangierte den Schal so, dass er die entscheidenden Stellen verdeckte, ohne dass sie dadurch aussah, als wäre sie ein tuntiger Pfadfinder. »So, jetzt konzentriert man sich auf dein Gesicht, wie es so schön heißt.«
»Es passt zum Kostüm«, gab Tess widerwillig zu. »Aber wenn sie mich als Reporter nicht wollten, wieso sollten sie mich als Ermittlerin engagieren?«
Whitney legte ihr den Arm um die Schulter und trat neben sie vor den Spiegel. Ein kühles Schneeweißchen und ein rot angelaufenes Rosenrot starrten zurück. Weißbrot und Vollkornbrot, Backkartoffel und Rösti.
»Die Hälfte der Redakteure beim Beacon waren noch nicht mal da, als der Star zugemacht hat«, erinnerte Whitney sie. »Und die andere Hälfte kann sich kaum erinnern, wie ihre Frauchen aussehen, ganz abgesehen von den Hunderten von Bewerbern, die sie mit den Jahren abgelehnt haben. Du bist in ihren Augen jemand ganz Neues, jemand, der ihnen absagen könnte. Ich habe übrigens angedeutet, dass du den Job vielleicht nicht übernehmen könntest, weil du so ausgebucht bist.«
»Frauchen?« Das war Tyner, der seine temporäre Mitgliedschaft im Mädchenclub zu genießen schien. Tess kam es vor, als würde er ihr gleich einen Lippenstift oder ein Mascarabürstchen hinhalten. »Ich hätte nie gedacht, dass du mal so etwas Sexistisches sagen würdest, Whitney. Du meinst doch wohl Gattinnen.«
»Nein, ich meine Frauchen. Kleine Frauen. Helferinnen. Es gibt nur eine Frau in den oberen Rängen des Beacon, sie ist Managing Editor und hat die größten Eier von allen. Sie war mal verheiratet, vielleicht auch zweimal, aber ich glaube, die Typen sind jetzt im Zeugenschutzprogramm. Nun begnügt sie sich mit einem Sklavenjungen zu Hause, der nichts als eine gerüschte Schürze trägt und mit einem Scotch bereitsteht, wenn sie gegen zehn oder elf nach Hause kommt.«
»Klingt für mich nicht schlecht«, sagte Tess.
»Du hast doch auch so einen, oder?«
Die Familie Pfieffer, Gründer des Beacon, hatte vieles richtig eingeschätzt. Aber nicht die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt. Die Familie war davon ausgegangen, dass sich die Stadtmitte über die Jahre nach Westen bewegen würde, über die großen Kaufhäuser hinweg in Richtung der Howard Street. Also hatte Pfieffer III. nach dem Zweiten Weltkrieg, als die wachsende Zeitung ein neues Gebäude benötigte, in der Saratoga Street gebaut, nahe dem zehnstöckigen Hutzler’s, dem größten aller Kaufhäuser. Das Ergebnis war ungeheuer langweilig, ein Gebäude aus braunen Ziegeln, das überhaupt keinen Stil hatte. Den einzigen Charme hatte ein echter Leuchtturm ausgestrahlt, ein Bakelit-Leuchtfeuer, das auf einer kleinen Plattform über dem Eingang strahlte. Doch diesen Leuchtturm hatte man in den Siebzigern abgebaut, er war jetzt der heilige Gral der Sammler. Das Stadtmuseum würde alles für ihn geben, aber gerüchteweise hieß es, dass ein ehemaliger Star-Kolumnist ihn auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatte und jetzt im dritten Stock seines Stadthauses in Bolton Hill aufbewahrte, wo er quasi voodoohafte Rituale abhielt, um Baltimore zur ersten Großstadt ganz ohne Zeitung zu machen.
Tess schaute hoch zur leeren Plattform, als sie über die niedrigen, breiten Stufen schritt, sie ging zwischen vom Winde verwehten McDonald’s-Einwickelpapieren und zerknitterten Zeitungsseiten hindurch. Die wenigen Kaufhäuser, welche die Achtziger überlebt hatten, waren lange aus der Innenstadt verschwunden. Ein Penner schlief zwischen den Narzissensprösslingen in einem ungepflegten Blumenbeet. Scheibenwischer – genau genommen Scheiben wischende Erwachsene und sogar ein paar Scheiben wischende Rentner – standen an der Kreuzung. Wie die Pfieffers es vorhergesehen hatten, war der Stadtkern gewandert. Nur in die andere Richtung, gen Süden und Osten, zum Wasser hin. Der Beacon war ein einsamer und unbequemer Außenposten am Rande der städtischen Wildnis. Reporter trösteten sich mit der Nähe zu zwei der besten Essgelegenheiten in Baltimore, den offenen Ständen des Lexington Market und den weißen Tischtüchern des Marconi. Der Beacon lag auch angenehm nahe bei der Kirche Saint Jude Shrine. Glaubte man den Zeitungsgerüchten, pilgerten die Reporter nach Abgabe dorthin und beteten zum Heiligen der nutzlosen Wünsche: »Bitte, Heiliger Judas, lass die Chefs meine Story nicht kaputt machen.«
Feeney hatte Tess von diesem Ritual erzählt. Und jetzt musste sie sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Feeney derjenige war, der es vermasselt hatte. Es kam ihr unwahrscheinlich vor – ganz sicher war er zu betrunken gewesen, sich in das Gebäude zu schleichen, ein bisschen in den Computern herumzuhacken und spurlos zu verschwinden. Aber wenn die Spur zu ihm führte, dann war Tess entschlossen, ihn zu beschützen, selbst wenn sie noch keine Ahnung hatte, wie das gehen sollte.
Im fünften Stock drängte die Sekretärin des Herausgebers, eine dieser merkwürdig besitzergreifenden Frauen, die immer an den Ellenbogen mächtiger Männer klebten, Tess in einen leeren Konferenzsaal, der sich neben dem Herausgeberbüro befand. Es war ein opulenter Saal, in dem man richtig auffahren konnte. Heutzutage gab es natürlich nur Kaffee und Croissants, aber früher wurden hier die wichtigsten Einwohner der Stadt verköstigt. Mahagonitisch, orientalischer Teppich, ein silbernes Teeservice auf einem Mahagoni-Sideboard, die unvermeidlichen Aquarelle Baltimores im 19. Jahrhundert. Wie mussten sich die Ressortleiter vorkommen, die immer wieder aus diesem schicken Saal runter in die chaotische Redaktion mussten? Diejenigen, die dazu da waren, die Brücke zu schlagen zwischen dieser Kommerzialität und den romantischen Idealen des Journalismus? Wie gelang es ihnen, diese beiden Welten miteinander zu verbinden, die Geschäfte und den Inhalt?
Amnesie, dachte sich Tess. Leitende Redakteure vergaßen ziemlich schnell, was sie von Reporterarbeit verstanden. Wenn ein Mann namens Smith mit seinem Laster in ein Restaurant fuhr und dabei fünf Leute umbrachte, verstanden leitende Redakteure nicht wirklich, wieso man den Kerl nicht anrief und nach allen Details fragte. »Seine Nummer steht doch bestimmt im Telefonbuch«, sagten sie, als gäbe es nur einen Smith und als wäre er nicht im Gefängnis, wo es kein Telefon gab. Und wenn man wie durch irgendein Wunder tatsächlich diesen Smith fand und die ganze Story anschleppte, sagten Redakteure: »Ja, dafür bezahlen wir dich auch.« Oder: »Morgen ist voll, das muss warten.«
Und jetzt musste sich Tess drei von diesen gedankenlosen Monstern zugleich stellen, und dazu noch dem Herausgeber. Dem Executive Editor, dem Managing Editor und dem Deputy Managing Editor.
»Gleich drei leitende Redakteure«, sagte sie laut und schaute zum Fenster raus gen Norden. »Na ja, Herkules hat ja auch die Hydra besiegt.«
»Und die hatte neun Köpfe.«
Ein Mann war hinter ihr in den Saal gekommen, ein Mann mit rosa Wangen und braun schimmerndem Haar, das ihm in die Augen fiel. In Bluejeans und T-Shirt wäre er für 25 durchgegangen. In seiner grauen Wollhose, mit dem roten Schlips und dem blau-weiß gestreiften Oxford-Hemd sah er mehr wie 45 aus. Aber wie niedliche 45, fand Tess und betrachtete seine muskulösen Unterarme, das breite Grinsen, die jungenhafte Art, mit der er sich das Haar aus den Augen strich.
»Jack Sterling«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ich bin der Deputy Managing Editor.«
»Tess Monaghan.« Aus Gewohnheit packte sie seine Hand fest, so wie sie Rositas gedrückt hatte, als sie einander kennenlernten. Aber Jack Sterling drückte noch fester zurück. Nervös ließ sie los, sie verspürte ein Gefühl, das sie im Grunde gar nicht benennen wollte.
Er setzte sich auf die Kante des polierten Tisches. Er betrachtete sie ganz offen, ließ seine rechte Hand kreisen und massierte mit der linken das Handgelenk.
»Baltimore-Gewächs«, sagte er und sprach zu sich, als stünde sie auf der anderen Seite eines Einwegspiegels. »Aber mit irgendetwas gemischt. Etwas Solides, gute Landgene. Vielleicht 27 oder 28 Jahre alt. Sportlich. Mag weder Strumpfhosen noch Diätgetränke. Hab ich recht?«
»Aus dem Mittleren Westen«, entgegnete sie. Und fuhr fort: »Protestantischer Maisbauernjunge, einstmals Wunderkind, immer noch Wunder, aber nicht länger Kind. Spielt wahrscheinlich Rackettball – er dehnt die Gelenke und reibt sich die Unterarme, wenn er spricht, so wie es Sportler machen. Hab ich recht?«
Sterling lachte. Gut, er hatte Humor. »Nicht schlecht. Das Spiel ist Squash, wenn mein Rücken mitmacht, und mein Handgelenk tut weh, weil 22 Jahre in diesem Geschäft mir ein chronisches Karpaltunnel-Syndrom eingetragen haben.«
Wieder massierte er sein Handgelenk, dann ließ er die Hand plötzlich sinken, als hätte er jetzt erst bemerkt, was er da tat. »Mittlerer Westen? Ja, Oak Park, Illinois, ist wohl so sehr Mittlerer Westen, wie es nur geht. Wie sind Sie darauf gekommen? Ich dachte, ich hätte mir in den letzten paar Jahren ein bisschen Ostküstenschmiss zugelegt.«
Tess lächelte unverbindlich. Whitney hatte ihr grobe Umrisse derjenigen vermittelt, die sie heute treffen würde, aber sie hatte keinen Grund, das preiszugeben. »Baltimore ist nicht unbedingt die Stadt, in der es besonders schmissig zugeht. Wenn Sie nicht aufpassen, dann haben Sie beim Sprechen bald auch ein R in Worten wie Wasser und waschen.«
Jack Sterling beugte sich zu ihr hin. Seine Augen waren noch blauer als die Streifen auf seinem Hemd. »Wie geht es in Baltimore denn zu?«
Bevor ihr eine kluge Antwort einfiel, kamen die anderen Chefs in den Saal. Ein bisschen schuldbewusst, als wäre er dabei erwischt worden, sich mit dem Feind zu solidarisieren, nahm Sterling zwischen ihnen Platz.
Die vier sahen einander ähnlicher, als sie wussten. Alle weiß. Keiner jünger als 35 oder älter als 60. Zwei Anzüge – graue Nadelstreifen an dem kleinsten Mann, offenbar dem Herausgeber Randall Pfieffer IV., und ein grelles Türkis an der einzigen Frau, Managing Editor Colleen Reganhart, die über jene Kombination aus dunklem Haar, heller Haut und wässrigen Augen verfügte, die man auf der Monaghan-Seite von Tess’ Familie schwärzestes Irisch nannte.
Der letzte Mann war ebenso angezogen wie Sterling, aber sein blau gestreiftes Hemd war ein wenig besser gearbeitet, sein roter Schlips schwerer und seidiger.
»Lionel C. Mabry«, sagte er, und er streckte Tess eine schlaffe Hand hin. Natürlich, die Haare. Wie hatte sie die Haare übersehen können? Die Haare waren dünner, als Tess sich vorgestellt hatte, und Whitney war ungewöhnlich taktvoll gewesen, sie als blond zu beschreiben, aber es war tatsächlich eine Mähne. Mabrys Haar war grau-gelb, wie verdünnte Pisse. Davon abgesehen hielt er sich gut, er hatte etwas Patrizierhaftes an sich. Aber alles an ihm war irgendwie ein wenig mürbe – er murmelte, seine braunen Augen wirkten abwesend, sein Händedruck war schlapp.
»Setz dich, Lionel«, befahl Colleen Reganhart. Sie verlieh seinem Namen eine Extrasilbe und damit etwas Feminines. Li-o-nelle. Er lächelte sie an, als wäre er dankbar für die Anweisung, und dann glitt er in einen der großen Lederstühle am Tisch. Colleen saß links von ihm, Jack rechts. Tess und der Herausgeber saßen jeweils an einer Stirnseite, eine merkwürdige Anordnung.
Pfieffers Stuhl, das fiel ihr auf, war ein wenig höher, vielleicht, um ihm einen Vorteil zu verleihen, den er an Land nicht hatte, denn er war keine 1,60 cm groß. Deshalb wurde Randall Pfieffer IV. von den Angestellten hinter seinem Rücken Eins-Sechzig genannt. Der Spitzname war nicht liebevoll gemeint, aber doch großzügig, immerhin gestand er dem Herausgeber ein paar Zentimeter mehr zu, als die Natur es getan hatte. Aber sein thronartiger Stuhl war eine Fehlkalkulation: Seine Füße erreichten den Boden nicht, sodass erst recht auffiel, wie klein er war. Glücklicherweise hatte er kein Problem, mit seiner hohen heiseren Stimme den Saal zu füllen. Glaubte man Whitney, so war er Cheerleader in Dartmouth gewesen (»Wenn es zur Sprache kommt, sag ›Brüller‹«).
Er eröffnete das Meeting. »Miss Monaghan, wir haben Sie heute hergebeten, weil wir eine Aufgabe zu vergeben haben, für die Diskretion, Takt und gewisse Kenntnisse über unser Geschäft vonnöten sind. Man hat uns versichert, dass sie über all diese Qualitäten verfügen.«
Whitney hatte also richtig dick aufgetragen. »Das hoffe ich, Mr. Pfieffer.«
»Ich möchte Ihnen gegenüber betonen, dass, soweit es uns betrifft, kein Verbrechen begangen wurde, es sind auch keine Fehlinformationen weitergegeben worden. Wir sorgen uns nur, weil wir die Wynkowski-Story am Sonntag veröffentlichen wollten. Die – ungeplante – Veröffentlichung hat uns dazu gezwungen, für den Sonntag nach einer weiteren Seite-eins-Story Ausschau zu halten. Es stört uns, dass unsere Producer … umgangen wurden, was zu diesem Dilemma führte.«
Dreißig Sekunden Gespräch, schon lag die erste Lüge auf dem Tisch. »Selbstverständlich«, stimmte Tess zu, und aus reiner perverser Fröhlichkeit setzte sie hinzu: »Ist Computerbetrug nicht ein Bundesvergehen? Wenn Sie wirklich herausfinden wollen, wer dahintersteckt, ist das FBI doch wahrscheinlich viel besser ausgerüstet, Ihr Rätsel zu lösen.«
Die Redakteure sahen einander an. Jack Sterling begann zu sprechen, wurde aber von Reganhart unterbrochen.
»Wie Randy schon sagte, stehen wir zu der Story, obwohl es uns nicht überraschen würde, wenn dieses Arschloch Wynkowski uns verklagt. Ich möchte noch einmal betonen, dass er keinerlei Gründe für eine Klage hätte. Bisher hat man uns noch auf keinerlei Irrtümer hingewiesen, und ich denke, er muss sich als Person der Zeitgeschichte ansehen lassen. Also müsste er einen echten Fehler nachweisen. Aber wir würden es bevorzugen, wenn die Öffentlichkeit nicht erfährt, dass die Story eigentlich nicht … eigentlich später veröffentlicht werden sollte. Das könnte das Vertrauen unserer Leser in unser Produkt erschüttern.«
Produkt. Colleen Reganhart hatte definitiv die Seiten gewechselt. Wenn man Reporter war, dann war es eine Story, ein Artikel, dein eigen Blut auf der Seite. Je höher man in der Struktur wanderte, desto eher könnte es sich auch um Dosenschinken handeln.
»Sicher, wenn Sie das FBI oder auch nur die Polizei Baltimores um Hilfe bitten, könnten Sie nicht kontrollieren, was mit den Informationen geschieht, die Sie aufdecken«, sagte Tess unschuldig, als dächte sie laut nach. »Wenn sich herumspräche, dass die Story aus Versehen – Entschuldigung, dass sie zu früh – veröffentlicht wurde und dass es Ungenauigkeiten darin gäbe, könnte Wink Wynkowski vielleicht tatsächlich Unachtsamkeit nachweisen, was notwendig ist, damit eine Person des Zeitgeschehens Klage erheben kann. Auf jeden Fall wäre das ein interessantes Verfahren, wahrscheinlich das erste seiner Art.«
Reganhart zog die Augenbrauen hoch; dunkle gerade Linien, die sie aussehen ließen, als würde sie die ganze Zeit missbilligend schauen. »Vielleicht. Unsere Anwälte sagen, dass er Nachlässigkeit beim Umgang mit unseren Sicherheitssystemen nachweisen könnte. Aber das ist alles. Wir stehen zu unserer Story. Wir sind sogar durchaus stolz, diesen elenden Scharlatan vorgeführt zu haben.« Mit ihrem rabenschwarzen Haar, dem knallblauen Anzug und dem frechen Mundwerk erinnerte sie an den elenden Myna-Vogel, den man aus dem Zoo Baltimores hatte entfernen müssen, weil er Besucher beschimpfte.
»Aber wieso haben Sie so eine heiße Story nicht publizieren wollen?«, fragte Tess. »Mir ist schon klar, dass es keinen echten Wettbewerber gibt, aber Sie würden doch eine solche Geschichte bringen wollen, bevor Wynkowski seinen Letter of Intent mit der außerstädtischen Basketballmannschaft unterzeichnet. Es wäre doch schrecklich, erst zu berichten, dass die Stadt eine Mannschaft bekommt, und dann nachzuschieben, dass der Besitzer niemals den Prüfungen der NBA standhalten würde. Und was wäre, wenn die Stadt schon begonnen hätte, in die neue Sporthalle zu investieren, nur um dann festzustellen, dass Wink schon Angebote für seine Mannschaft einholte?«
Mabry schien sich für eine Sekunde zu konzentrieren, wie ein autistisches Kind, das einen Moment lang klar denken kann. »Nachrichten auszuwählen ist keine Wissenschaft, Miss Monaghan. Man muss Interessen abwägen. Männer können ihre Vergangenheit auch hinter sich lassen. Es ist nicht unsere Aufgabe zu beurteilen, ob Mr. Wynkowski als NBA-Eigentümer geeignet ist oder nicht. Oder die Entscheidungen vorwegzunehmen, die die Liga treffen wird. Wir wollen in diesem Sinne keine ›Mitspieler‹ sein. Wir mussten uns fragen, was relevant ist. Was ist fair? Ist es wirklich notwendig, Mr. Wynkowskis unangenehme, aber letztlich irrelevante Vergangenheit zu enthüllen? Und wenn wir das tun, sollte er dann nicht das Recht haben zu erfahren, wer ihm die Vorwürfe macht? Das vor allem war das Problem hier. Es ist immer noch das Problem, das mich beschäftigt.«
Mabry hatte gesagt, was er zu sagen hatte, und zog sich in seine private Welt zurück. Pfieffer hatte seit der Eröffnung nichts mehr von sich gegeben, hörte aber genau zu; er beobachtete das Zusammenspiel seiner Chefredakteure sehr interessiert. Colleen starrte Lionel an, während Jack Sterling auf einem Block herumkritzelte, der vor ihm lag. »Die Story ist also prima, und alle sind glücklich damit – außer natürlich Wink. Was soll ich jetzt tun?«
Wieder begannen Colleen Reganhart und Jack Sterling gleichzeitig zu sprechen. Wieder unterbrach sie ihn.
»Morgen werden unsere Ressortleiter Marvin Hailey und Guy Whitman Ihnen die Abläufe hier erklären und eine Liste der Personen aushändigen, mit denen Sie sprechen sollten. Wir gehen davon aus, dass Sie nicht herausfinden können, wer verantwortlich ist, aber wir schätzen, Sie können den Großteil der Leute ausschließen, die zur entsprechenden Zeit im Haus waren.«
»Kann Ihr Sicherheitssystem nicht wenigstens ausspucken, wer schon gegangen war?«
»Unglücklicherweise haben wir letzten Herbst eine neue Anlage bekommen, nachdem die alte, äh, geknackt wurde. Das neue System bricht dauernd zusammen, es läuft schon seit zwei Wochen gar nicht mehr, sodass wir die Türen mit Mülleimern aufhalten müssen. Aber ich bin sicher, Sie werden feststellen, dass die meisten unserer Angestellten zu Hause bei ihren Familien waren, als es zu dem Zwischenfall kam.« Reganhart ließ »Familien« klingen, als wäre es ein Schimpfwort. »Wir möchten, dass Sie mit allen relevanten Nachrichtenredakteuren sprechen, diese Gespräche auf Band aufzeichnen und dann die Bänder und die Abschriften an uns weitergeben. Alles, was Sie feststellen, ist Eigentum des Beacon. Ihr Vertrag wird zudem eine Vertraulichkeitsklausel beinhalten, die es untersagt, diese Angelegenheit mit anderen Nachrichtenorganisationen zu diskutieren – oder überhaupt irgendjemandem. Ihre Informationen gehören uns.«
Tess wollte nach den Filmrechten fragen, hielt sich dann aber zurück. »Möchten Sie, dass ich hier bei Ihnen arbeite oder in meinem Büro in Mount Vernon?«
»Uns wäre lieber, wenn Sie hier arbeiten«, sagte Jack Sterling, und diesmal gelang es ihm, schneller zu sein als Colleen Reganhart. »Sie bekommen ein Büro im zweiten Stock, wo die alten Pressen standen. Solange Ihr Vertrag läuft, haben Sie auch eine Ausweiskarte und eine befristete Identifikationskarte, also können Sie kommen und gehen, wie Sie wollen.«
»Was ist mit der Gewerkschaft? Wird sie die Angestellten nicht daran hindern, mit mir zusammenzuarbeiten?«
Colleen Reganhart erhob sich. »Wir kümmern uns um die Gewerkschaft.«
Pfieffer sprang auf, er stemmte die Hände in die Hüften, als wäre er bereit, eine Mannschaft anzufeuern, während sich Sterling reckte, wobei sein unterer Rücken hörbar knackte. Nur Lionel Mabry saß weiter da und starrte durchs Fenster eine braunbrüstige Taube auf dem Sims an. Selbst nach Taubenmaßstäben war das ein ekelhaftes, fies aussehendes Biest.
»Was für ein hübscher, hübscher Vogel«, säuselte Lionel vergnügt. »Das allererste Rotkehlchen.«