Читать книгу Die weiße Giraffe - Lauren St John - Страница 10
• 6 •
ОглавлениеDie Tür des Hauses mit dem Strohdach öffnete sich, und eine große, schlanke Frau, die Martine etwas älter als 60 Jahre schätzte, trat ins Freie. Sie trug Jeans und ein kurzärmliges Khakihemd mit einem Löwensymbol auf der Brusttasche. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Martine konnte es kaum fassen, dass ihre Großmutter Blue Jeans trug, doch schon trat diese auf sie zu und nahm – ohne Ankündigung – Martines Gesicht in beide Hände. Aus der Nähe sah Martine, dass das blonde Haar ihrer Großmutter mit weißen Strähnen durchsetzt und ihre kastanienbraune Haut von einer Million Falten zerfurcht war. Sie blickte Martine mit einem völlig undurchschaubaren Gesichtsausdruck an.
«Du bist ja erwachsen», war alles, was sie sagte. Dann wandte sie sich an Tendai. «Und du hast dich verspätet, mein Freund. Du hast doch nicht etwa wieder die verrückte alte Hexe besucht?»
Mit Schrecken stellte Martine fest, dass Gwyn Thomas von Grace sprach. «Wir haben uns verfahren», warf sie schnell ein. «Wir sind kreuz und quer durch Kapstadt geirrt. So bin ich in den Genuss einer Stadtrundfahrt gekommen.»
Blitzschnell drehte sich Gwyn Thomas zu Martine und stieß hervor: «In diesem Haus spricht man nur, wenn man dazu aufgefordert wird.» Dann drehte sie sich forsch um und stolzierte wieder ins Haus hinein.
Tendai folgte ihr, Martines Koffer an einem Arm. Er blickte Martine nicht an, als er an ihr vorbeiging.
Martine ging den beiden mit pochendem Herzen hinterher. Im Eingang saß eine rostbraune Katze, die sich putzte und Martine neugierig musterte, als diese näher kam.
«Junge, Junge – das kann ja heiter werden», murmelte Martine vor sich hin. Doch die rostbraune Katze gähnte nur, schloss die Augen und legte sich zu einem Schläfchen in die Sonne.
Tendai trat aus der Tür wieder ins Freie und sagte: «Deine Großmutter erwartet dich.»
Ohne Tendai fühlte sich Martine noch einsamer als zuvor. Sie trat über die Schwelle ins Haus und blickte sich um. Im Inneren des Hauses war es kühl, es herrschte eine friedliche Stimmung, und auf dem glänzenden Steinboden standen bequeme abgewetzte Ledersessel. Eine andere Katze – diese war schwarz und weiß – lag zusammengerollt auf einem alten Klavier, an den Wänden hingen Ölgemälde mit Geparden und Elefanten. Die Sichtbalken und die Strohdecke ließen ein Gefühl von Weiträumigkeit und Ruhe entstehen.
Martines Großmutter kam mit einem Glas Milch und einem Teller mit Eierbroten aus der Küche. Sie machte Martine ein Zeichen, sich an den Esstisch zu setzen. Martine hasste Eierbrote und war vom Essen bei Grace noch mehr als gesättigt. Doch sie sagte nichts und begann im Brot herumzustochern.
«Bei mir gibt es keine Limo», sagte Martines Großmutter. «Limo ist schlecht.» Wie eine Löwin stand sie oben am Tisch, mit ihren blauen Augen fixierte sie Martine herausfordernd.
«Okay», sagte Martine überdrüssig.
«Als Erstes muss du die Regeln des Hauses lernen. Berühre nichts, was nicht dir gehört. Rennen, Schreien, Fluchen und Süßigkeiten sind verboten. Ich besitze keinen Fernseher. Ich fahre zweimal im Jahr nach Kapstadt. Also auch kein Shopping. Und auch kein Fast Food. Wir bauen unser eigenes Gemüse an. Du machst dein Bett selbst und hilfst in Haus und Garten. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, ist es Faulheit. Hast du Fragen?»
«Darf ich atmen?», fragte Martine frech.
«Und kein Herummaulen!»
Martine erschlaffte in ihrem Stuhl. Die Eierbrote ließ sie unberührt.
«Her damit», sagte ihre Großmutter und nahm ihr den Teller mit den Broten weg. «Ich hätte wissen müssen, dass die Verrückte für dich kochen würde. Dann isst du sie eben zum Abendessen. Weggeworfen wird nichts.»
Für den Rest des Tages wurde alles nur noch schlimmer. Martine war nach dem langen Flug und den Abenteuern des Vormittags schwindelig und stets den Tränen nahe. Doch nachdem sie geduscht hatte, beharrte ihre Großmutter darauf, mit ihr in das nächste Dorf zu fahren, um sie einzukleiden. Das Kaff, in das sie fuhren, hieß Storm Crossing und bestand aus einer einzigen Straße mit ein paar Läden. Im Kleidergeschäft wurde sie mit einer Schuluniform und einem Paar Schnürstiefeln ausgestattet, außerdem kleidete sie ihre Großmutter mit zwei weißen Blusen, einer grauen Krawatte, zwei dunkelblauen Röcken, einer Windjacke und einem Blazer ein, auf dem ein Abzeichen mit einem pelzohrigen Luchs aufgenäht war. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass sie schon am nächsten Tag zur Schule gehen musste. Man gönnte ihr also nicht einen einzigen Tag Pause, um sich an ihr neues Zuhause zu gewöhnen.
«Dafür bleibt dir noch genug Zeit», sagte ihre Großmutter. «Du hast schon genug von der Schule verpasst.»
Zu allem Überdruss rutschte Martine beim Abendessen – zu dem glücklicherweise nicht nochmals die Eierbrote aufgetischt wurden – auf dem frisch gebohnerten Fußboden aus, als sie Großmutters Lieblingsteekanne in die Küche zurücktrug. Sie zerbrach in tausend Stücke.
«Was hat sich Veronica nur gedacht?», wetterte die Großmutter. «Das musste ja so kommen. Wie soll ich mich nur um ein Kind kümmern?»
Sie ließ sich nicht dabei helfen, die Scherben zusammenzukehren. Martine schlich schweigend und weinend die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie war völlig verzweifelt. Sie steckte im tiefsten, dunkelsten Afrika ohne Eltern und Freunde und lebte bei einer Großmutter, die sie ganz offensichtlich nicht ausstehen konnte. Sie hätte kein schlechteres Los ziehen können.
Soweit sie es sehen konnte, hatte ihr neues Leben nur etwas Gutes, und das war Sawubona. Sie hatte sich schon halb in das Reservat verliebt. Die Sonne war am Untergehen, nachdem sie vom Einkaufen zurückgekommen waren. Eine Herde Springböcke bewegte sich in einer Staubwolke zum Wasserloch vor dem Haus. Martine hatte sich dem harten Griff ihrer Großmutter gerade lange genug entzogen, um in den unteren Teil des Gartens zu gehen und die Springböcke durch den hohen Zaun des Reservats hindurch zu beobachten.
Martine musste sich kneifen, um sich zu vergewissern, dass das kein Traum war. Gestern noch war sie schlotternd im grauen, düsteren England aufgewacht, und jetzt, nur einen Tag später, saß sie unter einem kupferroten Himmel mit lila Streifen und spürte die wärmende Abendsonne auf ihrer Haut. Die jungen Springböcke hüpften um die Wasserstellen, als hätten sie kleine Sprungfedern unter ihren Hufen, und die Perlhühner, die eben noch wie rundliche, blaugefleckte Könige die Landstraße entlang gewatschelt waren, riefen aus den Bäumen, wo sie sich zum Schlafen niedergelassen hatten. Martine legte sich ins Gras und atmete die berauschenden Gerüche des afrikanischen Abends ein: Sie kamen von Feuerstellen, von Wildtieren, vom herbem Gras, von der Natur in ihrer Überfülle. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches erlebt.
Auch ihr Schlafzimmer war etwas Besonderes. Es befand sich ganz oben unter dem Dach und hatte eine aus dem Stroh geschnittene Dachluke. Auch wenn es sehr klein war, hatte es doch seinen eigenen Charakter und Charme. An einer Wand stand ein Bücherregal, vollgestopft mit Büchern über Tiere und Afrika. Das Bett war mit frischen, weißen Laken bezogen. Darüber lagen eine gesteppte Flickendecke und mehrere große, weiche Kissen. Das Allerbeste an ihrem Zimmer war jedoch, dass man von der Dachluke aus das Wasserloch überblicken konnte, ein braunes stehendes Gewässer, umgeben von dornigem Gestrüpp. Tendai hatte ihr erzählt, dass sich die meisten Wildtiere des Reservats bei Morgengrauen oder in der Abenddämmerung hier zum Trinken einfanden.
Doch jetzt war es dunkle Nacht. Die Matratze gab leicht nach, als sich Martine hinlegte. Sie trocknete ihre Tränen an einem Ärmel und fragte sich, ob ihre Mutter wohl wirklich hier in Sawubona gelebt hatte. Der Gedanke, dass dies hier einmal Veronicas Zimmer gewesen sein mochte, heiterte sie auf. Vielleicht hatte Veronica diese Bücher gelesen oder sich in diese Steppdecke eingekuschelt. Aber weshalb in aller Welt hatte sie Martine nie von Sawubona erzählt?
Martine war so müde, dass sie es kaum schaffte, ihren Pyjama anzuziehen. Als sie dann zwischen die Bettlaken schlüpfte, jagten sich in ihrem Kopf die Bilder eines langen Tages. Und bevor ihr schließlich die Augen zufielen, dachte sie an die weiße Giraffe.