Читать книгу Die weiße Giraffe - Lauren St John - Страница 8

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An diese erste Fahrt nach Sawubona sollte sich Martine später noch oft erinnern. Tendai, der selber Zulu war, erklärte ihr, dass «Sawubona» in der Sprache der Zulu einen Gruß bedeutete. Sie verließen Kapstadt in seinem verbeulten Jeep über die Küstenstraße und fuhren an wunderschönen kleineren und größeren Buchten vorbei. Das dunkelblaue Meer ging am Horizont in den wolkenlosen Himmel über. Einige Strände waren wild, von hoch aufschäumender Gischt überspült und fast bis zum Wasser mit Bäumen bestanden. An anderen Stränden reihten sich regenbogenfarbene Strandhütten aneinander, und Surfer durchpflügten die Brandung auf ihren grellbunten Brettern. An wieder anderen Stränden sahen sie Pinguine und Robben. Und über der ganzen Szenerie thronten die malvenfarbigen Felsen eines Berges, der oben wie abgeschnitten war und – wie könnte es anders sein – Tafelberg hieß.

Nach etwa einer Stunde verließen sie die Küste in Richtung Inland. Martine staunte, wie schnell sich die Heidelandschaft in das Afrika verwandelte, das sie von Fotos her kannte. Blasse, stachelige Dornbäume und zerzauste Büsche standen verstreut im hohen gelben Gras, das in der gleißenden Sommersonne glühte, als würde es von unten beleuchtet. Die leere Landstraße lag wie ein endloser Teerstreifen vor ihnen. Als Martine das Fenster hinunterkurbelte, drang der staubige, tierische Geruch des Busches in den Jeep.

Unterwegs sprach Tendai von Sawubona und über seine Arbeit als Fährtenleser im Reservat. Dabei stellte sich heraus, dass Sawubona mehr war als ein bloßes Reservat. Es war ein Schutzgebiet für Wildtiere, und Tendais Aufgabe bestand darin, für das Wohlergehen seiner Bewohner zu sorgen. Etwa ein Viertel der Tiere in Sawubona waren dort geboren. Die anderen waren in den Park gebracht worden – einige aus Dürregebieten, Wildreservaten oder Zoos, die schließen mussten. Andere hatte man nach Sawubona gebracht, weil sie sich verletzt hatten oder auf der Jagd von ihren Eltern getrennt oder von diesen verstoßen worden waren.

«In zwanzig Jahren», sagte Tendai, «habe ich nie erlebt, dass Henry Thomas, dein Großvater, auch nur ein einziges Tier abgewiesen hätte. Kein einziges!»

Zum ersten Mal erwähnte jemand ihren Großvater. Martine spitzte die Ohren. Doch schon Tendais nächster Satz traf sie völlig unvorbereitet.

«Es tut mir ja so leid, Martine, dass ich nicht an seiner Seite sein konnte in jener Nacht, als er gestorben ist.»

Es war ihr ohnehin schon schwindlig gewesen von der langen Flugreise und vor lauter Hunger, doch bei dieser Nachricht drehte sich alles wie wild um sie. Offensichtlich hatte Tendai keine Ahnung, dass sie nicht einmal davon wusste, einen Großvater zu haben, geschweige denn, dass dieser tot war.

Vorsichtig sagte sie. «Würde es dir etwas ausmachen, mir zu sagen, wie er ums Leben gekommen ist?»

Martine sah, wie Tendais Hände sich am Lenkrad verkrampften. Er sagte: «Ich kann’s versuchen.»

Obwohl seit dem Tod ihres Großvaters beinahe zwei Jahre vergangen waren, schienen die Umstände seines Todes nach wie vor ungeklärt. Die Polizei ging davon aus, dass Henry eine Bande Wilderer dabei überrascht hatte, wie sie Giraffen rauben oder vielleicht auch töten wollten, um sich dann mit Jagdtrophäen aus dem Staub zu machen. Es war an einem Wochenende passiert, das Tendai im Norden des Landes bei Verwandten verbracht hatte, einem Wochenende, an dem Sawubona besonders verletzlich gewesen war. Offenbar hatte es einen Kampf gegeben. Auf jeden Fall hatte man Henry tödlich verletzt neben einer erlegten Giraffe gefunden.

«In meinem Dorf gab es kein Telefon», sagte Tendai. «Ich erfuhr also erst bei meiner Rückkehr am Montag von diesem schrecklichen Ereignis. Doch da war es schon zu spät. Im Sommer bitten die Zulus ihre Regenkönigin um Regen für ihre Felder. In jenen Tagen schien sie ihre Wünsche zu ernst genommen haben. Während zwei Tagen hatten heftige Gewitterstürme die ganzen Spuren weggewaschen, abgesehen davon, dass die Polizei mit ihren Fahrzeugen am Tatort herumgefahren war. Als ich nach drei Tagen endlich vor Ort eintraf, waren alle Spuren verschwunden.»

Die Wilderer konnten nie festgenommen werden. Bis zum heutigen Tag wusste keiner, ob man Henry ermordet hatte oder ob er durch einen unglücklichen Zufall bei dem Streit ums Leben gekommen war. Und völlig unerklärlich blieb, weshalb die Wilderer ohne ihre Beute, die Giraffe, geflohen waren, auf die sie es doch offensichtlich abgesehen hatten.

«Und die Polizei hat überhaupt keine Spuren gefunden?», fragte Martine besorgt. Die Nachricht vom Tod ihres Großvaters stimmte sie traurig. Doch noch beunruhigender war die Tatsache, dass ausgerechnet in der Gegend, die zu ihrer neuen Heimat werden sollte, Mörder frei herumliefen.

«Ach die Bullen sind doch zu blöd! Aber mach dir mal keine Sorgen. Selbst eine Spinne hinterlässt eine Spur. Auch wenn es Jahre dauert, wir werden die Schuldigen schon finden. Und wenn wir geduldig genug sind, finden sie vielleicht sogar uns.»

Das Gesicht des Zulus hatte sich während des Gesprächs verfinstert. Nun ging ein leichter Ruck durch seinen Körper, als habe er sich vergegenwärtigt, dass Martine und er sich eben erst kennengelernt hatten und dass er vielleicht des Guten zu viel erzählt hatte. Mit seinem entwaffnenden Lächeln sagte er nun: «Dein Großvater hatte das Herz eines Kriegers. Er war der allerbeste Wildhüter. Einfach Spitzenklasse!»

Martine verspürte ein warmes Gefühl für den Großvater, den sie nie gekannt hatte. Er musste ein guter Mensch gewesen sein. Der neue Wildhüter war ein junger Mann namens Alex du Preez. Der Tonfall, in dem Tendai seinen Namen ausgesprochen hatte, gab Martine den Eindruck, dass Mr. du Preez nicht gerade ganz oben auf Tendais Beliebtheitsliste stand.


Nun fuhren sie durch ein Dorf mit Strohhütten und vereinzelten Häusern, in deren Vorgärten Sonnenblumen und Maispflanzen wuchsen. Auf einem Feld spielten ein paar Kinder Fußball. Der Jeep verlangsamte seine Fahrt und bog in eine kleine, mit Bananenstauden bestandene Nebenstraße ein, an deren Ende ein blassgrünes Haus mit Wellblechdach stand. An der Hausmauer lehnte ein ramponiertes Coca-Cola-Schild. Drei Hühner spazierten durch die Haustür ins Freie.

Martine kletterte aus dem Jeep. «Ist das das Haus meiner Großmutter?», fragte sie. Sie hatte Mühe, ihre Überraschung zu verbergen. Auch wenn sie nicht wusste, was sie erwartete, darauf war sie nicht gefasst gewesen.

«Nein, mein Kind, Tendai will nur dich zu Besuch bringen bei mir.»

Als Martine sich umdrehte, sah sie die wohl dickste Frau, der sie je begegnet war, über den kargen Rasen wackeln. Sie trug ein traditionelles grellbuntes Kleid mit einem dazu passenden, bananengelben, kalahariroten und limonengrünen Kopftuch. «Hab ihm gesagt, du bist sicher hungrig», sagte sie mit butterweicher Stimme. «Und ich hatte recht. Schau dich doch an, Kind, du bist nur Haut und Knochen.»

«Martine, darf ich dir meine Tante vorstellen: Miss Grace», sagte Tendai mit sichtlichem Stolz. «Die beste Köchin der Welt.»

Tendai und Martine folgten Grace in das grüne Haus. Martine fragte sich, ob ihre Großmutter wohl von diesem Zwischenstopp wusste, doch sie war zu hungrig, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Wohlgerüche, die von der Küche aus in ihre Nase drangen, waren einfach himmlisch.

Wie Tendai hatte sie sich auf einem selbst gezimmerten Stuhl im einfachen, aber makellos sauberen Wohnraum niedergelassen. Der Boden war mit Grasmatten bedeckt, und an der Wand hing ein altes Kalenderblatt, das eine tropische Insel zeigte.

Nach wenigen Minuten kam Grace mit zwei Riesentellern aus der Küche, auf denen sich Omeletts aus frischen Landeiern mit Waldpilzen, knusprigem Speck und in braunem Zucker gebratenen Tomaten türmten. Martine kam es vor, als habe sie seit Jahren nichts mehr gegessen, und sie genoss jeden Bissen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Als sie fertig war, konnte sie Tendai vorbehaltlos zustimmen: Grace war die beste Köchin der Welt.

Als sie sich Grace zuwenden wollte, um sich bei ihr zu bedanken, sah sie, dass diese sie aufmerksam musterte.

«Das Mädchen ist geschnitten aus dem Gesicht von Veronica.»

Martine schoss auf, als sei sie verbrüht worden. «Sie haben meine Mama gekannt?», rief sie aus.

«Tante!», schrie Tendai und sprang vom Tisch auf. «Ich habe dir doch gesagt, dass du nichts sagen sollst.»

«Schweig, Junge!», sagte Grace energisch. «Es gibt zu viele Geheimnisse in Sawubona. Das Mädchen hat das Recht zu kennen die Wahrheit.»

«Welche Wahrheit?», fragte Martine.

«Martine», sagte Tendai. «Es tut mir leid, aber wir müssen jetzt gehen.»

«Aber …»

«Bitte!»

Martine blickte zuerst Tendai an, dann Grace. In ihrem Kopf jagten sich Fragen, die sie nicht zu stellen wagte. Widerwillig folgte sie Tendai zum Jeep hinaus Plötzlich packte Grace sie am Arm. «Warte», zischte sie. Als sie ihre Hand auf Martines Stirn legte, schoss es wie ein Stromstoß durch ihren Körper. Grace blickte sie mit weit geöffneten Augen an.

«Du hast die Gabe, Kind», flüsterte sie. «Genau so, wie es gesagt haben die Älteren.»

«Welche Gabe?», fragte Martine im Flüsterton zurück.

Doch Grace schüttelte nur den Kopf und sagte: «Pass gut auf, Kind. Die Gabe kann sein ein Segen, aber auch ein Fluch. Du musst entscheiden weise.»


Die weiße Giraffe

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