Читать книгу Die weiße Giraffe - Lauren St John - Страница 5

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Aller guten Dinge sind drei, heißt es oft. Martine hatte da ihre eigene Ansicht. Es kam ganz darauf an, was man mitzählte und wie schwer es wog. So konnte sie zum Beispiel sagen, drei gute Dinge hatten sich zusammen mit einem schlechten ereignet, und dabei war das schlechte das allerschlimmste, was sich denken ließ. Oder ein anderes Ereignis war so unscheinbar, dass sie ihm in dem Moment gar keine Beachtung schenkte, und wiederum ein anderes, das sie als Pech einschätzte, erwies sich später als das größte Glück. Doch wie sie es auch durchrechnen mochte, eines war klar: Die Nacht, in der Martine Allen elf Jahre alt wurde, war die Nacht, in der sich ihr Leben restlos, vollständig und gänzlich veränderte und nie mehr werden sollte, wie es einmal war.

Es war Silvester. Martine lag schlafend im Bett und träumte von einem Ort, den sie noch nie gesehen hatte. Sie war sich dessen so sicher, weil dieser Ort zu schön war, als dass sie ihn je hätte vergessen können. Nach allen Seiten erstreckten sich Rasenflächen, gesäumt von Bäumen und exotischen Blumen. Dahinter ragte ein Berg mit erhabenen Granitfelsen in den stahlblauen Himmel. Kinder lachten und liefen hinter Schmetterlingen durch Beetemit rosafarbenen Blumen, und aus der Ferne drangen Trommeln und Gesang an ihr Ohr. Doch irgendetwas war ihr nicht ganz geheuer. Gänsehaut überzog ihren Körper.

Plötzlich begann der Himmel, in einem fiebrigen, violetten Licht zu brodeln, und ein stahlgraues Wolkenband wälzte sich wie eine dicke Tischdecke über die Flanke des Berges hinab. Innerhalb weniger Sekunden wurde der sonnige Tag zur düsteren Nacht. Dann rief eines der Kinder: «Schaut mal, was ich gefunden habe.»

Es war eine Wildgans mit einem gebrochenem Flügel. Doch statt ihr zu helfen, begannen einige der Kinder, die Gans zu quälen. Martine, die den Anblick einer leidenden Kreatur nicht ertragen konnte, versuchte, sie davon abzuhalten, doch in ihrem Traum wandten sich die Kinder gegen sie. Als Nächstes lag sie weinend am Boden, das verletzte Tier in ihren Armen.

Dann geschah etwas ganz Seltsames. Ihre Hände, die die Wildgans umschlossen hielten, wurden erst warm, dann heiß, bis sie beinahe glühten und ein elektrischer Strom knisternd durch Martines Körper schoss. Durch Rauchschwaden sah sie schwarze Männer mit gehörnten Antilopenmasken und Feuer schnaubende Nashörner, dazwischen ertönten Stimmen aus den Urtiefen der Zeit. Sie wusste, dass sie zu ihr sprechen wollten, doch sie konnte sie nicht verstehen. Plötzlich rührte sich der Vogel. Martine öffnete ihre Arme, die Gans flatterte mit den Flügeln und flog in den violetten Himmel davon.

In ihrem Traum blickte sie lächelnd auf, doch die anderen Kinder lächelten nicht zurück. Sie starrten sie mit einer Mischung aus Schrecken und Fassungslosigkeit an. «Hexe!», riefen sie ihr entgegen, «Hexe! Hexe! Hexe!», kreischten sie und kamen auf sie zu. Schluchzend flüchtete Martine bergauf in einen dunklen Wald hinein. Doch ihre Beine waren schwer wie Blei, Dornen bohrten sich in ihre Knöchel, und schon bald hatte sie sich im Nebel verlaufen. Und die ganze Zeit wurde es ihr wärmer und wärmer. Dann griff eine Hand nach ihr, und sie konnte nur noch schreien.


Schließlich erwachte Martine von ihren eigenen Schreien. Sie schoss auf. Um sie herum war es stockdunkel, und es dauerte eine Weile, bis sie verstand, dass sie in ihrem Bett saß und geschlafen hatte. Nichts von alldem war geschehen. Es gab weder Berg noch Vogel. Sie war in Sicherheit, zu Hause im englischen Hampshire, und auf der anderen Seite des Flurs schliefen ihre Eltern seelenruhig in ihrem Zimmer. Mit pochendem Herzen ließ sie sich in ihr Bett zurückfallen. Sie fühlte sich ein bisschen schwindlig, und es war ihr immer noch heiß, sehr heiß.

Heiß? Wie konnte es ihr nur heiß sein? Mitten im Winter? Martine riss die Augen auf. Irgendetwas stimmte nicht. Fieberhaft tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe, doch die funktionierte aus irgendeinem Grund nicht. Hinter der Schlafzimmertür flackerte ein orangefarbenes Licht, und durch die Türritzen drangen Rauchschwaden ins Zimmer.

«Feuer!», schrie Martine. «Feuer!»

Sie sprang aus dem Bett, blieb mit dem Fuß in den Laken hängen und stürzte zu Boden. Eine unbändige Angst trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit einer raschen Handbewegung aus dem Gesicht. Wenn ich jetzt nicht klar denke, sagte sie bei sich, komme ich hier nie lebend raus. Nun verfärbte sich der Türrahmen in einer Ecke glühend rot und brach weg. Ein dichter Rauchschwaden drang in das Zimmer. Martine musste stark husten. Fieberhaft tastete sie auf dem Fußboden nach dem Sweatshirt, das sie am Vorabend beim Anziehen des Pyjamas dort liegen gelassen hatte. Sie jubelte fast vor Dankbarkeit, als sie es sofort fand, und schlang es sich um das Gesicht. Dann rappelte sie sich auf, stemmte das Fenster nach oben und lehnte sich in die sternlose Nacht hinaus. Was sollte sie bloß tun? Springen?

Martine stand vor Schrecken gelähmt da. Tief unten glitzerte der Schnee wie zum Spott in der Dunkelheit. Hinter ihr füllte sich das Zimmer immer mehr mit Rauch, und das Feuer dröhnte wie ein Hochofen. Es war glühend, es war mörderisch heiß – so heiß, als würde ihr der Pyjama demnächst vom Rücken schmelzen. Das Fenster war ihr einziger Fluchtweg. Sie schwang die Beine über das Fenstersims und griff nach einer Efeuranke. Doch diese war so nass wie frisch geernteter Salat, sodass sie ihr aus der Hand glitt und Martine beinahe vornüber vom Sims kippte. Sie wagte einen zweiten Versuch, diesmal wischte sie jedoch zuerst den Schnee vom Efeu und tastete hinter der Ranke nach einem Rohr oder irgendetwas anderem, das ihr Halt bieten könnte. Doch da war nichts.

Martines Augen tränten. Auch wenn sie wusste, dass sie nur noch Sekunden von einer Katastrophe trennten, schwang sie sich wieder in das Zimmer hinein, riss die Laken vom Bett, knüpfte sie aneinander und band ein Ende an den Bettpfosten, der dem Fenster am nächsten war. Es blieb ihr keine Zeit, die Vorrichtung zu testen. Sie konnte nur hoffen, dass sie halten würde. Wieder kletterte sie hastig über die Fensterbank und klammerte sich mit beiden Händen an die zusammengeknoteten Laken. Es war ihr klar, dass diese nicht bis ganz unten reichen würden, doch vielleicht konnte sie damit wenigstens bis in Bodennähe kommen.

Martine war noch weit oben, als ihre Finger, die sich im eiskalten Wind wie tiefgefrorene Fischstäbchen anfühlten, den Halt verloren, und sie in den Schnee stürzte.Mit Mühe und vor Kälte schlotternd, rappelte sie sich auf und schleppte sich die Wand entlang vor das Haus. Sie war pitschnass, und eine Hand schmerzte sie, doch als sie um die Hausecke hinkte, verschwendete sie keinen Gedanken mehr daran. Sie brauchte ihre ganze Energie, um das schreckliche Bild zu verarbeiten, das sich ihren Augen bot. Ihr Zuhause war ein einziges Flammenmeer. Aus allen Fenstern schoss das Feuer, und dichter Rauch stieg in den Nachthimmel empor. Auf dem Rasen stand eine Menschengruppe, und je mehr Haustüren sich in der Straße öffneten, desto mehr Menschen kamen zusammen. Sirenen kündigten die bevorstehende Ankunft der Feuerwehr an.

«Mama! Papa!», schrie Martine und lief auf den Hauseingang zu.

Schockierte Gesichter wandten sich ihr zu. Es war, als würden alle gemeinsam nach Atem ringen. Die ältere Dame von nebenan öffnete den Mund, als sie Martine über den Rasen rennen sah, doch sie brachte keinen Ton heraus. Mr. und Mrs. Robinson, die in derselben Straße etwas weiter oben wohnten, standen wie angewurzelt da, doch im letzten Moment fasste sich Mr. Robinson, ein stämmiger Mann, der früher einmal Rugby gespielt hatte, ein Herz und warf sich Martine in den Weg, als sie an ihm vorbeistürmte.

«Lassen Sie mich los», sagte Martine schluchzend, doch während sie diese Worte aussprach, wusste sie, dass es zu spät war. Die Hausmauern stürzten krachend in sich zusammen, und nach wenigen Minuten war nur noch ein lodernder Haufen zu sehen. Die Feuerwehr, die inzwischen eingetroffen war, konnte nur noch die Glut löschen.

Mrs. Morrison legte ihre Arme um Martine und drückte sie fest gegen sich. «Es tut mir ja so leid, mein Schatz», sagte sie, «so leid.» Dann kamen auch andere Nachbarn, um sie zu trösten, und Mrs. Robinson hüllte Martine, die immer noch in ihrem Pyjama dastand, in ihren Wintermantel.

Durch ihren Tränenschleier glitzerten die funkelnde Glut und die Blasen des Löschschaums wie Rubine und Diamanten im Morgengrauen. Noch vor wenigen Stundenhatte sie mit ihren Eltern ein Geburtstagessen genossen. Sie hatten Pfannkuchen gemacht, diese mit Mandeln, Bananenstückchen und heißer Schokolade belegt und gerollt, sodass sie sie mit den Händen essen konnten. Martine und ihre Mutter hatten über David, ihren Vater, gelacht, der unaufhörlich geredet hatte, ohne zu merken, dass Schokolade aus dem Pfannkuchen auf sein Hemd tropfte. Nur etwas war geschehen, das Martine im Nachhinein seltsam vorkam.

Es war beim Schlafengehen. Ihre Mutter hatte sie geküsst und war ihr auf der Treppe vorangegangen. Sie kam, gefolgt von ihrem Vater, hinterher. Vor ihrer Zimmertür umarmte er sie, wuschelte in ihren Haaren und sagte ihr, «ich hab dich lieb». So war es jeden Abend. Doch dann sagte er etwas Sonderbares.

«Du musst Vertrauen haben, Martine. Alles, was passiert, hat seinen Grund.»

Und sie hatte ihn angelächelt, sich darüber gefreut, wie süß ihre Eltern zu ihr waren, selbst wenn sie ihr manchmal etwas schrullig vorkamen, und war in ihr Zimmer gegangen. Sie ahnte nicht, dass dies die letzten Worte sein sollten, die er je zu ihr sagen würde. Und sie ahnte auch nicht, dass sie weder ihren Vater noch ihre Mutter je wiedersehen würde.


Die weiße Giraffe

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