Читать книгу Die weiße Giraffe - Lauren St John - Страница 11

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Beim Aufwachen am nächsten Morgen fühlte sich Martine wie vor einem Zahnarzttermin. Lange blieb sie mit zusammengepressten Augen liegen, denn nur so konnte sie sich vorspielen, dass sich das alles nicht ereignet hatte. Ihr Elternhaus war nicht niedergebrannt, ihre Eltern waren nicht für immer weg, und sie war nicht in das tiefste Afrika geschickt worden, um bei einer wildfremden Frau zu leben. Als es nicht mehr anders ging, öffnete sie die Augen. Sie blickte in die Unendlichkeit eines unglaublich blauen Himmels hinauf. Der Wecker auf dem Nachttisch stand auf 6:05 Uhr. Wie gerufen flatterte ein orange gefiederter Vogel auf einen aus dem Stroh ragenden Dachbalken vor ihrem Fenster und begann ein fröhliches Liedchen zu pfeifen: Tiritititi, Tirititi.

Martine stütze sich auf einen Ellbogen, um durch das Fenster auf das Wasserloch blicken zu können, über dem ein Morgendunst lag, der von goldenen Streifen der Morgensonne durchsetzt war. Ein Dutzend Elefanten planschten im Wasser, wälzten sich im Schlamm und spritzten sich gegenseitig mit dem Rüssel ab. Nicht weit davon entfernt grasten ein paar Zebras. Staunend schüttelte Martine ihren Kopf. Die Szene konnte zwar die Angst nicht verscheuchen, die sich in ihrem Herzen breitgemacht hatte, doch sie beruhigte sie ein wenig.

Auf der Treppe nach unten waren ihre Füße schwer wie Blei. Ihre Großmutter saß am Küchentisch, die Hände um eine große Kaffeetasse gefaltet. Als Martine die Küche betrat, stand sie schnell auf und sagte: «Guten Morgen, Martine, ich hoffe, du hast gut geschlafen. Ihre Stimme hörte sich etwas brüchig an, als wäre sie nervös. Noch bevor Martine ihren Gruß erwidern konnte, sagte Gwyn Thomas hastig: «In der Pfanne ist ein hart gekochtes Ei, im Toaster ist Brot, und alles andere steht auf dem Küchentisch. Dort drüben auf der Anrichte steht eine Lunchbox mit Sonnencreme, Pfirsichen aus dem Garten, etwas Käse und Chutney-Sandwiches. Ich muss jetzt den jungen Elefanten füttern gehen. Aber ich bin um 7:30 Uhr zurück, um dich zur Schule zu bringen.»

Martine hatte es noch nicht geschafft, ein Danke hervorzustammeln, als die Stalltür hinter ihrer Großmutter ins Schloss fiel und ein Stoß frische und kühle Luft durch das Haus ging. Eine Entschuldigung war das nicht gewesen, aber Martine wusste, dass sie eine solche auch gar nicht erwarten durfte.


Das Zahnarztgefühl meldete sich während der fünfzehnminütigen Fahrt zur Schule zurück. Martine wand sich in ihrer neuen Uniform, sie hasste den Rock und hatte ihrer Großmutter nichts zu sagen. Und das Gefühl änderte sich nicht im Geringsten, als sie durch das Eingangsportal der Caracal Junior High School fuhren und Martine die Horden von gesunden, selbstsicheren Kindern – ihre Mitschüler – sah. Ihre Hautfarbe reichte von honigfarbenem Gelbbraun über Cappuccino zu Schokoladenbraun. Kein anderes Kind hatte solch eine ungesunde gräulich-weiße Hautfarbe wie Martine. Ihre Großmutter ließ sie mit einem kurzen, wenn auch nicht unfreundlichen «Mach’s gut. Tendai oder ich holen dich um 16 Uhr wieder ab» vor dem Büro der Rektorin stehen. Martine presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und versuchte, so wenig wie möglich aufzufallen.

«Nur ein Augenblick», rief eine Stimme, nachdem Martine an die Bürotür geklopft hatte. Sie hörte, wie jemand am Telefon sprach. Während sie wartete, blickte sie sich auf dem Flur um. Ihre Schule in England hatte wie ein Gefängnis aus Beton ausgesehen, mit einem asphaltierten Schulhof und Gängen in abblätterndem Beige. Überall hatte es nach Desinfektionsmittel gerochen, und die Toilettenwände waren mit Graffiti verschmiert gewesen. Diese Schule hier sah gar nicht wie eine Schule aus. Sie glich eher einem einladenden Ferienlager. Blockhäuser aus glänzendem Kastanienholz lagen lose verteilt zwischen riesigen Bäumen auf smaragdgrünen Rasenflächen. Hinter einem Bretterzaun glitzerte das Wasser eines Schwimmbeckens.

«Du kannst deinen Mund wieder zumachen. Hier gibt’s die gleichen langweiligen Schulstunden wie bei dir zu Hause. Du kennst das: Dreisatzrechnungen, tote Könige, Satzzeichen.»

Martines Gesichtsausdruck musste Bände gesprochen haben, denn die im Türrahmen stehende Erscheinung mit der Kleopatra-Frisur, den hölzernen Papagei-Ohrhängern und dem langen lila Kleid lachte fröhlich, als sie Martine ins Büro zog, und sagte: «War bloß ein Spaß. Unser Unterricht ist natürlich höchst interessant. Mein Name ist Elaine Rathmore, ich bin die Rektorin hier, und du bist bestimmt Martine. Willkommen an der Caracal Junior High School.»

Martine fragte sich, ob wohl jede Frau in Afrika eine starke Persönlichkeit war und schreiend bunte Kleider trug, oder ob es reiner Zufall gewesen war, dass sie gleich mehrere hintereinander getroffen hatte.

Mrs. Rathmore deutete auf einen Stuhl und sagte, als wisse sie genau, was in Martines Kopf vorging: «Und jetzt kannst du deinen Mund wirklich zumachen.»

Nachdem Martine sich einmal an Mrs. Rathmores Humor gewöhnt hatte, wurde ihr die Frau immer sympathischer. Sie schien mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen. Die Rektorin erklärte ihr, die Caracal Junior High School sei eine Schule wie jede andere, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht den Anschein machte. Allerdings werde bei ihnen die Umwelt großgeschrieben. Alle Gebäude, sagte sie, würden mit Sonnenenergie beheizt, bei vielen Schulprojekten stehe der Umweltschutz im Vordergrund, und in der Schulkantine würde nur gesunde, biologische Kost serviert. Nachdem ihr Mrs. Rathmore die Schulordnung und den Stundenplan erklärt hatte, machten sie einen Rundgang durch das Gelände. Hier gab es eine Turnhalle mit Kletterwand und mehreren Hektar großen Sportfeldern. So war es denn auch kein Zufall, dass die «Caracal Junior High School» schon zahlreiche Meistertitel errungen hatte.

«Wenn du eine Begabung für Sport hast – oder für sonst irgendetwas –, dann kannst du sicher sein, dass wir sie entdecken werden», versprach ihr Mrs. Rathmore.

Martine wusste genau, dass sie nicht sportbegabt war. In jeder Sportart, in der sie sich versucht hatte, war sie kläglich gescheitert. Doch jetzt musste sie wieder an die Worte von Grace denken: Du hast die Gabe, Kind. Genau so, wie’s deine Ahnen gesagt haben. Aber welche Gabe war das? Hatte sie mit Naturwissenschaften, Mathematik, Kunst oder Musik zu tun? Oder mit etwas, von dem sie keinerlei Ahnung hatte? Doch sie erinnerte sich auch an die warnenden Worte der Frau: Pass gut auf, Kind. Die Gabe kann sein ein Segen, aber auch ein Fluch. Du musst entscheiden weise.

Welche Gabe war wohl mit einer Warnung verbunden?

«Lucy van Heerden … eine unserer begabten Präfektinnen», sagte Mrs. Rathmore. «Lucy besucht dieselbe Klasse wie du, Martine, bei Miss Volkner. Martine? Wir haben dich doch nicht etwa derart gelangweilt …»

Martine blinzelte.

Vor ihr stand ein elegantes, blondes Mädchen und streckte ihr die Hand entgegen. Martine ergriff sie und war erschrocken, dass diese eiskalt war. Nach ihrer makellos gebräunten Haut zu schließen, musste Lucy jede freie Minute auf dem Surfbrett oder beim Sonnenbaden am Strand verbringen.

Nachdem Mrs. Rathmore Lucy gebeten hatte, Martine unter ihre Fittiche zu nehmen, sie in das Leben der Schule einzuweihen und ihr einen ganz besonderen Empfang in der Caracal Junior High School zuteil werden zu lassen, schritt die Rektorin in ihrer lila Wolke von dannen und überließ Martine ihrer bezaubernden neuen Mitschülerin.

«Oh mein Gott, du bist ja schneeweiß», sagte Lucy, sobald Mrs. Rathmore außer Hörweite war. «Woher kommst denn du? Aus Island?»

«Aus England», sagte Martine leise. Nicht genug, dass sie sich vorher schon fehl am Platz und völlig verunsichert vorkam. Jetzt fühlte sie sich noch tausend Mal schlechter.

Lucy sagte kichernd: «War nur ein kleines Späßchen» und gab ihr einen freundschaftlichen Schubs, der Martine fast zu Boden gehen ließ. «Also komm. Wir sind schon fast zu spät für die Stunde von Miss Volkner. Aber in der Pause stelle ich dir dann den Rest der Clique vor.»

Während der Mittagspause stellte Martine fest, dass es sich bei der «Clique», von der Lucy gesprochen hatte, um die sogenannte Fünferbande handelte, eine Gruppe der fünf beliebtesten Schülerinnen und Schüler. Zur Fünferbande gehörten neben Lucy deren Zwillingsbruder Luke, der ebenso blond, gut aussehend und braungebrannt war wie seine Schwester, Scott Henderson, der jeden Morgen in einem roten Lamborghini zur Schule gefahren wurde, Pieter Booker, der Spielführer der Rugby-Mannschaft von Caracal Junior High, und schließlich ein schwarzer Junge namens Xhosa Washington, der Sohn des Bürgermeisters von Storm Crossing. Sein Name war beinahe unaussprechlich, wenn man den schnalzenden Laut der Afrikaner nicht beherrschte. Sie hatten alle einen ultramodernen Haarschnitt und trugen ihre Schuluniformen so, als wären sie Designerklamotten. Die meisten Kinder verehrten sie, und Martine merkte schon bald, dass sie immer bekamen, was sie wollten. Selbst die Lehrer schienen ihnen eine Sonderbehandlung zuteil werden zu lassen.

Lucy stellte Martine über Mittag die Fünferbande und einer Reihe anderer Kinder vor. Im Großen und Ganzen machten sie einen ganz netten Eindruck, und einige vermittelten Martine sogar das Gefühl, dass sie zu ihnen gehöre. Martine saß in der Sonne, aß ihre Käse- und Chutneybrote, lächelte und nickte ihren neuen Schulkameraden zu und fragte sich, wie es möglich war, an einem so wunderbaren Ort inmitten lachender Kinder zu sein und sich dennoch als einsamstes, traurigstes Mädchen der Welt zu fühlen. Alle Erinnerungen an ihre alte Schule in England meldeten sich wieder zurück. Sie fühlte sich nicht nur schüchtern und unbeholfen. Sie war einfach fehl am Platz. So einfach war das. Ganz egal, worüber die anderen sprachen – Surfen, Haargel, Pop-Musik – es interessierte sie nicht. Doch was interessierte sie eigentlich? Martine wusste es nicht. Lesen vielleicht? Und die weiße Giraffe? Ja, für die weiße Giraffe interessierte sie sich – sehr sogar.

Als sie darüber nachdachte, fiel ihr eine kleine Gestalt auf, die in der Ferne unter einem Baum saß.

«Oh der!», sagte Lucy voller Abscheu, als Martine sie fragte, was denn dieser Junge dort drüben mache. Sie rümpfte die Nase. «Der ist entweder taub, stumm oder ganz einfach ein Psycho. Wir steigen da nicht ganz durch.»

In den folgenden Tagen fand Martine heraus, dass der Junge Ben hieß und dass er ein Mischling war. Sein Vater war Zulu, seine Mutter Asiatin – eine indische Tänzerin anscheinend. Martine war für ihr Alter ausgesprochen klein, doch der Junge war ebenso dünn und kaum größerals sie.

Bei näherer Betrachtung wurde ihr jedoch klar, dass Ben alles andere als schwach war. Seine braunen Arme und Beine waren kräftig und drahtig. Doch die wenigsten Kinder interessierten sich genug für Ben, um das zu bemerken.

Er war ein Außenseiter. Nur äußerst selten sprach ihn jemand an Das hatte zum Teil damit zu tun, dass er in den drei Jahren, seit er auf dieser Schule war, nie ein Wort gesagt hatte. Die Lehrer gingen längst davon aus, dass er stumm war, vor allem weil er seine Fragen auf kleinen Papierfetzen beantwortete und seit jeher Klassenbester war. Für die Mitglieder der Fünferbande, die behaupteten, ihn einmal auf dem Parkplatz der Schule bei einem ganz normalen Gespräch mit seinem Vater beobachtet zu haben, war Ben Ärgernis und Amüsement zugleich. Über Mittag warf er sich immer den Rucksack über die Schulter und verkrümelte sich in den entlegensten Winkel des Schulareals. Dort setzte er sich unter einen Baum und las in einem Buch. Sein Spitzname war Buddha Ben, weil er gerne Räucherstäbchen abbrannte und sich nie wehrte, wenn andere Kinder ihm sein Buch wegnahmen oder ihn dazu zwangen, ihre Hausaufgaben zu machen.

Martine fand es nicht in Ordnung, dass alle so gemein zu ihm waren. Eigentlich wollte sie ihn kennenlernen, doch als sich erstmals die Gelegenheit dazu ergab, winkte Lucy sie herbei und fragte, was sie denn vorhabe. Sie habe doch nicht etwa mit Ballaballa-Ben (so nannte sie ihn) reden wollen. Als sich die nächste Gelegenheit bot, verschob sie es aus einem anderen Grund, und bald dachte sie gar nicht mehr an Ben.


Die weiße Giraffe

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