Читать книгу Die weiße Giraffe - Lauren St John - Страница 6

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Es war Mr. Grice vom Sozialamt, der Martine mitteilte, dass sie nach Afrika ziehen würde, nach Kapstadt in Südafrika, um genau zu sein.

«Südafrika?», rief Martine aus. «Warum Südafrika?»

«Nun, wie es scheint, wohnt deine einzige noch lebende Verwandte in einem Wildreservat in Südafrika. Es handelt sich um eine Mrs. Gwyn Thomas, deine Großmutter, wie man mir sagt.»

Völlig baff stammelte Martine: «Aber … ich habe doch gar keine Großmutter.»

Mr. Grice legte die Stirn in Falten. Er fischte seine Brille aus der Westentasche und beugte sich nochmals über Martines Akte. «Doch, doch. Ich kann dir versichern, dass das stimmt. Hier steht es schwarz auf weiß.»

Er übergab Martine ein cremefarbenes Blatt Papier.

Sehr geehrter Mr. Grice

Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Beileidschreiben zum Tod meiner Tochter, Veronica Allen, und ihres Mannes David. Ich habe wohl wenige so gute Menschen gekannt wie die beiden Verstorbenen. Ich wusste nicht, dass meine Tochter mir die Vormundschaft über ihr Kind, Martine, übertragen hatte, für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte. Selbstverständlich übernehme ich die mir zugewiesene Verantwortung. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich lege diesem Schreiben einen Flugschein nach Kapstadt und 150 Pfund für allfällige Spesen bei. Da ich selten in die Stadt fahre, wäre ich Ihnen dankbar, wenn sie Martine dem südafrikanischen Klima gemäß einkleiden könnten.

Mit freundlichen Grüßen

Gwyn Thomas

Irgendetwas am Ton des Briefes störte Martine. Ihre Großmutter zeigte keinerlei Begeisterung dafür, sie bei sich aufzunehmen. Ganz im Gegenteil. Zwischen den Zeilen las Martine deutlich heraus, dass sie Martines Kommen als Belastung empfand. Sie nahm es nicht einmal auf sich, ihr ein paar Sommerkleider zu kaufen. Offenbar hatte Gwyn Thomas große Stücke auf ihre Eltern gehalten, doch schien sie ganz und gar nicht erfreut darüber, sich nun mit deren Tochter herumschlagen zu müssen. Und was war mit Großvater? Von dem war gar keine Rede.

Martine gab Mr. Grice den Brief zurück. «Da fahr ich nicht hin», sagte sie. «Diese Frau will mich nicht haben, und es kommt nicht in Frage, dass ich bei jemandem wohnen, der nichts mit mir zu tun haben will. Eher hacke ich mir einen kleinen Finger ab.»

Mr. Grice blickte sie fassungslos an. Sein Vormittag war schon schwer genug gewesen, und jetzt drohte alles nur noch schlimmer zu werden. Was hatte seine Chefin wohl gegen ihn, dass sie ihm immer die unangenehmen Fälle zuschob?

«Aber Mrs. Thomas ist dein gesetzlicher Vormund», sagte er.

«Ich fahr da nicht hin», gab Martine widerspenstig zurück. «Und Sie können mich auch nicht dazu zwingen.»

Mr. Grice raffte seine Unterlagen hastig zusammen und stieß dabei ein Glas Wasser um. «Ich bin gleich zurück», sagte er zu Martine, ohne dem vergossenen Wasser, das die Akten zu Aquarellen werden ließ, Beachtung zu schenken. «Ich muss mal telefonieren.»

Martine saß da und starrte auf die von Zigarettenrauch vergilbten Tapeten des Büros von Mr. Grice und hatte viel mehr Angst, als sie sich anmerken ließ. Die vergangenen Wochen waren wie hinter einem Schleier an ihr vorbeigezogen. Die ersten fünf Tage des Albtraums nach dem Brand hatte sie bei den Morrisons verbracht, bis deren Söhne von einer Rugbytournee ihrer Schule nach Hause kamen. Danach hatte eine Freundin ihrer Mutter sie aufgenommen; doch diese wurde mit der Belastung, ein trauerndes Kind zu betreuen, nicht fertig. Schließlich wurde sie zu Miss Rose, ihrer Englischlehrerin, gebracht, die sich um sie kümmern sollte, bis man über ihre Zukunft entschieden hatte. Überall, wo sie hinging, trugen die Menschen ein aufgesetztes Lächeln im Gesicht und waren nie um hilfreiche Ratschläge verlegen. Doch sobald sie irgendwo einen Raum verließ, konnte sie ein Tuscheln hören, in dem häufig das Wort Waise und die Wendung ganz allein auf dieser Welt vorkamen.

Martine war zu benommen und verzweifelt, um sich weiter darüber Gedanken zu machen. Ihr Kopf war wie gelähmt – es kam ihr vor, als würde sie immer schneller in ein tiefes, bodenloses Loch stürzen. Sie konnte nicht essen; sie konnte nicht schlafen; sie konnte nicht weinen. Doch immer wieder stellte sie sich eine Frage: Warum? Warum hatte sie überlebt – und ihre Eltern nicht? Es kam ihr alles so ungerecht vor. Die Feuerwehrmänner hatten sie für ihre Tapferkeit gelobt und dafür, dass sie richtig gehandelt hatte. Selbst wenn sie die Tür zum Flur nur einen Spalt weit geöffnet hätte, um zu ihren Eltern zu gelangen, wäre sie vom Flammenmeer verschlungen worden. Aber sie wurde ihre Schuldgefühle nicht los. Und was sollte jetzt mir ihr geschehen? Würde man sie wirklich zu einer Fremden nach Südafrika schicken?

In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf einen cremefarbenen Umschlag auf dem Schreibtisch von Mr. Grice. Er kam ihr irgendwie vertraut vor. Sie nahm ihn in die Hand und las die Absenderadresse auf der Rückseite des Umschlags. In klarer blauer Tinte stand geschrieben: Gwyn Thomas, Sawubona Game Reserve, Cape Province, South Africa. Martine versuchte, sich zu erinnern. Wo hatte sie diese Handschrift schon gesehen? Und plötzlich fiel es ihr ein. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter diese Umschläge geöffnet hatte, jeden Monat, seit sie sich erinnern konnte. Ihre Mutter hatte nie ein Wort darüber verloren, doch Martine hatte stets wahrgenommen, dass sich die Stimmung ihrer Mutter veränderte, nachdem sie diese Briefe gelesen hatte. Es ging häufiger ein Lächeln über ihre Lippen, und sie lachte auch gerne einmal herzhaft. Jetzt, da sie so ganz allein und verwirrt im Büro von Mr. Grice saß, war Martine vollends durcheinander, weil ihre Mutter ihr nie erzählt hatte, dass diese Briefe von ihrer Großmutter stammten oder dass sie überhaupt eine Großmutter hatte. Weshalb diese ganze Geheimniskrämerei?

Martine machte sich Gedanken zum Absender auf dem Umschlag: Gwyn Thomas. Das klang so hart und streng. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sich hinter diesem kalten Namen ihre Großmutter versteckte und schon gar nicht, dass sie diese Frau Großmutter oder – noch schlimmer – Oma würde nennen müssen. Nicht einmal mit dem Vornamen Gwyn konnte sie sich anfreunden. Aus irgendeinem Grund musste sie immer an den ganzen Namen Gwyn Thomas denken.

Als Mr. Grice in sein Büro zurückkehrte, schüttelte er den Kopf und sagte: «Es tut mir leid, aber deine Alternativen sind äußerst beschränkt. Ich hätte da einzig noch einen Platz im Kinderheim von Upper Blickley …»

«Es ist schon gut», unterbrach ihn Martine. «Ich habe mich entschieden, doch nach Südafrika zu gehen.»

Mr. Grice atmete erleichtert auf. «Gut, damit hätten wir schon ein Problem weniger.»


Von Anfang an löste Martines Zukunft bei allen anderen deutlich mehr Begeisterung und Aufregung aus als bei ihr selbst. «Ein Wildreservat in Afrika!», sagte Miss Rose voller Ehrfurcht. «Kannst du dir das vorstellen, Martine? Als würdest du dein ganzes Leben auf Safari verbringen.»

Mrs. Robinson hingegen war überzeugt, dass auf Martine die Gefahr lauerte, von einem Tiger aufgefressen zu werden. «Du musst stets auf der Hut sein», ermahnte sie Martine. «Was für ein Abenteuer!»

Martine verdrehte die Augen. Mrs. Morrison war der liebenswürdigste Mensch dieser Welt, aber von Tieren hatte sie keine Ahnung.» «Es gibt keine Tiger in Afrika, außer vielleicht im Zoo.»

Abgesehen davon hatte auch Martine wenig Ahnung von Afrika. In ihrer Vorstellung gab es nur weite, gelbe Hochebenen, Mangos, Schirmbäume, dunkle Gesichter und Glutofenhitze unter stechender Sonne. Sie fragte sich, ob auf der Straße wilde Tiere herumliefen. Könnte sie sich vielleicht sogar eines als Haustier nehmen? Da ihre Mutter allergisch gegen Tiere gewesen war, durfte sie nie ein Haustier haben, so sehr sie es sich auch gewünscht hatte. Vielleicht würde sie ja jetzt einen kleinen Affen bekommen.

Doch dann erinnerte sie sich wieder an den Ton im Brief ihrer Großmutter, und sogleich meldete sich das Gefühl zurück, in einen endlosen Schlund zu stürzen. Gwyn Thomas – das klang nicht gerade nach einem Menschen, der einen Primaten in seinem Wohnzimmer aufnehmen würde. Falls Gwyn Thomas überhaupt ein Wohnzimmer besaß. Denn nach allem, was Martine bisher erfahren hatte, war es durchaus möglich, dass ihre Großmutter in einer Steppengrashütte hauste.

In der Schule schienen die meisten ihrer Klassenkameraden vergessen zu haben, dass vor knapp drei Wochen ihr Elternhaus heruntergebrannt war und dass sie nicht aus freien Stücken nach Südafrika ging. «Mensch, hast du ein Glück», sagten sie ihr immer wieder. «Du wirst surfen lernen und so. Das ist ja so was von cool.»

Wenn sie diese Kommentare hörte, konnte sich Martine zumindest die Genugtuung abringen, dass sie nie mehr durch die furchtbare Pforte der Bodley Brook Junior School gehen musste. Sie hatte ohnehin nie dahin gepasst. Eigentlich passte sie nirgends hin, wo sich gleichaltrige Kinder aufhielten; doch das hatte irgendwie keine Rolle gespielt, als sie Mama und Papa noch hatte. Ihre Eltern waren ihre besten Freunde. Ihr Vater war Arzt gewesen, und er hatte lange Arbeitstage. Doch im Sommer gingen sie nach Cornwall zelten. Ihre Mutter hatte dann gemalt, während sie mit ihrem Vater schwimmen oder angeln ging oder er ihr Erste-Hilfe-Kurse gab. Und auch am Wochenende hatten sie immer Spaß zusammen, selbst wenn das Wetter nicht mitspielte und ihnen nichts anderes übrig blieb, als Pfannkuchen zu backen. Doch das war jetzt alles vorbei, und in Martines Herzen klaffte ein großes Loch.

Am Samstagvormittag, einen Tag vor ihrem Abflug nach Südafrika, nahm sie Miss Rose in die Oxford Street nach London mit, um ihr Sommerkleider zu kaufen. Ein grauer Eisregen fiel auf die Stadt, während sich kaufwütige Londoner und Touristen mit ihren Schirmen fast die Augen ausstachen. Doch all dies vermochte die Begeisterung von Miss Rose nicht zu schmälern.

«Sind das nicht süße Shorts?», rief sie im Getümmel bei Gap entzückt aus. «Diese Baseballmütze ist doch Klasse! Oder schau dir dieses rotgestreifte T-Shirt an. Es würde dir einfach prima stehen.»

Martine ließ sie gewähren. Aber eigentlich fühlte sie sich hundserbärmlich. Ihr Magen war ein brodelnder Nervenkessel, und in Erwartung des morgigen Tages war ihr Mund völlig ausgetrocknet. «Ja, das ist schon in Ordnung», sagte sie immer wieder, wenn ihr Miss Rose ein neues Kleiderstück präsentierte. «Doch, das ist nett. Das passt.»

Schließlich kauften sie zwei Paar khakifarbene Shorts ein Paar Jeans, vier T-Shirts, eine Baseballmütze und ein Paar robuste beige Wanderstiefel. Sie musste sich nur einmal wirklich wehren – als Miss Rose ihr ein Kleid mit Blumenmuster aufschwatzen wollte. Martine mit ihrem braunen Kurzhaarschnitt und den hellgrünen Augen hatte sich standhaft geweigert, ein Kleid zu tragen, seit sie fünf Jahre alt war. Und sie hatte keinerlei Absichten, jetzt von diesem Kurs abzuweichen.

«Wenn ich meine Beine nicht schütze, werde ich noch von einer Schlange gebissen», sagte sie zu Miss Rose.

«Dieser Gefahr setzt du dich aber auch aus, wenn du Shorts trägst», entgegnete ihre Lehrerin.

«Stimmt, aber das ist etwas anderes», gab Martine zurück. «Haben Sie je einen Forscher gesehen, der keine Shorts trug?»

Abends in Hampshire kochte Miss Rose ein Abschiedsessen für Martine: Gebratenes Hühnchen Bratkartoffeln, frische Erbsen, hausgemachter Yorkshire-Pudding an einer Zwiebelsauce. Mr. und Mrs. Morrison, die auch eingeladen waren, schenkten Martine ein Fernglas, das sie von einem Onkel geerbt hatten.

«Damit du Raubkatzen entdeckst», sagte sie.

Martine war gerührt, vor allem, als Mrs. Morrison ihr ein großes Stück selbst gebackenen Schokoladekuchen für die Reise überreichte, den sie sorgsam in eine Lunchbox eingepackt hatte.

«Ich wünsche dir das Allerbeste, meine Liebe» sagte Mrs. Morrison sichtlich bewegt. «Und vergiss nicht, dass du bei Mr. Morrison und mir immer ein Zuhause hast.»

Mr. Morrison brummelte zustimmend. Er war kein Mann der großen Worte. Doch als seine Frau sich abwandte, um der Lehrerin für das Essen zu danken, zog er eine geschnitzte Holzkassette aus seiner Manteltasche. «Für deine Sicherheit», sagte er leise, als er Martine das Geschenk zusteckte. Dann öffnete er die Tür des Wagens und startete den Motor.

«Bist du bereit, Liebling?», rief er seiner Frau zu. «Mach’s gut, Martine.»

Martine wartete lange, bis sie allein im Gästezimmer war, um endlich die Kassette zu öffnen. Darin waren eine rosa Maglite-Taschenlampe, ein Schweizer Armeemesser und ein Verbandskasten. Sie konnte ihren Augen kaum trauen. Sorgfältig legte sie alles auf dem Bett aus und las fasziniert die dazu gehörende Gebrauchsanleitung. Sie war tief bewegt, wie großzügig sie doch alle waren. Nach einer Weile verpackte sie die Geschenke wieder sorgsam, drehte das Licht aus und legte sich ins Bett. Durch das Fenster warf der Vollmond einen Silberstreifen in das Zimmer.

Nun wurde Martine auch gegen ihren eigenen Willen ganz aufgeregt. Schon morgen Abend würde sie in einem Flugzeug nach Afrika sitzen, unterwegs in ein Leben, von dem sie sich kein Bild machen konnte. Sie konnte nichts mehr daran ändern: Das Schicksal war dabei, die Tür zu ihrer Vergangenheit zu schließen.


Die weiße Giraffe

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