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1. Das Glück der Inseln

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» D I EG L Ü C K L I C H E NI N S E L N « ,sagte der Kapitän. »Obst und Wein. Etwas Besseres findet Ihr nirgends.«

Zukata knurrte nur. Aus dieser Entfernung sahen die Inseln nicht bemerkenswert glücklich aus. Sie waren nichts als zwei blasse, farblose Erhebungen am Horizont. Von hier aus machte es keinen Unterschied, ob sie grün und fruchtbar waren oder schwarz und verbrannt.

»Welche Insel ist es?«, fragte er.

»Die rechte«, antwortete der Kapitän. »Das ist Arima.«

Man konnte jetzt die Steilküste auf der einen Seite erkennen; zur anderen Seite hin lief die Insel flach aus. Dort duckte sich eine Siedlung hinter die Dünen, im Hafen lagen einige kleine Segelschiffe und Boote vor Anker.

»Wir werden sie verbrennen, bevor sie wissen, was geschieht«, zischte Settan. »Wir werden über sie kommen, über die kleinen, dummen Fischer und Gärtner. Dann wird es dir wieder besser gehen, Herr.«

Zukata wandte ihm sein finsteres Gesicht zu. »Was weißt du davon, wie es mir geht? Was willst du davon wissen?«

»Ich … Herr, ich dachte nur …«

»Ich will an Land gehen«, bestimmte Zukata. »Aber nicht im Hafen. Und niemand unternimmt irgendetwas, bevor ich es sage.«

»Wir können ein Boot hinunterlassen …«

Auch den Kapitän der Perlentaucher brachte ein einziger Blick des Riesen zum Schweigen. Da er sich nicht auf die Rolle eines bloßen Befehlsempfängers reduzieren lassen wollte, und um den Respekt seiner Mannschaft nicht zu verlieren, tat er regelmäßig seine Meinung kund und bereute es jedes Mal wieder. In diesen Tagen gehörte Mut dazu, sich in Zukatas Nähe aufzuhalten.

»Ähm, dann – wie Ihr wollt …« Er entfernte sich schleunigst. Settan hielt treu aus. Ihn schickten die Räuber zu Zukata, wenn sie wissen wollten, wie es weiterging. Sie freuten sich schon darauf, nach dieser nervenzermürbenden Schiffsfahrt wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und ihren Frust auf der Insel dort an den harmlosen Leuten auszulassen. Lange genug hatten sie auf engstem Raum miteinander ausgeharrt. Sie waren wie Jagdhunde, die darauf brannten, von der Kette gelassen zu werden. Und er würde sie jetzt bald loslassen, er würde sie auf seine Feinde hetzen.

Unter Zukatas grimmigem Blick wurde Settan klein. »Herr, ich dachte …«

»Ihr bleibt hier!«, befahl Zukata. »Kommt den Inseln nicht näher. Gebt den anderen Schiffen Bescheid!«

Er brauchte kein Ruderboot, um zu der Insel überzusetzen. In der Tat hatte der Plan, den er mit seinen Männern abgesprochen hatte, anders ausgesehen. Er hatte ihnen versprochen, mit drei Schiffen gleichzeitig anzulegen und das Werk der Verwüstung zu beginnen, während das vierte Schiff etwas weiter draußen blieb und darauf achtete, dass niemand entkam. Warum er ihnen jetzt befahl zu warten, warum er ins Wasser sprang und nach Arima schwamm, erklärte er keinem von ihnen. Ohne weiteres mutete er seinen Männern den Verzicht auf den ersehnten Landgang zu. Ob diese Insel zerstört wurde oder nicht und wann das geschah, entschied immer noch er.

Die Unruhe, die seinen ganzen Körper erfüllte, legte sich im kalten Wasser ein wenig. Auch er war zu lange auf diesem Schiff gewesen, statt schnellen Schritts durch die Wälder zu marschieren. Es tat gut, den Kampf gegen die Wellen aufzunehmen. Grün. Ja, er konnte jetzt sehen, wie grün sie war. Ein riesiger Garten, eine Perle mitten im Meer. Das war also der Ort, an den Blitz sich zurückgesehnt hatte, während sie miteinander unterwegs gewesen waren. Das hier war Blitz’ Heimat, das war der Ort, der seine Erinnerungen nährte, der ihm von weitem Kraft gab. Zukata hatte geschworen, Blitz zu verschonen, diesen kleinen Verräter, der ihn so enttäuscht hatte, aber er hatte nicht versprochen, ihn gänzlich unbehelligt zu lassen. Es gab auch andere Möglichkeiten, jemanden zu vernichten, ohne Hand an ihn zu legen. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem Blitz nach ihm suchte, um ihn zu bitten, sein Leben zu nehmen statt das der anderen. Es würde ein Tag kommen, herrlich und grün, ein Tag, an dem Blitz vor ihn hingekrochen kommen würde, um ihn anzuflehen, die Strafe endlich zu vollziehen.

Dies war der Beginn. Er würde Arima zerstören, und was nützte es Blitz dann, dass er in Kirifas am Kaiserhof lebte und dort jedermanns Liebling war? Ein Hund, dem sie den Kopf tätschelten, weil er so brav gewesen war. Der Kaiser und die Kaiserin fütterten ihn, sie ließen ihn mit ihrer kleinen Tochter spielen, die Blitz aus Zukatas Händen gerissen hatte. Blitz lebte nun in diesem Schloss, das Zukata ihm als seinem Ziehsohn hatte öffnen wollen, lebte dort ohne ihn, dort, wo sie alle über den betrogenen Prinzen lachten.

Seine Füße fühlten Grund. Wütend schritt er den Strand hinauf, der an dieser Stelle steinig und menschenleer vor ihm lag. Zornig stapfte er auf all das herrliche Grün zu, auf diesen Garten im Meer, wo man Verräter aufzog, wo sie gediehen und gesund und stark wurden, um ihr elendes Werk zu beginnen.

Er drehte sich um und sah seine Schiffe weit draußen kreuzen. Blitz hatte sich mit dem Falschen angelegt. Überall im ganzen Kaiserreich hatte Zukata seine Leute. Diese Schiffe, die er zu seiner Zeit als Pirat gekapert hatte, waren jahrelang für ihn zur See gefahren. Einen Anteil der Beute hatten die Kapitäne stets für ihn zur Seite gelegt – keiner wagte je, ihn zu betrügen –, und niemand hatte Verwunderung geäußert, als er sie wieder in seinen Dienst gerufen hatte. In Jolis hatte er sie gefunden, dort, wo die Piraten ganze Dörfer ihr Eigen nannten, geduldet von einem König, der blind tat, nachdem er einmal gehörig erschreckt worden war. Man musste nur wissen, wie man mit den Leuten umzugehen hatte. Manche reagierten auf die Verlockung des Goldes besser als auf jede Drohung. Manche wurden empfindlich, wenn man auf ihre Familie zu sprechen kam. Aber irgendwann gehörten sie ihm alle. Alle ohne Ausnahme.

Er wandte sich dem felsigen Strandabschnitt zu, der zwischen großen Steinen in einen Wald überging. Dort ging es zum Steilhang hinauf, in der anderen Richtung lagen der Hafen und die Fischerdörfer.

Zukata hatte nicht damit gerechnet, einen so schönen Wald auf dieser kleinen Insel zu finden, große Bäume, die dem Wind trotzten, nicht nur verkrüppelte Kiefern, sondern hohe, schlanke Laubbäume mit grünen Blättern in allen Schattierungen. Es war hier wärmer als draußen auf dem Meer, seine Kleider trockneten schon an seinem Körper. In der Sonne wuchsen die Plantagen, gezähmte Bäume, die Frucht liefern mussten. Aber es war der wilde Wald, den er liebte, nicht diese beschnittenen Apfelbäume. Die weitverzweigten Stämme und das Dickicht darunter, das sich an die Hosenbeine heftete wie ein bissiger Hund.

Ich bin nicht zahm.

Hatte Blitz das gesagt? Immer hatte er darauf bestanden, dass er anders war als die anderen Räuber, anders als die Männer, auf die Zukata sich verließ.

Der Hang wurde steiler. Von hier aus hatte er einen grandiosen Blick auf das Meer. Die Küste von Drian war nicht zu sehen, aber sehr weit weg konnte sie nicht sein. Dort, auf dem offenen Meer, die Masten der Piratenschiffe. Und wenn er sich umdrehte, konnte er fast die halbe Insel überblicken, über Schafweiden – zunächst hielt er die weißen Flecken für Steine, bis er merkte, dass sie sich bewegten – und einen Teil der Obstgärten bis hin zu ein paar kleinen Dörfern, die sich an den Hang schmiegten.

Die salzige Seeluft füllte seine Lungen.

Und noch weiter hinten die schattenhaften Umrisse der anderen Insel. Neiara.

Er konnte es zerstören. Alles. Diese Insel, die zweite Insel, alles, was sich glücklich nannte und ihn dann verriet. Er dachte über seine Rache nach, aber unter dem blassblauen Himmel und dem ewigen Rauschen der Brandung fühlten sich diese Gedanken nicht mehr heiß und befriedigend an, sondern kühl und fremd. Er konnte es zerstören. Aber vielleicht, dachte er, und dieser neue Gedanke hatte etwas an sich, das ihm über alle Maßen gefiel, vielleicht wäre es noch besser, es zu besitzen.

Eine ganze Weile stand er da und bewegte einen neuen Plan in seinem Inneren. Ich bin nicht zahm, hatte Blitz gesagt, ich bin frei, in mir ist der Traum von den Inseln …

Es gab auch eine andere Möglichkeit, sich zu rächen. Eine viel subtilere, aber genauso wirksame Möglichkeit, Blitz den Boden unter den Füßen wegzureißen. Seinen Männern würde das nicht gefallen. Aber hatte er sich je darum geschert?

Man konnte kein Weingut besitzen, ohne sich für Wein zu interessieren. Wikant probierte den Wein nicht nur, er trank ihn. Den ganzen Becher. Es war sein dritter und bestimmt nicht der letzte. Tinek, seine Frau, öffnete den Mund, um ihm Vorwürfe zu machen – er wusste das, denn er war es gewöhnt –, aber zu seiner Überraschung besann sie sich mitten im Satz.

»Wikant, du solltest nicht …! Ich muss mit dir über Erion reden.«

»Über Blöd?«, fragte er.

»Nenn ihn nicht so!« Aber wenigstens fauchte sie nicht. Sie konnte es nicht leiden, wenn er ihren gemeinsamen Sohn so nannte, aber Erion war nun einmal blöd. Wikant fand, dass er als Vater das Recht hatte, die Dinge beim Namen zu nennen. Erion war in jeder Hinsicht eine Enttäuschung. Er interessierte sich nicht für den Weinanbau. Mittlerweile war er dreizehn und eigentlich alt genug, um in die Lehre zu gehen. Aber er benahm sich immer noch wie ein Kind, das keinerlei Verpflichtungen hatte. Weder interessierte er sich für die Traditionen der ältesten Familie von Neiara noch für sonst irgendetwas, das Wikant als sein Vater hätte fördern können. Er wollte Erion ja gar nicht in den Weinbau zwingen, jedenfalls noch nicht. Aber seinem Sohn zu erlauben, einfach in den Tag hinein zu leben, das ging ebenfalls nicht.

»Gut. Dann reden wir über Blöd.«

Tinek verzog das Gesicht, aber sie hatte wohl wirklich vor, ein ernsthaftes Gespräch zu führen, denn sie ließ sich nicht ablenken.

»Erion möchte Aufseher werden«, sagte sie. »Aber er muss doch erst einmal etwas lernen.«

»Wie kommt er bloß darauf?«, fragte Wikant. »Wie will er etwas beaufsichtigen, von dem er nichts versteht?«

»Er will einfach nur aufpassen, was andere tun.« Sie seufzte. »Wikant, ich glaube, es war ein Fehler, dass wir das Wort Weinfürst ans Gut schlagen ließen. Er ist irgendwie in dem Glauben aufgewachsen, er wäre der Sohn eines Fürsten.«

Wikant griff nach dem nächsten Becher. Er lachte. Nach Tineks ernsthaftem Beginn hatte er mit einer weitaus schlimmeren Nachricht gerechnet. »Lass ihn doch. Er ist ein Kind.« Es ärgerte ihn ja selbst, aber er wusste mittlerweile, dass mit dem Jungen nichts anzufangen war.

»Wikant, verstehst du nicht? Er will nichts lernen, weil er glaubt, er muss das alles nicht wissen! Das Einzige, was überhaupt in seinen Schädel hineingeht, sind diese ganzen königlichen Familien auf dem Festland. Er lernt die Namen von Königen auswendig! Von Herrschaftshäusern! Stammbäume fremder Familien!« Sie machte eine Pause, aber da Wikant nichts sagte, fuhr sie fort: »Er glaubt, er könne sich zurücklehnen und zusehen, wie andere schuften.«

»So wie ich, meinst du.«

»Nein! Nein – nun ja.«

»Blöd«, flüsterte Wikant. Er würde mit dem Jungen ein ernstes Wörtchen reden müssen, und nur, damit Tinek zufrieden war. Nützen würde es sowieso nichts. Bei diesem Schnösel war alles vergebens.

Er wollte gerade trinken, als die Tür heftig aufgestoßen wurde. Vor Schreck zuckte er zusammen und goss sich den Wein über das Hemd. »Ver-«

Er hatte seinen Fluch nicht einmal zu Ende gesprochen, als Kelon hereinstürzte. Kelon war in der Kelterei für alles und jedes zuständig, ein kundiger und verlässlicher Mann, der die Verantwortung übernahm, wenn Wikant sich seinen Traurigkeitsanfällen hingab. Vielleicht stellte sich Blöd einen ähnlichen Posten vor, aber dann hatte der Junge nicht begriffen, wie viel dazu gehörte, überall dabei zu sein und zu überprüfen, wie die Dinge liefen.

Es gehörte nicht zu Kelons Aufgaben, hier einfach so hereinzuplatzen. Höchstens vielleicht, wenn es brannte.

Tinek sprang auf. »Was ist passiert?«

»Piraten!«, rief Kelon. »Sie haben den Hafen blockiert, sie sind überall, sie kommen die Straße hoch – hierher!«

Wikant vergaß sein Hemd. Er stand auf. Und dann stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Sie sahen ihn an, beide, Kelon und Tinek, als wäre er derjenige, der sie retten konnte. Er war der Weinfürst. Er musste etwas tun, den Piraten entgegentreten und sie vertreiben. Aber stattdessen stand er nur da und konnte sich nicht rühren.

»Wikant!«, schrie Tinek. »So tu doch was!«

»Was?«, fragte er zurück. »Wir haben keine Waffen. Oder doch? Im Keller?«

»Dort könnten ein paar Hellebarden liegen«, gab Kelon zu. »Und an der Wand im Empfangssaal hängt ein Schwert.«

»Erion!«, rief Tinek plötzlich. »Wo ist Erion? Erion!« Laut nach ihrem Sohn schreiend rannte sie aus dem Zimmer.

Wikant trat ans Fenster. Von hier aus konnte man das Dorf und den Hafen überblicken; vielleicht war es keine schlechte Idee, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Tatsächlich sah er ein großes fremdes Segelschiff zwischen den kleineren Booten liegen. »Es sieht nicht aus wie ein Piratenschiff«, sagte er zu Kelon. »Vielleicht übertreibst du ein bisschen?«

»Wenn es doch nur so wäre«, seufzte der Mann. »Wikant, wir sollten ein paar Dinge verstecken, die von Wert sind.«

»Hast du das Tor verriegelt?«

»Natürlich.«

Wikant nickte erleichtert. »Dann brauchen wir auch nichts zu verstecken. Durchs Tor kommt niemand.«

Es war ein stabiles Tor aus uralten Eichenbohlen. Warum regten sich alle so auf? Selbst wenn es Piraten waren, die die Insel heimsuchten, würden sie sich an den Dörflern schadlos halten und nicht ins Gut kommen. Er trat zurück an den Tisch, auf dem noch der halbvolle Becher stand. »Wir sollten einfach Ruhe bewahren und …«

Bumm.

Der Schlag war so heftig, dass die Wände vibrierten. Wikants Becher schwappte schon wieder über. »Was war das!«, rief er aus. »Jetzt reicht es aber!«

»Sie sind am Tor«, sagte Kelon. »Ich – ich gehe mal nachsehen.« Es klang, als hätte er lieber gesagt: Ich gehe mich verstecken. Aber Kelon war hier für alles zuständig. Und deshalb tat er seine Pflicht und ging, um einen Blick auf das schützende Tor zu werfen.

Bumm.

Wieder das laute Dröhnen, begleitet von einem Krachen, dass Kelon durch Mark und Bein ging. Er nahm all seinen Mut zusammen, um den Feinden entgegenzutreten. Ein paar Arbeiter hatten tatsächlich die Hellebarden aus dem Lager geholt und bemühten sich, Haltung anzunehmen und wie Soldaten auszusehen. Die Verteidiger standen im Hof und wichen bei jedem Krachen einen Schritt zurück.

»Für den Fürsten!«

Es war nicht Kelon, der gerufen hatte. Wikant drehte sich um und sah Erion dort stehen, mit einem langen Stock bewaffnet, an den er ein Küchenmesser gebunden hatte.

»Was hast du da, einen Besenstiel?«

Der Junge war blass. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm strähnig in die Stirn, aber er versuchte krampfhaft, wie ein Prinz auszusehen. Vielleicht hoffte er, aus seinen Augen würde Mut und Zuversicht strahlen, aber es wäre wirkungsvoller gewesen, wenn er nicht so heftig geblinzelt hätte.

»Blöd! Komm da weg!«

Erion drehte sich um und schrie auf, als er den dunklen Fleck auf dem Hemd seines Vaters bemerkte. »Du bist verletzt! Ich werde dich rächen!«

Der Weinfürst grinste, während er mit vorsichtig tastenden Schritten über den Hof ging. Er schien zu schweben, leichtfüßig und gleichzeitig halb tot, das selige Lächeln eines glücklich Sterbenden auf den Lippen.

Kelon biss die Zähne zusammen und wandte sich an die zitternden Arbeiter.

»Nein«, sagte er. »Nicht für den Fürsten. Für Neiara. Für eure Familien draußen im Dorf. Für jeden einzelnen von uns. Wir sind keine Krieger. Aber wir wissen, was uns erwartet, wenn wir nichts tun.« Dasselbe, was uns erwartet, wenn wir uns wehren, dachte er. Sie werden keinen von uns verschonen. Sie werden uns alle niedermähen. Wenn das wirklich Piraten sind, dann gnade uns Rin.

Bumm.

Es war so dumm, sich ihnen in den Weg zu stellen. Es gab nichts Dümmeres. Aber wenn sie sich verbarrikadierten – irgendwo im Keller, wo die Piraten sie vielleicht nicht finden würden – und später nach oben kamen und sahen, wie das Gesindel im Dorf gewütet hatte … Wer würde dann noch leben wollen?

Bumm. Und das Tor zerbarst. Und dann Stille.

»Für den Fürsten!« Eine helle Jungenstimme hallte durch den Hof. Kelon hielt die Luft an, als er den Sohn seines Arbeitgebers nach vorne rennen sah, die selbstgebastelte Lanze in der Hand. Er erwartete, jeden Moment die Piraten hereinstürzen zu sehen; der Junge lief ihnen direkt in die Arme.

»Nein!« Er hörte Tineks Aufschrei. »Oh nein! Erion!«

Ein Mann schritt über die zersplitterten Balken. Hinter ihm kam eine Horde wilder, bärtiger Gestalten – die Piraten, der Abschaum der Meere. Aber es war ihr Anführer, der alle Blicke auf sich zog, ein Mann, mindestens zwei Kopf größer als die anderen und doppelt so breit: Ein Riese. Sein blondes Haar, zu einem Zopf geflochten, der sorgfältig gestutzte Bart und die Kleidung, die er trug, ließen ihn eher wie einen vornehmen Herrn aussehen als wie einen Piraten. Keine Lumpen, sondern Beinkleider, Wams und Umhang aus allerfeinstem, dunkelblauem Stoff – Kelon erkannte sofort, dass dieser Mann kein gewöhnlicher Räuber war. Und doch, ein einziger Blick in dieses Gesicht genügte und man wünschte sich, es nie wiederzusehen. Zu fliehen und sich zu verstecken und ihm nie, nie wieder zu begegnen. Nicht, weil er hässlich war oder schrecklich anzusehen, sondern weil er lächelte, weil er hier hereinkam und lächelte, und weil ihm in dem Moment, in dem er das Gut betrat, alles hier gehörte, alles und jeder.

Erion, mitten im Lauf, konnte nicht mehr anhalten, als der Riese erschien, und als würden ihn die verzweifelten Schreie seiner Mutter noch mehr anfeuern, stürmte er geradewegs auf den Eindringling zu.

Sie sahen alle, dass dies das Ende war. In keinem flammte die Hoffnung auf, der Junge könnte es schaffen, könnte seine alberne Waffe dem Feind in die Brust bohren. Sie sahen ihn nur in den Untergang rennen. Der Riese wandte dem schreienden Angreifer das Gesicht zu und lächelte ihm mit mildem Erstaunen entgegen. Er bewegte lässig die Hand und pflückte den Jungen mitsamt Besenstiel und Messer vom Boden auf. Einen flüchtigen Moment, nur einen Lidschlag lang, hielt er ihn, dann ließ er ihn fallen wie ein lästiges Insekt, das er sich vom Ärmel geklaubt hatte. Tinek schrie wieder, aber Erion war unverletzt geblieben. Er setzte sich auf und blickte überrascht um sich.

»Für den Fürsten«, wiederholte der Riese die Worte des Jungen. »In der Tat, deshalb bin ich hier. Du?« Er richtete die Frage an Kelon, der wie erstarrt neben den Arbeitern stand und noch am meisten wie der Besitzer von irgendetwas wirkte.

Kelon drehte sich halb und nickte zu Wikant hinüber, der gelähmt dastand und immer noch aussah wie jemand, den man gerade erst ermordet hatte.

Der Riese hob kaum merklich die Brauen, aber verächtlicher hätte eine so kleine Geste kaum sein können.

»Vielleicht können wir Euch – einladen?«, fragte Tinek mit zitternder Stimme und schien nicht einmal zu merken, dass sie ihn angeredet hatte wie einen adligen Herrn. »Ein … ein Glas Wein?«

Sie bebte unter seinem Blick, aber dann verzog sich sein Mund zu einem nicht mehr abfälligen, sondern eher amüsierten Lächeln. »Ist das nicht ein Weingut hier?«

»Ja! Ja, das … ist es.« Tineks Stimme sank von aufgeregt wieder zu verängstigt. Sie beobachtete, wie Erion sich aufrappelte und auf dem Pflaster nach seinem Stock tastete. »Bitte, Herr, bitte tut ihm nichts, er ist nur ein Kind.«

»Dies ist ein Weingut«, sagte der Riese zu seinem Gefolge. »Und wir sind eingeladen, wie ihr gehört habt. Ich bin sicher, der gute Mann dort«, er wies auf Kelon, »wird sich darum kümmern, dass ihr ordentlich bewirtet werdet.«

Als die Piraten auf ihn zuströmten, wankte Kelon, aber er hielt sich aufrecht und gab seinen Arbeitern mit einem Wink zu verstehen, dass sie die Waffen niederlegen sollten. Er hatte keine Ahnung, was dieser Kerl vorhatte, aber vielleicht würde dieser Tag doch nicht mit einem Blutvergießen enden. Es war nur sein Herz, das blutete, während er die Eindringlinge in den Weinkeller führte.

Zukata legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Und du führst mich in euren Thronsaal oder was immer ihr für einen Raum habt, um darin Gäste zu empfangen.«

Erion stolperte vorwärts, und hinter ihnen kamen Tinek und Wikant, als würden sie abgeführt.

Natürlich gab es keinen Thronsaal. Auch auf die edelsten Besucher wartete nur ein aus dunklem Holz vertäfeltes Zimmer mit einem Kristallleuchter an der Decke. Auf dem Tisch standen und lagen noch mehrere geleerte Becher. Hastig machte Tinek sich daran, abzuräumen, während der Riese aus dem Fenster auf die kleine Hafenstadt hinausblickte. Seine Hand lag immer noch schwer auf Erions Schulter.

»Das sieht Blöd mal wieder ähnlich«, murmelte Wikant verdrossen. »Sich selbst zur Geisel zu machen.«

Er hatte nicht laut gesprochen, aber der Riese hob den Kopf. »Blöd? Du nennst deinen Sohn Blöd?«

»Ich heiße Erion«, knurrte der Junge. »Erion von Neiara.«

»Wo ist der zweite Sohn?«

»Wir haben nur diesen einen, Herr«, sagte Tinek. Sie war mit dem Tablett auf dem Weg zur Tür und zögerte. Ob es klug war, jetzt hinauszugehen und den Feind mit ihrer Familie alleinzulassen?

»Ach.« Der Riese hob wieder die Brauen. »Ich nahm schon an, ihr hättet mindestens zwei. Wenn ihr den einen beschimpft, müsstet ihr doch noch einen anderen haben, den ihr bevorzugt?«

»Nein, nur den einen«, wiederholte die Frau.

Das Gesicht des Jungen verzog sich zu einer wütenden, trotzigen Grimasse. Trotzdem bewahrte er Haltung. Er stand neben dem Riesen, als würde er zu ihm gehören. In seinen Augen lag nicht der Wunsch, seine Eltern möchten ihn retten, sondern das dringende Verlangen, sich in dieser Situation zu beweisen. Er weinte nicht, obwohl es um seine Mundwinkel zuckte.

Tinek hatte sich entschieden, nicht hinauszugehen. Sie stellte das Tablett neben die Tür und holte aus einem hohen, mit Intarsien verzierten Schrank ein weißes Tuch, mit dem sie den verschütteten Wein aufwischte.

»Möchtet Ihr etwas essen?«

»Essen können wir später, nachdem wir alles besprochen haben«, sagte der Riese.

»Was gibt es denn zu besprechen?«, fragte Wikant, der bis jetzt möglichst unauffällig an der Wand gestanden hatte, und schlurfte ein paar Schritte näher. »Äh, Herr?«

Tinek eilte ängstlich vor und reichte dem Riesen hastig einen Becher Wein, den sie entweder im Schrank gefunden und sonstwie hergezaubert hatte. Er nahm ihn aus ihrer Hand und führte ihn zum Mund.

»Dieser Wein ist dreizehn Jahre alt«, flüsterte Wikant. »Warum hast du ihn aufgemacht? Er war für Erions Hochzeit bestimmt.«

»Was tut er dann in diesem Schrank?«, zischte sie zurück. »Das war dein geheimer Vorrat, wenn du so tust, als würdest du hier arbeiten.«

»Die Glücklichen Inseln«, sagte der Besucher, als wäre er ein Gast, den sie zu einer Weinprobe eingeladen hatten. »So schmecken sie also?«

»Gefällt es Euch?«

Der Riese sah auf den Becher in seiner Hand. »Selbst in Kirifas trinken sie ihn, also muss er gut sein. Gegen das, was man auf einem Piratenschiff zu trinken bekommt, ist alles andere umwerfend.« Er lachte. »Neiara, das Königreich des Weins! Das Königreich des Glücks. Nennt ihr es so? Würdet ihr es so nennen?« Er stürzte den Wein hinunter und begegnete ihren erschrockenen Blicken mit einem Lächeln. »Wisst ihr, wer ich bin? Nein? Ich bin Prinz Zukata, der Sohn Kaiser Kanuna El Schattiks, des Gesegneten. Ich bin der, der nach ihm auf dem Thron in Kirifas sitzen wird. Und das bedeutet, ich bin auch euer zukünftiger Kaiser.«

»Huh«, meinte Erion ehrfürchtig, »das ist …«

»Sei still, Blöd«, fuhr Wikant dazwischen. »Das geht uns nichts an. Neiara gehört nicht zum Kaiserreich.«

»Noch nicht«, sagte Zukata. »Habt ihr euch je gefragt, warum die Glücklichen Inseln frei sind? Warum sie nicht längst von den Küstenländern annektiert worden sind? Sicher nicht, weil ihr so eine schlagkräftige Truppe habt. Das haben wir heute ja gesehen.«

»Warum – warum dann?«, stammelte Wikant, nachdem Zukata ihn lange angesehen hatte, als erwarte er wirklich eine Antwort von ihm.

»Der Schutz des Kaisers«, erklärte Zukata. »Ja, schon immer hat der Kaiser, den ihr nicht als euren anerkennt, euch beschützt. Nur der Kaiser verhindert, dass Drian oder Tors euch einfach schlucken. Nur der Kaiser, der euch angeblich nichts angeht, gibt euch die Freiheit, hier euer eigenes Leben zu führen. Habt ihr euch nie gefragt, warum?«

»Ähm, warum?«

Zukata hielt seinen leeren Becher Tinek vor die Nase, und sie schenkte ihm hastig nach. Er trank ein paar Schlucke, bedächtig, genießerisch.

»Vielleicht war es der Fischerkönig«, sagte er dann langsam. »Weiß ich es denn? Ich rate nur. Ich bin noch nicht Kaiser. Was weiß ich von den geheimen Verabredungen, die hinter verschlossenen Türen getroffen wurden? Was weiß ich von der Freiheit dieser Inseln? Ich weiß nur eins. Wenn ich Kaiser bin, lieber Wikant, verehrteste Tinek«, beide zuckten zusammen, denn sie hatten nicht erwartet, dass er ihre Namen kannte, »dann werden diese Inseln zu meinem Reich gehören, ohne Wenn und Aber. Dann werde ich sie für Deret-Aif in Anspruch nehmen.«

»Aber«, begann Wikant, »aber das …« Er verstummte. Was wollte er sagen? Das geht nicht? Es ist nicht recht?

»Bis ich Kaiser werde«, sprach Zukata weiter, »können noch viele Jahre vergehen. Ich bin hergekommen, damit ihr Zeit habt, euch darauf vorzubereiten. Nicht, dass ihr meint, ihr müsstet ein Heer aufstellen, um euch gegen die Soldaten aus dem Kaiserreich zu verteidigen. Wie viele Krieger passen auf diese Insel? Vergesst es. Was ich euch bringe, ist keine Warnung, sondern ein Angebot.«

»Was für ein Angebot?«, fragten Wikant und Tinek gleichzeitig, er misstrauisch, sie eifrig.

»Fürst Wikant.« Zukata warf ihm den Titel hin wie etwas Schmutziges. »Nennst du dich nicht so? Dabei bist du nichts als ein Mann, der durch Erbschaft um einiges reicher ist als der Rest der Inselbewohner. Du bist kein Fürst, so wenig wie die Apfelkönigin in Arima eine Königin ist. Falls es je einen König auf den Glücklichen Inseln gab, muss es der Fischerkönig gewesen sein, der sich Freund des Kaisers nennen durfte, doch es gibt niemanden mehr mit dem Anspruch auf diesen Titel. Wenn ich Kaiser bin, wird das Königreich Drian seine Grenzen um einen Weinberg und einen Obstgarten erweitern – es sei denn, die Glücklichen Inseln schaffen es bis dahin, sich ihr eigenes Königreich aufzubauen.«

»Du willst, dass mein Vater König wird?«, fragte Erion mit leuchtenden Augen.

»Sei still, Blöd.« Wikants Gesicht hatte sich verändert, während Zukata sprach. Er war so wütend, dass er kaum sprechen konnte, aber gleichzeitig musste er sich darum bemühen, beherrscht und vorsichtig zu reagieren. »Das geht nicht, Prinz. Ich bin kein König. Ich will kein König sein. Die Leute hier werden das niemals akzeptieren.« Ein hoheitsvoller Zug lag auf seinem Gesicht, er stand aufrecht da und wirkte so nüchtern wie schon seit Jahren nicht mehr. »Wie könnt Ihr so ein unglaubliches Ansinnen hier vortragen? Wenn Ihr diese Insel erobern wollt – wir können Euch nicht daran hindern. Aber von uns zu verlangen, dass wir es selbst tun, dass wir die Menschen hier zu etwas zwingen, was sie nicht wollen, was sie nicht einmal wollen können! Es gab nie einen König hier auf Neiara, noch nie in tausend Jahren …« Er hatte sich verausgabt und sank wieder in sich zusammen.

»Ich möchte schon gern ein König sein«, ließ Erion sich vernehmen.

»Ich sagte, sei still!«

»Einen König werden die Inseln bekommen, so oder so«, sagte Zukata. »Es liegt an euch, ob ihr diese Chance nutzt, es selbst zu sein. Ich werde Deret-Aif größer machen, als es jemals war. Wenn ihr das erste neue Königreich in meinem Herrschaftsbereich sein wollt, dann beglückwünsche ich euch dazu. Wenn nicht – wenn ihr euch Drian unterwerfen wollt, dann bitteschön. Aber das wird deinen Leuten vielleicht noch weniger gefallen.«

»Und was ist mit Arima?«, fragte Tinek. »Habt Ihr schon mit Binajatja gesprochen? Was hat sie dazu gesagt?«

»Die sogenannte Apfelkönigin? Nein, ich werde nicht mit ihr sprechen. Mit euch wollte ich reden. Ich gebe euch nichts vor. Ob jede Insel einen eigenen König hat, wenn ich Kaiser bin – oder eine Königin? –, was geht es mich an? Oder einen König für beide Inseln? Auch das wäre mir recht. Glaubt nicht, dass ihr keine Wahl hättet.«

»Ich werde ein Prinz sein«, flüsterte Erion verzückt.

»Bei Rin, sei endlich still!«, brüllte Wikant.

»Wikants Bruder Norha ist zur Zeit auf Arima«, dachte Tinek laut. »Binajatja hat ihn zu ihrem Verwalter gemacht. Ich meine nur, da sie keine Erben hat … Wenn Norha die Gärten eines Tages übernimmt … Und wir sind hier … Es wäre ja fast so, als wenn wir – Könige über beide Inseln wären?« Sie benutzte das Wort »König«, als wäre es etwas Unanständiges.

»Er ist nur der Verwalter«, beharrte Wikant. »Nichts weiter. Diese beiden Inseln sind in Freundschaft verbunden. Immer nur in Freundschaft.«

»Aber du«, Zukata wandte sich an den Jungen, »du wärst gerne ein Prinz? Du wärst gerne einer der Könige, die an des Kaisers langer Tafel speisen. Du wärst gerne des Riesenkaisers Freund, so wie es Arimas Fischerkönige immer waren – aber offen, nicht heimlich, so dass jeder weiß, wie weit du es gebracht hast. Nicht wahr?«

Erion nickte eifrig.

»Blöd«, flüsterte Wikant untröstlich, als ahnte er schon, was geschehen würde.

»Dann komm mit mir«, sagte Zukata. »Komm mit mir auf mein Schiff. Du wirst der Freund des Kaisers sein, noch bevor deine Eltern sich entschieden haben, ob sie eine Krone tragen möchten.«

»Nein, Herr«, flehte Tinek. »Wir tun es ja. Wir werden Könige werden. Wir werden ein Schloss bauen und einen Thronsaal, in dem wir Euch das nächste Mal empfangen können. Bitte, Prinz! Lasst ihn hier. Wir werden es ja tun. Es kam nur etwas plötzlich. So unerwartet. Aber wir können es schaffen, wir werden es …«

Wikant schüttelte nur stumm den Kopf.

»Es müssen beide Inseln sein«, sagte Zukata. »Ein König für jede Insel oder ein König für beide. Das Königreich der Glücklichen Inseln. Überstürzt nichts. Ihr habt Zeit. Mein Vater ist ein Riese und Riesen leben lange. Zehn Jahre oder zwanzig oder fünfzig? Ein Schloss baut man nicht in fünf Jahren. Oder gar zwei Schlösser, eins für jede Insel? Denkt darüber nach. Und nun könnt ihr euch darum kümmern, etwas aufzutischen. Setz dich hier neben mich, Junge. Deine Mutter wird dafür sorgen, dass wir königlich speisen.«

Diesmal musste Tinek den Raum verlassen. Aber Wikant blieb da. Die ganze Zeit stand er an der Wand, gegen die glatte, kühle Holzpaneele gelehnt, und starrte auf seinen Sohn.

Der Erbe des Riesen

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