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2. Zu viele Geheimnisse

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Ü B E RI H N E NW Ö L B T Esich das grüne Dach des Sommers. Hier unten, unter den Zweigen, geschützt von Blättern, hätte es eigentlich angenehm frisch und kühl sein sollen. Mino stöhnte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Warum ist es so heiß?«

Keta blickte lächelnd auf sie herunter. »Seit wann macht dir das etwas aus?«

Sie lehnte sich gegen einen Baumstamm und rang nach Luft. »Mir ist schwindlig … Oh Rin, was bin ich müde.«

Obwohl der Riese verwundert den Kopf schüttelte, setzte sie sich zwischen die Baumwurzeln, die einen natürlichen Sessel bildeten.

»Ein schöner Platz«, sagte er. »Aber wir wollten heute ein gutes Stück schaffen, Möwe.«

»Mino«, verbesserte sie ihn. Sie legte den Kopf zurück, ihr wurde für einen Moment schwarz vor Augen.

»Für mich wirst du immer Möwe bleiben«, sagte er. »Auch wenn die Möwe, die ich kenne, etwas härter im Nehmen ist. Was ist eigentlich los mit dir?«

»Nichts«, beteuerte sie. »Ich bin einfach nur müde.«

Er kniete sich neben sie und griff nach ihrem Handgelenk.

»Ach, lass das, Vater. Ich bin nicht krank.«

»Vater«, wiederholte er. »Siehst du, und du bist doch Möwe. Nur Mino versucht ständig, sich daran zu erinnern, dass ich nicht ihr Vater bin. Möwe weiß genau, wo sie hingehört.«

Das weißhaarige Mädchen schüttelte den Kopf. »Nach Arima«, sagte sie leise. »Ich muss zurück nach Arima … Was ist mir schwindlig.«

»Trink.« Er reichte ihr die Wasserflasche, die sie durstig leerte. Aufmerksam beobachtete er sie. »Diese Reise ist anders als alle unsere vorherigen Wanderungen.«

»Natürlich«, sagte sie. »Ich habe mein Gedächtnis wieder. Wir haben ein Ziel, wir wandern nicht mehr einfach so durch die Gegend. Du bringst mich nach Hause. Natürlich ist es anders.«

»Das meine ich nicht.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Möwe«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich dich das fragen soll.«

»Was denn?« Sie goss sich den Rest des Wassers über ihr Gesicht. »Du nimmst doch sonst kein Blatt vor den Mund, Keta.«

»Könnte es sein, dass du schwanger bist?«

Sie ließ die Flasche sinken und starrte den großen, blonden Riesen an, diesen Mann, der wie ein Vater für sie war. Drei Jahre lang, bis sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte, war er ihre Familie gewesen. Und doch hatte sie ihm nie alles erzählt, was in den Festtagen in Kirifas vorgefallen war. Er hatte es nie erfahren sollen. Niemand hatte es je wissen sollen und sogar sie selbst, so hatte sie sich geschworen, würde es vergessen, als wäre es nie passiert.

»Schwanger?« Ihre Augen begegneten sich, ihre blassen Albinoaugen, seine blauen Himmelsaugen. Er konnte den Schrecken in ihrem Blick erkennen, bevor sie das Gesicht abwandte.

Keta machte keinen Hehl aus seiner Verwunderung. »Möwe! Möwe, das … Und auch von ihm – nein, das hätte ich nicht erwartet. Lässt sich von allen feiern, der kleine Held, und dann das!« In sein Gesicht trat der Zorn. Er ballte die Fäuste. Mino war den Anblick eines wütenden Riesen gewöhnt und ließ sich nicht so schnell beeindrucken.

»Nein, Keta …«

»Ich rette ihm das Leben und er dankt es mir auf diese Weise? Du warst verwirrt. Du warst so verletzlich in diesem Moment, in dem dir alles wieder ins Gedächtnis kam … Wie konnte er das ausnutzen? Und dabei hat er diese schöne, junge Frau! Das ist der Mann, dem der Kaiser seine Tochter anvertraut? Das ist der Mann, für den ich den Segen geopfert habe?«

»Du hast was?«, fragte Mino verblüfft. Sie vergaß für einen Moment, was sie ihm hatte sagen wollen. »Du hast für Blitz den Segen hergegeben? Wie soll ich das verstehen?«

»Ich habe Zukata dazu gebracht, Blitz zu verschonen«, erklärte Keta grimmig, und in diesem Moment erkannte Mino, dass sie nicht die Einzige war, die Geheimnisse hatte.

»Aber – wie konntest du das tun, Vater? Für diesen Preis? Du hast Zukata versprochen, ihn zu segnen? Das durftest du nicht!«

»Ich weiß«, sagte Keta, auf sich und ebenso auf alle anderen zornig, »und nun wünschte ich mir, ich hätte es auch nicht getan!«

»Vater, Blitz hat mit – mit diesem Kind nichts zu tun.« Sie sagte es leichthin, aber in ihr brannte der Schmerz wieder auf, dieser verfluchte Schmerz, der sie wünschen ließ, dass Blitz sehr wohl etwas damit zu tun gehabt hätte. Wieso bekam sie ein Kind? Nur ein einziges Mal war sie schwach gewesen. Wie konnte sie davon schwanger geworden sein?

Ketas Zorn verrauchte auf einen Schlag. »Nicht? Aber – dann hast du Jamai endlich erhört? Und ich dachte schon … Weißt du, irgendwie habe ich es geahnt. Er liebt dich schon so lange. Aber warum ist er dann verschwunden? Warum gehst du überhaupt mit mir nach Arima, Möwe? Habt ihr euch gestritten? Vielleicht – deswegen?«

Mino seufzte. »Muss ich dir wirklich alles sagen?«

Der Riese schrak zurück, vielleicht vor seiner eigenen Neugier, vielleicht, weil das Mädchen, das bis jetzt immer ein Kind für ihn gewesen war, sich auf einmal als erwachsene junge Frau entpuppte, die ihm nicht alles offenbarte.

»Nein«, antwortete er schnell, »nein, das musst du nicht.«

Sie richtete sich langsam auf. »Es geht schon wieder. Wir können weiter.«

»Ich könnte dich ein Stück tragen«, bot er an.

»Ach nein, Vater!«

Wenn er es eilig gehabt hätte, hätte er darauf bestanden. Aber ihm lag nichts daran, möglichst schnell die Glücklichen Inseln zu erreichen und Möwe ihrer Mutter zu übergeben. Nachdenklich ging er neben ihr her und wünschte sich, er hätte irgendjemanden dafür umbringen können, für diese Schwere, die ihm plötzlich auf dem Herzen lag.

Er hatte das Feuer nur entfacht, um die Mücken zu vertreiben. Wärme hatten sie genug. Die Nacht war schwül und lag drückend über ihnen.

»Ein Gewitter wäre jetzt nicht schlecht«, sagte Keta. »Ein Sturm, der die Luft reinigt. Blitz und Donner …«

»Blitz«, wiederholte Mino leise.

»Mein Vater hält sehr große Stücke auf ihn«, sagte Keta. »Ich bin froh, dass ich meine Meinung über ihn nicht ändern muss.«

Nicht einmal ihrem Vater konnte sie ihre wahren Gefühle für Blitz anvertrauen. Wie eine ganze Welt in ihr aufgegangen war, als sie ihn gesehen hatte, erblüht und wieder eingestürzt, alles in einem Augenblick.

»Jamai ist ein guter Junge, Möwe. Weiß er eigentlich etwas von dem Kind? Nein, wie könnte er, wenn du es selbst bis jetzt nicht geahnt hast. Wir müssen ihn benachrichtigen. Alles wird gut, Möwe, das verspreche ich dir. Jamai wird sich mit uns freuen, er …«

»Das Kind ist nicht von Jamai«, sagte sie.

Wieder ging ein Teil ihres Geheimnisses verloren. In seinen erstaunten Augen erblickte sie die ganze Schmach, die über sie hereingebrochen war. Nicht Blitz und nicht Jamai. Nein, Jamai war geflohen, als er gesehen hatte, wie sie Blitz umarmte. Jamai war fort und sie wusste zu gut, warum.

Keta bemühte sich, seine Überraschung zu verbergen. Er schüttelte den Kopf und wandte sich dem Feuer zu – um seine Verlegenheit zu überspielen oder seine Missbilligung? Er legte etwas Holz nach und stocherte in den Flammen. »Ein einzelner Funke könnte diesen ganzen Wald in Brand setzen«, sagte er. »Doch nein, wir kriegen Regen. Riechst du es? Die Wolken kommen. Ich höre schon das Grollen des Donners. Das Unwetter zieht her.«

Möwe konnte noch nichts hören. Die schärferen Sinne der Riesen entlockten ihr jedoch längst kein ungläubiges Lächeln mehr. Sie dachte nicht darüber nach, was passieren würde, wenn der Sturm sie hier im Wald überraschte, zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Sie rang mit sich, ob sie Keta noch mehr erzählen sollte. Er würde es akzeptieren, wenn sie ihm nichts verriet. Aber er würde sich darüber Gedanken machen, wer sie war und warum er so wenig von ihr wusste. Nein, er hatte nicht gedacht, dass sie so etwas tun könnte. Blitz, den sie liebte. Jamai, der ihr sein Herz zu Füßen gelegt hatte. Wer kam denn sonst in Frage?

»Toris«, sagte sie leise, sie sah ihn an. »Das ist es doch, was du wissen willst, nicht? Wie kann deine Möwe schwanger sein? Wo sie doch immer auf Blitz gewartet hat, auf ihr altes Leben, tugendhaft und standfest … Treibt sie sich mit fremden Männern herum? Wer ist sie? Ich sehe dir an, dass du dich das fragst. Mach mir ruhig Vorwürfe. Sprich es ruhig aus. Sag es doch: Möwe, das hätte ich nicht von dir gedacht. Das hätte ich wirklich nicht erwartet. Unsere kleine Möwe? Aber so ist es.« Sie lachte bitter auf. »So ist es.«

Keta streckte die Hand aus und wischte eine Träne von ihrer Wange. »Nicht weinen, Schatz. Nicht weinen, Liebes, meine liebe Möwe … Es ist gut. Es ist gut, mein Kind.«

»Gut? Wie könnte es gut sein?« Sie schluchzte auf, sie barg das Gesicht in ihren Händen.

Er setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. »Du bekommst ein Kind, Möwe. Wie könnte das schlecht sein? Es wird ein wundervolles Kind und wir werden alle stolz darauf sein. Ich kenne Toris seit seiner Geburt. Er ist ein guter Junge. Du hast keinen Grund, dich zu schämen. Glaubst du, nur weil ich zuerst an Jamai dachte, nehme ich es dir übel, dass es Toris ist?«

»Blitz hättest du es übelgenommen«, wandte sie ein.

»Weil Blitz verheiratet ist. Nur deswegen. Und weil – nun, vielleicht ist es immer so, dass Väter sich Sorgen machen und junge Mädchen trotzdem tun, was sie wollen. Ich habe nicht daran gedacht, wie viel Zeit du mit Toris verbracht hast. Er ist der beste Jongleur, den ich kenne, und ich habe viele gesehen. Ah, deswegen hat er dich also bestürmt, bei der Sippe zu bleiben.«

Sie nickte nur. Sie sagte ihm nicht, dass Toris auch jetzt noch nie mehr als ein guter Freund für sie sein konnte. Er würde, daran zweifelte sie nicht, für sie und das Kind sorgen, wenn sie zur Sippe zurückkehrte; er war ja sogar bereit gewesen, mit ihr nach Arima zu gehen und sesshaft zu werden. Aber sie wusste, dass das kein Leben für ihn war, den Ziehenden, der die Wälder liebte und auf den Jahrmärkten zu Hause war. Und sie war nicht für das Leben einer Zinta geboren worden. Sie lebten in verschiedenen Welten, sie und Toris, und nur eine starke Liebe, so stark wie ihre Liebe zu Blitz, hätte sie dazu bringen können, ihre Pflichten zu vergessen, die daheim auf sie warteten. Nur Blitz hätte sie dazu bringen können, dass sie alles hinter sich ließ, dass sie sich in den Sturm warf und ins Wasser sprang und alles vergaß, ihr ganzes Leben und ihre Vergangenheit und sich selbst. Aber Blitz hatte eine Frau.

Dies, dachte sie, ist eine Krankheit, gegen die nicht einmal der gesegnete Prinz mit den heilenden Händen etwas ausrichten kann. Dies ist ein Fluch, den ich selbst auf mich herabgezogen habe und von dem es keine Erlösung gibt. Dies ist etwas, von dem ich nie, niemals frei sein werde …

Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen. Keta legte seine schützenden Arme um sie, aber sie löste sich von ihm und kroch aus dem behelfsmäßigen Unterschlupf, den er aus Ästen und dem Wurzelwerk eines umgestürzten Baumes errichtet hatte. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht und durchnässte sie. Hagelkörner schlugen wie winzige Geschosse in ihre Haut ein. Sie hielt sich dem Sturm hin und wünschte sich, er könnte sie verschlingen, sie wünschte sich, er wäre ein Ungeheuer, das Menschen fraß. Aber er konnte weder ihr Gedächtnis auslöschen noch ihre Liebe. Der Schmerz brannte so heiß in ihr, dass nichts sie davon befreien konnte.

Keta ließ sie in Ruhe, aber danach, als die Wolken weitergezogen waren, trat er zu ihr und musterte sie besorgt. »Was kann so schlimm sein?«, fragte er, aber sie antwortete nicht.

»Versuch nie, Schmerz mit Schmerz zu bekämpfen«, riet er ihr, aber was scherten sie seine weisen Ratschläge?

Schmerz gegen Schmerz. Es war die einzige Waffe, die ihr zur Hand war.

Es war meine Schuld … Wir hätten beide auf dem Schiff sein können, wir beide, und Blitz hätte dieses andere Mädchen nie getroffen …

»Du bist völlig durchnässt«, meinte Keta. »Du musst dich unbedingt umziehen.«

Sie wollte sein Verständnis nicht und sein Mitleid und seine Fürsorge. Es gab nur einen Weg, damit aufzuhören, sich Vorwürfe zu machen, und das war, die Waffe jemand anders in die Hand zu legen und sich unter den Zorn eines anderen zu beugen.

»Mutter«, flüsterte sie, »ich will zu meiner Mutter …«

Er erfüllte ihr auf dieser Reise fast jeden Wunsch. Damit sie sich nicht überanstrengte, hatte er ihr einen Esel gekauft – er wusste, dass sie Esel weitaus mehr liebte als Pferde – und hatte sich dem Schritt des hin und wieder störrischen Tieres angepasst. Er hatte versucht, Mino durch Geschichten und Lieder aufzuheitern, und wenn sie Appetit auf etwas Bestimmtes bekam, scheute er keine Mühen, es für sie aufzutreiben. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin und er war der König. Als sie ihm das sagte, lachte er. »Ja, die Prinzessin des Waldes und der König der Zintas. Und dies ist unser Schloss – ganz Deret-Aif, größer und schöner als jeder Palast. Jedes Dorf ist Kirifas und jede Lichtung, auf der Brombeeren wachsen, ist mein Schlosspark. Du reitest auf dem edelsten Ross aus meinem Stall, meine Liebe. Alles ist dein, ich schenke dir die ganze Welt.«

Doch dann hörte er auf zu lachen und sie beide dachten daran, wem er die ganze Welt versprochen hatte, und Mino fürchtete sich davor, was aus dieser Welt werden könnte, wenn er es tat.

»Was wird das noch für ein Deret-Aif sein, in dem mein Kind aufwachsen wird?«, fragte sie. »Wenn es erst Zukatas Kaiserreich ist?«

»Vielleicht wird der Segen ihn verändern, so wie er mich verändert hat.«

»Aber das weißt du nicht.«

Mino ließ ihren Blick über die Landschaft wandern, durch die sie auf dem Esel mit dem samtweichen Fell ritt. Sie waren in Sitra und durchquerten weite, lichte Felder, in denen die späte Sommersonne wie mit goldenen Fäden ein Netz aus Licht sponn. Ketas glitzerndes Waldschloss war schöner, als jeder Palast es sein konnte. Tränen stiegen ihr in die Augen, wenn sie daran dachte, dass sie bald wieder in einem Haus leben würde, mit einem Dach zwischen sich und dem in allen Farben blühenden Himmel.

»Hab keine Angst«, sagte Keta. »Es ist Rins Segen und dies ist Rins Welt.«

Mino schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es so … Aber ich werde nie vergessen, welche Mühen es gekostet hat, Zukata Prinzessin Manina abzuringen. Stell dir vor, was es erst kosten würde, wenn wir ihm das Kaiserreich aus den Händen winden müssten, um es zu retten.«

»Und wenn ich mein Versprechen nicht halte?«, fragte Keta, und er musste nicht hinzufügen: Was ist dann mit Blitz?

Ich würde ihn verstecken, wollte sie sagen. Ich verberge ihn, ganz nah bei mir. Ich halte ihn fest, ich beschütze ihn, ich passe schon auf, dass ihm nichts geschieht … Aber Blitz hatte eine Frau.

Bevor sie auf die Fähre stiegen, die vom Drianer Hafen nach Arima ablegte – und natürlich hatte Keta sich durch nichts davon abbringen lassen, sie zu begleiten –, kam ihr plötzlich der Gedanke, ob es nicht doch ein Fehler war. Noch konnte sie umkehren, wieder zurück in den Sommerwald, der sich in einen goldbunten Herbstwald hineinverwandelte. Angst ergriff sie und ihr Herz schlug, nicht in freudiger Erwartung, sondern voll des Wissens, was sie dort in Arima erwartete. Keta merkte wohl, dass sie aufgeregt war, aber er nickte ihr freundlich zu.

»Nun ist es gleich soweit.«

»Ja.« Instinktiv legte sie ihre Hand auf den Bauch, in dem das Kind heranwuchs. Man sah noch kaum, dass sie schwanger war, aber sie konnte manchmal bereits die Bewegungen des Ungeborenen spüren.

»Ich werde dich regelmäßig besuchen«, versprach er, als hätte er das nicht schon unzählige Male gesagt. »Ich muss doch sehen, wie es meiner Tochter, der edlen Kaisergängerin, und meinem Enkel ergeht.« Er grinste. »Dem Urenkel des Kaisers, vergiss das nicht.«

»Ach, Vater …« Sie seufzte. »Ich bin doch bloß ich. Und Arima gehört nicht mal zum Kaiserreich.«

Er lächelte zufrieden, weil sie ihn wieder Vater genannt hatte, und zugleich schmerzlich, denn er wollte sie nicht hierlassen und ihrer alten Familie zurückgeben. Sie war nicht sein Fleisch und Blut, aber es fühlte sich längst so an – und doch durfte er nichts sagen. Er wusste, dass ihre erste Familie ein älteres Recht auf sie hatte.

Sie gingen von Bord, in diesem winzigen Hafen. Die Häuser der Fischer kamen Keta kleiner als sonstwo vor, schmucke weiße Häuschen, die sich aneinanderkuschelten.

»Dort geht es zu den Plantagen«, sagte sie und zeigte auf den Weg, der durch die Dünen führte. »Und das Dorf der Arbeiter liegt hinter den Hügeln.«

Es war unglaublich, wie wenig sich hier verändert hatte. Alles sah noch genauso aus wie vor drei Jahren. Die Häuser, die Menschen …

»Mino?« Sie begegneten einer Gruppe von Obstpflückern, die sie ungläubig anstarrten, sie und den Riesen, der sie begleitete. Auf den Glücklichen Inseln lebte kein Einziger aus Larings Stamm; die Leute wussten nicht, wen sie mehr bestaunen sollten – die totgeglaubte Tochter der Apfelkönigin oder den Hünen, den sie mitgebracht hatte.

»Ja!« Sie lachte. »Ja, ich bin’s!«

Als sie ihr altes Zuhause erreichte, war Binajatja längst benachrichtigt worden. Sie stand vor der Tür ihres Hauses und wartete.

»Wie alt sie geworden ist«, flüsterte Mino. Vielleicht war sonst alles gleich geblieben, aber für ihre Mutter schienen mehr als drei Jahre vergangen zu sein. Tiefe Furchen hatten sich in ihr Gesicht gegraben, aber sie war immer noch schön. Sie stand da wie eine Königin, aufrecht und stolz, auf ihre Würde gestützt wie auf eine Krücke, und lächelte nicht, als sie ihre Tochter wiedersah.

»Mutter!«, rief Mino und umarmte sie, aber Binajatja stand stocksteif da, ohne sich zu rühren.

»Du lebst also doch«, stellte sie fest. »Und du hast es nie für nötig befunden, mich zu benachrichtigen, wenn es dir schon nicht eilig damit war, zurückzukommen?«

»Ich hatte das Gedächtnis verloren …«, begann Mino, aber Binajatja unterbrach sie. »Und wer ist das?« Sie musterte Keta unverhohlen feindselig. »Seit wann gibt es Riesen auf dieser Insel?«

»Das ist Prinz Keta«, sagte Mino. »Er hat mich hergebracht. Und davor hat er mich geheilt, weil ich fast gestorben wäre, und … Oh Mutter, ich habe dir so viel zu erzählen. Du ahnst ja gar nicht, was ich alles erlebt habe!«

Die Apfelkönigin öffnete die Tür. »Komm nach drinnen«, sagte sie, »das brauchen ja wirklich nicht all diese Leute mit anzuhören. – Ihr könnt wieder an die Arbeit gehen, es gibt hier nichts zu sehen.«

Sie konnte nicht verhindern, dass Keta sich bückte und unter dem Türrahmen hindurch über die Schwelle trat.

Es gab nicht viel zu sagen. Die Worte erstarben auf Minos Zunge, bevor sie ihren Mund verlassen konnten. Sie überließ es Keta, ihre Mutter davon zu unterrichten, dass sie eine Kopfverletzung davongetragen und das Gedächtnis verloren hatte. Als er erwähnte, dass sie in der Zwischenzeit bei den Ziehenden gelebt hatte, hob Binajatja die Brauen.

»Na schön«, meinte sie schließlich. Keta war noch gar nicht dazu gekommen, von ihrer Suche nach Zukata und Maninas Rettung zu berichten, aber Minos Mutter hatte anscheinend genug gehört. »Du warst also krank. Du hast drei Jahre verpasst, in denen sich hier einiges getan hat. Ich habe einen Verwalter eingestellt, der die Arbeit übernommen hat, die ich dir zugedacht hatte. Diesen Vorsprung, den er jetzt dir gegenüber hat, wirst du schwerlich einholen können. Aber wir werden sehen.«

Keta legte Mino beruhigend die Hand auf den Arm. Nimm von meiner Kraft, konnte das heißen, nimm von meiner Stärke, nimm, was immer du brauchst.

»Und Ihr – Prinz Keta, richtig? – steht wie genau zu meiner Tochter? Habt Ihr Euch mit ihr vermählt, während sie krank war und Euch hilflos ausgeliefert war?«

Keta lief rot an.

»Er ist wie ein Vater für mich!«, warf Mino schnell ein.

»Du hattest einen Vater«, erinnerte Binajatja scharf. »Und er hat uns im Stich gelassen. So wie dein Bruder auch.«

»Das hat er nicht!« Sie wusste selbst nicht, woher sie den Mut nahm, das zu sagen. »Lexan hat uns nicht im Stich gelassen! Er ist in Rinland angekommen, Mutter, ist das nicht wunderbar? Ich muss dir von dem Brief erzählen!«

»Genug!«, fuhr ihre Mutter sie an. »Ich will nichts mehr hören. Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen? Du hast die Gewohnheiten dieses ganzen Gesindels übernommen, wie? Aber vermutlich sollte ich noch dankbar sein, dass es nicht schlimmer gekommen ist. Dass du nicht entehrt und mit einem Balg am Hals hergekommen bist. So«, sie wandte sich wieder an Keta. »Ich danke Euch für Eure Hilfe, aber nun ist sie ja wieder zu Hause. Ich werde Euch Eure Mühe selbstverständlich entgelten. Wartet hier einen Moment.«

Sie erhob sich und verließ das Zimmer.

»Möwe«, flüsterte Keta, »Möwe, komm mit mir. Lass uns nach Hause gehen, zu Variti und den anderen.«

Aber Mino schüttelte den Kopf. »Das ist meine Mutter.«

»Möwe, bitte …«

Binajatja kam zurück. »Hier.«

Keta starrte ungläubig die Münzen an, die sie vor ihm auf den Tisch legte. »Du willst mich dafür bezahlen?«

Mino nickte ihm stumm zu, flehend, aber er stand auf und wandte sich wutentbrannt an Binajatja. »Du bittest mich nicht in dein Haus, du reichst mir nicht einmal die Hand … Und jetzt willst du mich auch noch bezahlen?«

»Wenn ich es recht verstanden habe, habt Ihr sie geheilt«, sagte Binajatja. »Seit wann arbeiten Ärzte umsonst?«

Keta stand auf. Er ragte gewaltig über ihr auf, aber da die Decke zu niedrig war, konnte er nicht aufrecht stehen. Vorgebeugt, als wollte er jeden Moment auf sie niederfahren, machte er seinem Ärger Luft.

»Du hast mich nicht hereingebeten, du bietest mir nichts zu essen und trinken an, du missachtest alle Regeln der Gastfreundschaft, die es gibt – und glaub mir, ich kenne viele verschiedene Bräuche und Sitten –, und dann willst du mich auch noch bezahlen? Aber das alles könnte ich dir verzeihen, wenn du wenigstens dein eigenes Kind beachten würdest! Dies ist deine Tochter, die ich dir nach Hause gebracht habe! Sie ist mit mir durch ganz Deret-Aif gewandert, sie wurde geehrt im Hause des Kaisers für ihre Hilfe bei der Rettung der Tochter des Kaisers. Sie hat Zukata in die Falle gelockt und gefangengehalten, einen Riesen von meiner Größe. Mit dreiundzwanzig Königen hat sie an einer Tafel gesessen und mit ihnen gespeist. Kanuna El Schattik nannte sie seine Enkelin und machte sie zu seinem Kaisergänger. Im ganzen Kaiserreich gilt ihr Wort so viel wie seins!«

Binajatja blickte ungerührt zu ihm auf.

»In meinem Haus gilt nur mein Wort«, sagte sie.

Mino schämte sich so sehr für ihre Mutter, dass sie kaum sprechen konnte.

Und Keta wünschte sich, er hätte ein ganzes Heer bis an die Zähne bewaffneter Soldaten vor sich. Eine wehrlose Frau, so unverschämt sie auch war, würde er nicht schlagen.

»Komm, Möwe«, sagte er. »Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Lass uns nach Hause gehen, zu Variti und den anderen.«

Aber Mino schüttelte den Kopf. »Nein, Keta, ich …«

Er öffnete die Tür so ruckartig, dass er sie halb aus den Angeln riss. Mino sprang auf.

»Du bleibst hier«, befahl Binajatja. »Das wäre ja noch schöner.«

Aber Mino folgte ihm nach draußen. »Keta! Warte! Ach, Vater, bitte …«

Keta wandte sich zu ihr um. Die Wut war aus seinem Gesicht gewichen. »Was?«, rief er ihr entgegen. »Was denn noch? Du hast es gewusst, nicht wahr? Du wusstest, was dich hier erwartet!«

»Sie ist meine Mutter«, sagte Mino leise.

»In den vergangenen drei Jahren hat Variti dir mehr Liebe gegeben als diese Frau in deinem ganzen Leben! Ach, Möwe, was soll ich machen? Ich möchte dich packen und mitnehmen und zurückbringen. Ich kann dich doch nicht hierlassen. Wie soll ich gehen und wissen, dass du hier bist, bei dieser Frau ohne Lächeln?«

Sie sah die Tränen in seinen Augen und es schnürte ihr die Kehle zu.

»Sie war nicht immer so«, sagte Mino. »Als mein Vater noch da war, hat sie mit uns gespielt und gelacht … Keta, ich – ich kann nicht anders. Mein Platz ist hier. Ich kann sie nicht alleine lassen, nur weil sie unhöflich und starrsinnig ist und weil Familie ihr etwas anderes bedeutet als den Zintas. Sie hat doch nur mich!«

Der Riese blickte sie an, nachdenklich, und schüttelte den Kopf. »Vermutlich sollte ich stolz auf dich sein, weil du so denkst. Aber es bricht mir das Herz, dich in diesem Haus zu lassen. Wie kann ich dir erlauben, dass du dir das antust?« Er seufzte. »Und wie könnte ich es dir verbieten? Auf einer Insel zu leben, auf der niemand dich liebt?«

»Sie liebt mich, glaub mir«, versicherte Mino. »Sie dachte, ich sei tot. Sie hat alle ihre Gefühle begraben, weil sie weitermachen musste. Sie muss so sein, verstehst du, sonst würde sie zusammenbrechen … Aber jetzt werde ich bei ihr sein. Ich kann ihr helfen. Es war heute ein Schock für sie, aber du wirst sehen, wenn du mich das nächste Mal besuchst, sieht alles schon ganz anders aus. Du wirst herkommen und sehen, wie glücklich ich hier bin. Meine Mutter wird dich begrüßen und hereinbitten und wir werden den Tisch decken und dich bewirten. Du wirst uns Nachrichten aus dem Kaiserreich bringen und Grüße von der Sippe …«

Er streckte die Hand aus und wischte ihr eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Ich werde jetzt gehen. Aber ich bleibe noch einige Tage hier auf der Insel. Wenn du es dir überlegst, findest du mich schon. Jemand wie ich wird hier kaum unbemerkt abreisen können.«

Sie sah ihm nach, wie er ging, mit großen, ausgreifenden Riesenschritten, dann seufzte sie und ging zurück ins Haus.

Binajatja saß am Tisch und wartete, die Hände gefaltet.

»Da bist du ja. Ich dachte schon, du würdest wieder verschwinden. Jemandem, der drei Jahre lang in der Weltgeschichte herumgondelt und sich einen Dreck darum schert, wie ich hier alleine zurechtkomme, ist das wohl zuzutrauen.«

»Mutter, ich …«

Binajatja ließ sie nicht ausreden. »Ich habe schon immer gewusst, dass du ein selbstsüchtiges Mädchen bist, das seine Zeit lieber mit Herumtreibern verbringt, statt mir zu helfen. Daher wundert mich gar nichts mehr. Was hast du dir dabei gedacht, einen Riesen nach Arima zu bringen? Wir sind hier jemand, Mino. Setz unseren Ruf nicht so leichtfertig aufs Spiel.«

»Mutter, Keta zu beherbergen ist eine Ehre, für jeden. Er ist ein edler Mann und der beste Heiler, den es gibt!«

»Sie sind wild wie Tiere«, wusste Binajatja. »Sie hausen im Gebirge und jeder weiß, warum. Sie können nicht bei den Menschen leben, weil sie keine Menschen sind.«

»Selbst der Kaiser ist ein Riese! Es kann ja wohl nicht so schlimm sein …«

»Ich weiß genug über Riesen.« Die Apfelkönigin verzog vor Abscheu das Gesicht. »Sie sind unberechenbar. Es waren die Riesen, die Jahrhunderte lang Krieg geführt und ein Königreich nach dem anderen unterworfen haben. Die Glücklichen Inseln sind noch frei von ihnen und so soll es bleiben.« Sie musterte ihre Tochter aus zusammengekniffenen Augen. Mino senkte den Kopf. Sie wollte sagen: Du weißt noch nicht alles, ich bin schwanger. Aber sie brachte es nicht über die Lippen.

Zum Glück klopfte es. Den Mann, der verwundert die beschädigte Tür betrachtete, bevor er über die Schwelle stieg, hatte sie noch nie gesehen. Er war mittelgroß und vielleicht doppelt so alt wie sie, ein rothaariger Mann mit einem glattrasierten, von Sonne und Aufregung geröteten Gesicht.

»Binajatja! Ich habe gehört …« Dann fiel sein Blick auf Mino. »Also ist es wahr? Deine Tochter ist heimgekehrt?« Er nickte ihr freundlich zu und reichte ihr die Hand.

»Ich bin Norha«, sagte er. »Herzlich willkommen zu Hause.«

»Unser Verwalter«, stellte Binajatja vor. »Norha von Neiara. Du erinnerst dich doch wohl noch, dass auf unserer Nachbarinsel Wein angebaut wird?«

»Ja, natürlich«, stammelte Mino.

»Nun, Norha ist der Bruder von Wikant, dem Weinfürsten. Wir haben beschlossen, dass unsere Familien in Zukunft enger zusammenarbeiten werden. Norha ist ein Experte für den Weinbau.«

Mino verstand gar nichts mehr. »Was hast du dann mit unserem Obst zu tun?«, fragte sie ihn verwirrt.

»Mittlerweile kenne ich mich schon ganz gut damit aus, werte Mino.« Er verbeugte sich leicht vor ihr, dann wandte er sich wieder der älteren Frau zu. »Binajatja, wir müssen noch diese Sache besprechen, du weißt schon.«

»Die Arbeiter wollen wieder mehr Geld, wie?« Die Apfelkönigin seufzte. »Gut, setz dich her. Mino, du kannst ruhig zuhören. Es wird Zeit, dass du dich wieder mit den Dingen beschäftigst, die dich etwas angehen.«

Sie braucht mich nicht, dachte Mino. Ich bin den ganzen Weg hergekommen, um sie zu sehen, aber sie braucht mich nicht.

Keta hatte den Weg über die Hügel eingeschlagen, durch die Plantagen hindurch. Die Bäume hingen voller Äpfel, rot und golden und hellgrün. Er merkte plötzlich, wie hungrig er war und stopfte sich kurzerhand die Taschen voll. Seine Laune besserte sich wieder.

Die Arbeiter waren damit beschäftigt, die frühen Sorten zu pflücken und in Kisten zu packen. Ein paar hatten ihn gesehen und stießen ihre Kollegen an, um sie auf ihn aufmerksam zu machen. Er fühlte die Blicke auf sich, aber sie waren freundlich. Einige hübsche Frauen winkten ihm zu und er lächelte.

»Wenn wir so groß wären wie du, bräuchten wir die Leitern nicht«, rief jemand.

»Wenn ich so klein wäre wie ihr, würde ich Rüben anbauen«, rief er zurück. Doch auf einmal zerriss ein Schrei die friedliche Atmosphäre, und ehe er es sich versah, stürzte sich jemand auf ihn – ein schwarzhaariger Mann, den Keta nie zuvor gesehen hatte, der ihn jedoch sofort an jemand erinnerte. Der Fremde heulte und fluchte, während er den Riesen mit seinen Fäusten bearbeitete, und Keta, der sich bald von seiner Überraschung erholt hatte, ließ es eine Weile geschehen und versuchte zu begreifen, was ihm da alles an den Kopf geworfen wurde.

»Du warst es! Ich erkenne dich! Du hast sie umgebracht! Du bist schuld! Du hast ihr das angetan!«

Dies war Blitz’ Bruder, das war für Keta unschwer zu erkennen – und aus seinen Schreien sprach ein Schmerz, gefüllt mit dem Dunkel vieler langer Jahre, ein Hass, geboren aus Trauer und ohnmächtiger Wut. Er, der Heiler, fühlte, das hier etwas Altes hervorbrach, das lange Zeit verdrängt gewesen war, ein Geheimnis, das El Jati in sich vergraben hatte und das nun mit der Macht eines Vulkans aus ihm herausquoll.

»Ruhig!«, befahl er mit der Stimme eines Mannes, der einem von Panik erfüllten Tier gut zuspricht. »Ruhig, ganz ruhig.« Er hielt die Handgelenke des Angreifers mit eisernem Griff fest. Dann blickte er auf und sah eine Frau auf sich zustürmen, mit wehendem schwarzen Haar, in der Hand einen Stecken, wie sie von den Pflückern zum Schütteln der oberen Äste verwendet wurden. Sie hielt ihn wie eine Lanze.

»Lass meinen Mann los!«, rief sie zornig.

Keta hatte nicht vor, auf dieser Insel ein Blutbad anzurichten. Bevor die Kriegerin ihn erreichte, stieß er den jungen Mann von sich fort, so dass er rücklings ins Gras stürzte.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte er.

El Jati rappelte sich auf. Er wollte wieder auf Keta losgehen, den Kopf gesenkt wie ein wildgewordener Stier, aber Alika hielt ihn fest.

»Hör auf! Jati, lass es, hör auf!«

Schwer atmend blieb Jati stehen, Tränen liefen ihm über die Wangen. »Du warst es«, wiederholte er anklagend.

»Sage mir, was du mir zur Last legst«, befahl Keta, zugleich sanft und zwingend.

»Du hast meine Mutter umgebracht!«

»Er?«, fragte Alika und Entsetzen und Staunen trat in ihr Gesicht. »Das ist der Riese? Bist du dir sicher, Jati?«

»Und ob ich mir sicher bin! Er hat sie umgebracht. Er hat ihr Gewalt angetan und sie hat es nie verwunden.«

»Mit Sicherheit nicht«, behauptete Keta. »Aber …«

»Nicht hier«, sagte Alika schnell. »Komm mit. Kommt beide mit. Nicht hier vor all diesen Leuten. Komm, dort hinten hinter dem Hügel steht unser Haus. Komm.«

»Du lädtst dieses Ungeheuer in unser Haus?«, fragte Jati entgeistert.

»Ich muss dir etwas sagen«, verkündete Alika. »Was ich schon längst hätte tun sollen. Komm mit.« Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. Sie nahm El Jati bei der Hand und führte ihn nach Hause, und Keta ging ihnen nach, erschrocken und verwundert.

Vor der Haustür versuchte Jati zu verhindern, dass der Riese ihnen folgte, aber Alika befahl ihm zu schweigen und forderte Keta auf, ihr Haus durch die niedrige Tür zu betreten.

»Jati, hör mir zu! Es ist nicht, wie du glaubst. Es war nie, wie du glaubtest. Deine Mutter hat es mir selbst gebeichtet, kurz vor ihrem Tod. Sie hat diesen Mann geliebt, mehr, als sie es jemals hätte tun dürfen. Mehr als deinen nichtsnutzigen Vater. Sie hat …«

»Ähm«, unterbrach Keta. »Ich …«

»Still!«, fuhr sie ihn an. »Jetzt rede ich gerade. Jati, deine Mutter hat mir gesagt, dass du sie einmal überrascht hast. Aber du warst ein Kind. Du glaubtest, der Fremde, den du sahst, würde ihr wehtun, aber so war es ganz und gar nicht. Sie hat ihn wirklich geliebt und sich nur deinetwegen und für Blitz von ihm getrennt. Sie wollte eine heile Familie, falls euer Vater doch zurückkehrte.«

Jati ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Das glaube ich nicht«, flüsterte er.

»Und doch war es so. Sie hatte solche Angst, dass du es Jakebeny verraten könntest, wenn er wiederkommt. Deshalb ließ sie dich in dem Glauben, dass der Riese ein Einbrecher war. Sie sagte mir, sie hätte zuerst sogar versucht, es dir zu erklären, aber du hättest nichts davon hören wollen.«

»Das stimmt.« Jati schüttelte den Kopf. »Ich wollte es nicht glauben. Ich dachte, sie wollte mich nur beruhigen.«

»Sie wollte ihr Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Damals, als wir uns hier das Haus gebaut hatten und als sie dann krank wurde, hat sie es mir gesagt. Sie sagte mir, dass sie niemals jemanden so sehr geliebt hatte wie diesen Riesen. Wie dich«, sagte Alika, an Keta gewandt.

»Nicht ich.« Keta hatte gezwungenermaßen alles mitangehört, aber jetzt musste er sagen, wer es war. »Es kann nur mein Zwillingsbruder sein, von dem ihr sprecht.« Er konnte kaum glauben, dass es hier um Zukata ging. Sein wilder, grausamer Bruder hatte ein Verhältnis mit Blitz’ Mutter gehabt? Eine absurde Hoffnung glomm in ihm auf. »Blitz ist nicht zufällig sein Sohn?«

Das hätte sein Problem auf einen Schlag gelöst, denn sobald Zukata erfuhr, dass Blitz sein Sohn war, würde er ihn bestimmt nicht mehr töten wollen.

»Sie hatte kein Kind von ihm«, sagte Alika und musterte Keta misstrauisch, als könne sie nicht recht glauben, dass es noch einen von seiner Sorte gab.

»Doch«, widersprach Jati.

»Was?«

»Sie hat ein Kind bekommen«, wiederholte er und senkte den Kopf. »Und sie wollte, dass niemand davon erfahren sollte.«

»Sie hat es umgebracht?«, fragte Alika entsetzt. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch, und Keta bemerkte, dass sich eine kleine Rundung dort abzeichnete.

»Nein! Oh nein, Alika, das nicht. Ich – ich habe es weggebracht. Zu den Nonnen. Es war ein Mädchen und ich habe es zu den Nonnen gebracht.«

»Deshalb warst du in Salien!« Alika starrte ihren Mann an, als würde sie ihn nicht kennen. »Du hast mir erzählt, du hättest als Jugendlicher eine Pilgerreise gemacht – und dabei hast du deine eigene Schwester weggebracht?«

»Ja.« Jati schaute sie nicht an. Er blickte in Ketas Gesicht und zwang sich dazu, nicht wegzusehen. »Meine Mutter wollte es so. Falls mein Vater wiederkäme; er ist ein strenger, eifersüchtiger Mensch. Und mir tat es auch nicht leid, damals. Es war das Kind eines Ungeheuers, dachte ich. Und wie hätten wir irgendjemandem ein Riesenkind erklären können?«

»Du hast mir das nie gesagt!«, klagte Alika ihn an. »Du hast eine Schwester und sagst mir das nicht? Sie hätte doch hier bei uns aufwachsen können, mit Blitz zusammen!«

»Und warum hast du mir nie erzählt, was meine Mutter dir anvertraut hat? Sobald ich gewusst hätte, dass sie diesen Mann geliebt hat, hätte ich das Kind doch aus dem Kloster geholt!«

Keta hörte zu, wie sie sich stritten, aber in ihm überschlugen sich die Gedanken. Zukata hatte eine Tochter. Wenn er das gewusst hätte, als er nach Manina gesucht hatte! Sie hätten das eine Mädchen gegen das andere eintauschen können!

»Weiß er das?«, fragte er. »Weiß mein Bruder, dass eure Mutter sein Kind geboren hat?«

El Jati schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht, muss ich wohl sagen, denn langsam glaube ich, ich weiß überhaupt nichts mehr. Er wäre ja nicht der Erste, der sich aus dem Staub macht, wenn eine Liebelei Folgen hat … Nein, ich weiß es wirklich nicht.«

»Wie alt ist sie jetzt wohl?«, fragte Alika.

»Siebzehn«, meinte El Jati. »Und sie war blond, hellblond, mit solchen blauen Augen, wie er sie hat.« Er zeigte auf Keta. »Was habe ich diese blauen Augen gehasst!«

»Wir müssen nach Salien! Wir müssen sie herholen!«

»Jetzt?« Er wies auf ihren Bauch.

Alika lächelte Keta an. »Wir bekommen auch ein Kind, Herr … Wie soll ich dich anreden?«

»Remanaine«, sagte er. »Und ich habe einen Brief für euch.«

»Einen Brief? Von – von deinem Bruder?«, fragte El Jati.

»Nein, keineswegs. Von deinem Bruder.«

Er überreichte endlich die Botschaft, die Blitz ihm mitgegeben hatte.

»Du kennst Blitz?«, rief Alika aus. »Ich habe mich schon gewundert, warum du ihn erwähnt hast … Wo ist er? Geht es ihm gut?«

Jati hatte begonnen zu lesen. Jetzt hob er den Blick und schaute seine Frau mit leuchtenden Augen an. »Blitz ist in Kirifas, beim Kaiser.«

»In Kirifas? Was tut er denn da?«

»Er – lese ich richtig? – er kümmert sich dort um die kleine Tochter des Kaisers? Wie bitte? Wie kommt er denn dazu?«

Keta lächelte. »Habt ihr vielleicht in letzter Zeit Neuigkeiten aus dem Kaiserreich erfahren? Schon mal was gehört vom Helden aus Arima?«

»Der Held aus Arima?«, wiederholte Alika. »Ja, natürlich, der die Prinzessin dem Kaiser wiedergebracht hat …« Ihre Augen wurden groß. »Nein.«

»Doch.«

»Unser Blitz? Unser kleiner Blitz, dieser Taugenichts?«

Jati reichte ihr den Brief. Auf seinem Gesicht lag ein Glanz. »Was für ein Tag«, sagte er. »Schatten aus der Vergangenheit treten zu uns ins Zimmer und dann wieder ist mir, als würde ich der Sonne beim Aufgehen zusehen … Mein Bruder ist am Hof des Kaisers! Und doch wünschte ich, er wäre selbst gekommen, um uns davon zu berichten.«

»Er schreibt, er hat noch eine Überraschung für uns«, sagte Alika erfreut. »Er wird sie uns zeigen, wenn er uns besuchen kommt. Aber er sagt nicht, wann. Weißt du es, Remanaine? Vielleicht besteht die Überraschung darin, dass er draußen vor der Tür steht?«

»Leider nein«, sagte Keta. »Er wird im Schloss bleiben, bis die Prinzessin sich gut eingelebt hat. Dann wird er euch auf alle Fälle besuchen kommen.«

»Und die Überraschung? Was könnte das nur sein?«

Jati lachte. »Zeig unserem Gast nicht so deutlich, wie neugierig du bist, Liebes.«

»Unser Gast, ja!«, rief Alika. »Ist durch das halbe Kaiserreich hergekommen und ich lasse ihn hungrig an unserem Tisch sitzen! Verzeih mir, Remanaine. Jati, gib ihm etwas zu trinken. Ich werde sofort für uns kochen. Du siehst aus wie ein Mann mit gutem Appetit, aber wir kriegen dich schon satt, keine Bange.«

Keta ließ sich Wein einschenken und prostete ihnen zu. Aber über seiner Stirn lag eine Wolke.

Ein Mädchen aus einem Kloster in Salien. Sie war blond und ihre Augen waren blau wie seine …

Will ich es denn wissen?, fragte er sich. Will ich es wirklich fragen? Und wenn ich gefragt habe, was würde ich tun? Was könnte ich tun?

Frag, wie sie heißt, befahl er sich selbst. Es gibt viele Klöster in Salien, viele hellhaarige Mädchen, viele Kinder, die von ihren Familien weggegeben wurden. Zukatas Kind müsste eine Riesin sein … Aber Prinzessin Manina war auch ein Mensch.

Eure Schwester, die Frage lag ihm auf der Zunge, wie heißt sie? Gewiss nicht Ilinias? Es ist doch bestimmt nicht Ilinias, die Frau, die Blitz in einem Kloster in Salien gefunden hat?

Er sah in Jatis lachende Augen.

Was würde ich tun, wenn ich es wüsste? Es ihnen sagen? Ihre Freude zerstören? Heute wurden genug Geheimnisse aufgedeckt, genug für ein ganzes Leben …

Er wünschte sich, er wäre nie hergekommen, auf diese verfluchte Insel, die Minos Unglück bedeutete und Blitz’ Verdammnis.

Er trank den Wein und sah zu, wie Alika kochte, und wünschte sich weit fort in die Wälder.

Der Erbe des Riesen

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