Читать книгу Der Erbe des Riesen - Lena Klassen - Страница 16
4. Dieses Mal
ОглавлениеO B E NI ND E NNordhäfen von Sandart war es das ganze Jahr über kühl und windig. Für Erion, der das milde Klima der Glücklichen Inseln gewöhnt war, war jeder Atemzug wie ein Schlag ins Gesicht. Aber Zukata lachte dröhnend, als sie alle von Bord gegangen waren – seine Piraten, seine Räuber, sein Gefangener. Anders als auf Neiara wirkten sie hier nicht wie eine Invasion, sondern fielen inmitten der vielen Schiffe, der Hafenarbeiter und Seeleute kaum auf.
»Sandart«, sagte Zukata zufrieden. »Endlich.« Er musterte seine Mannschaft mit seinen stechend blauen Augen. Unter diesem Blick fühlte jeder Einzelne sich klein und schuldig, jeder fragte sich: Ist er zufrieden mit mir? Habe ich genug getan auf dieser Reise, um ihn meiner Treue zu versichern? Sie duckten sich, aber keiner hätte darauf verzichten mögen, dass Zukatas Blick auch ihn traf, dass auch er beachtet und mit einem Nicken belohnt wurde.
»Ich werde nach Tirilis gehen und mit König Wersom sprechen«, sagte er. »Ich habe ein Abkommen mit ihm. Er wird uns Soldaten gegen Deret-Aif zur Verfügung stellen.«
Seine Leute horchten auf. Keiner hatte je gewagt, ihn zu fragen, was er mit dem Herrscher von Sandart abgemacht hatte.
»Und dann«, fuhr Zukata fort, vor ihren Augen schien er zu wachsen, »dann wird sich endlich erfüllen, was ich euch versprochen habe. Ich mache euch zu den Größten des Kaiserreichs. Wenn ich auf dem Kaiserthron sitze, werdet ihr Fürsten und Könige sein. – Glaubst du das nicht?«
Er wandte sich an Erion, der etwas verloren zwischen den jubelnden Männern stand und sich fragte, ob Zukata Gedanken lesen konnte. Wie konnte der Riese wissen, dass er das Ganze für aufgeblasenes Gerede hielt?
»Doch«, beteuerte Erion schnell. »Natürlich.«
Zukata runzelte die Stirn. Seine Hand schnellte vor, er packte den Jungen beim Schopf und schüttelte ihn ein paar Mal kräftig. Dann ließ er ihn unvermittelt los, und Erion, der schon geglaubt hatte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen, brach zusammen und weinte.
Zukata schnaubte verächtlich. »Lüg mich nie wieder an. Hast du das verstanden?«
»Ja«, schniefte der Junge, der auf die Freundschaft dieses Mannes gehofft hatte und auf eine Krone – für sich, nicht für diese schmutzigen Piraten.
Zukata betrachtete den am Boden liegenden Gefangenen verächtlich, dann wandte er sich wieder an seine Männer. »Ich gehe voraus«, bestimmte er. »Ihr kommt mir nach, so schnell ihr könnt.«
Er hatte keine Geduld. Es zog ihn vorwärts, nach Tirilis, der Hauptstadt des Großreiches Sandart. Je schneller er den König an ihre Abmachung erinnerte, um so eher konnte er seinen Feldzug beginnen. Es duldete keinen Aufschub. Zu lange hatte er schon gewartet, zu lange hatte er sich vertrösten lassen und den Lügen seiner Familie zugehört. Sein Vater hatte ihn verraten. Sein Bruder hatte ihn betrogen. Er hatte zwar das Versprechen, dass Keta ihn eines Tages segnen würde, wenn er Blitz verschonte, aber Zukata war sich darüber im Klaren, dass auf Keta kein Verlass war. Er musste seine Familie vor vollendete Tatsachen stellen.
Mit großen Schritten eilte er durch den Hafen und die angrenzende Stadt. Die erzwungene Untätigkeit auf dem Schiff war für ihn kaum auszuhalten gewesen. Die ganze angestaute Energie brach sich jetzt Bahn; wie ein Pfeil, endlich von der Sehne gelassen, schnellte er vorwärts, und als er die Stadttore hinter sich hatte, begann er zu laufen.
Kein Mensch hätte jetzt noch mit ihm mithalten können. Sobald er in einen gleichmäßigen Rhythmus gefunden hatte, konnte er ohne Schwierigkeiten stundenlang so weiterlaufen. Er lief, und dabei waren seine Erwartungen fast noch schneller als er, immer waren sie vor ihm, seine Träume, seine Wünsche, all das, was sein würde. Es musste so sein, er würde dafür sorgen.
Nur zwei Tage brauchte Zukata, um Tirilis zu erreichen, den Ort, an dem er die nächsten wichtigen Schritte planen wollte. Die Soldaten, die ihm entgegentraten, würden bald auf sein Kommando hören, und die Tore des Schlosses, die sich ihm öffneten, würden eines nicht mehr fernen Tages den Kaiser von Deret-Aif einlassen.
»Der König ist bereit, Euch zu empfangen, Prinz Zukata.«
Dann, wenn es soweit war, würde es nicht heißen: Er ist bereit. Dann würden sie sagen: Er ist überglücklich, Euch empfangen zu dürfen. Und sie würden sich hüten, ihn mit diesen misstrauischen Gesichtern von oben bis unten zu mustern. Und es würden auch nicht so viele Wachen mit ihm in den Königssaal eintreten. Sie blieben zwar am Eingang stehen, aber ihm war durchaus bewusst, dass sie dort blieben. Das letzte Mal hatte König Wersom sich noch getraut, ihn unter vier Augen zu sprechen. Diesmal saß er merklich angespannt auf seinem Thron.
»Ah, Prinz Zukata!« Er stand auf, kam ihm ein paar Schritte entgegen und drückte ihm die Hand, kehrte dann aber rasch zurück auf seinen gepolsterten Stuhl, als sei es dort irgendwie sicherer.
»Ihr habt nicht erwartet, mich wiederzusehen«, stellte Zukata fest.
»In der Tat. Prinz Zukata – noch ist nichts von all dem zu sehen, was Ihr versprochen habt. Ihr hattet meine volle Unterstützung, und was habt Ihr daraus gemacht? Eure Geisel habt Ihr verloren. Ihr habt weder den vielgepriesenen Segen errungen noch seid Ihr dem Thron von Kirifas auch nur einen Schritt nähergekommen. Damit erkläre ich unsere Zusammenarbeit für beendet – und Ihr kommt noch günstig dabei weg, denn obwohl ich Euch Obdach in Sandart gewährt habe und Euch sogar bei der Suche nach der verschwundenen Prinzessin Leute zur Verfügung gestellt habe, habe ich nie irgendeine Art der Gegenleistung von Euch erhalten.«
Zukata stand sehr ruhig da, groß und aufrecht wie ein Baum. Nur um seine Mundwinkel zuckte ein kleiner Muskel.
»Ihr dürft gehen«, sagte König Wersom.
»Ihr habt mir Soldaten versprochen«, sagte Zukata und rührte sich nicht von der Stelle. »Ihr habt versprochen, mich beim Angriff gegen Deret-Aif zu unterstützen.«
Der König schüttelte den Kopf. Er sprach langsam, als hätte er ein begriffsstutziges Kind vor sich. »Für den Fall, dass Ihr den Segen erwerbt und damit der legitime Erbe des Kaiserreichs wärt. Nur für diesen Fall.«
»Ich werde auf dem Kaiserthron in Kirifas sitzen«, beharrte Zukata.
»Vielleicht«, räumte König Wersom ein. »Nur vielleicht. Aber ich schicke meine Soldaten nicht gegen meine Nachbarn, mit denen ich nicht im Krieg liege, ins Feld.«
Zukata beugte sich vor. »Letztes Mal habt Ihr noch anders gesprochen.«
»Letztes Mal konntet Ihr mir auch glaubhaft versichern, dass das Königreich Wenz mein sein wird, sobald Deret-Aif Euch gehört! Es schien ja alles so einfach, wie? Der Segen, dann Euer Herr Vater, der gewiss ohne Schwierigkeiten abdanken würde, dann das Riesenreich in Euren Händen, so dass Ihr mir gerne ein Stück davon abgebt … ein fürwahr genialer Plan! Nein, Prinz Zukata. Wenn Ihr nicht einmal den ersten Schritt dieses Weges gehen konntet, wie soll ich Euch glauben, dass Ihr den Rest der Strecke bewältigen könnt? Eure Familienstreitereien gehen mich nichts an. Noch einmal sage ich es Euch im Guten: Ihr könnt jetzt gehen, ohne dass ich Euch für die Zeit und die Nerven, die Ihr mich gekostet habt, belange. Prinz Zukata.«
Prinz. Es war kein stolzer Titel mehr, nicht die Verheißung eines Erbes, das dreiundzwanzig Königreiche umfasste, sondern nur noch ein Schimpfwort, Aushängeschild des Versagens.
Zukata atmete tief durch. In ihm begann ein Grollen und Brodeln, er war ein Vulkan, nahe dabei auszubrechen, aber noch stand er, unbeweglich, und rang um Fassung. Schließlich sprach er, mit mühsam beherrschter Stimme.
»Ich habe mir geschworen, dass ich alle dafür bezahlen lasse, die mich verraten und betrogen haben«, sagte er. »Wollt Ihr wirklich dazu gehören, König Wersom?«
Der König gab seinen Wachen ein Zeichen. Geschlossen traten sie einige Schritte vor.
»Ihr seid ein Riese, Prinz Zukata«, sagte er. »Aber auch Ihr seid weder unbesiegbar noch unsterblich. Dort stehen dreißig Soldaten, bis an die Zähne bewaffnet, die Euch aus meinem Palast geleiten werden.«
Die Sandarter kamen näher, sie verteilten sich weiter im Raum und ließen die Tür frei. Zukata sah die Pfeile, die auf ihn gerichtet waren, eiserne Spitzen, bereit zu fliegen. Sie glänzten dunkel. Gift? Er konnte es nicht wissen, aber allein die Vermutung genügte, dass seine Nackenhaare sich sträubten.
»Euer Gesindel ist auf dem Weg hierher«, fügte der König hinzu. »Ich habe ihnen bereits einen Trupp Soldaten entgegengeschickt. Besser ist es, Ihr nehmt Eure schmutzigen Halsabschneider mit und verlasst mein Land, oder es wird nicht mehr viele geben, die Ihr für Euren Feldzug gegen den großen Kaiser von Deret-Aif ins Gemetzel führen könnt.«
Der Muskel in Zukatas Gesicht zuckte immer noch.
Er ging schnell, vielleicht noch schneller als auf dem Hinweg. Und als er seine kleine private Armee die Straße entlangtrotten sah, seine Piraten und Räuber, sein Gesindel, seine Halsabschneider, atmete er auf und blieb stehen, um auf sie zu warten. Er rannte ihnen nicht entgegen, mit ausgebreiteten Armen, sondern wartete, das Gesicht dunkel.
»Zukata!« Settan eilte auf ihn zu. »Warst du schon in Tirilis? Was hat er gesagt? Wann geht es los?«
»Ich hatte fast erwartet, er würde dir die Soldaten gleich mitgeben.« Einer der Räuber lachte, fühlte sich ertappt und hörte sofort auf.
Zukata schwieg. Er schwieg, bis ihnen sein Schweigen auffiel. Einer nach dem anderen verstummte gleichfalls und versuchte, nicht allzu sehr betreten in eine andere Richtung zu schauen, um seinen Zorn nicht herauszufordern.
»Er hat mich fortgejagt wie einen räudigen Hund«, flüsterte Zukata. Nicht zornig klang es, nur fassungslos, und der eine oder andere fragte sich, wann er dafür würde bezahlen müssen, dass Zukata ihn zum Zeugen seiner Demütigung gemacht hatte.
»Was schlägst du vor?«, fragte Zukata, und der blaue Blick richtete sich plötzlich auf Erion.
Der Junge schrak zusammen. Wenn er nicht mitten zwischen den Räubern gestanden hätte, wäre er vielleicht ein paar Schritte zurückgewichen, so aber konnte er sich nicht von der Stelle rühren. Er musste Zukatas Frage aushalten, und an dem gleichzeitigen Zusammenzucken und erleichterten Aufatmen der Männer erkannte er, dass diese Frage wie der Vorbote eines Sturms war, dass es sich bald zeigen würde, an wem der Riese seinen Grimm auslassen würde.
»Ich«, stammelte er, erschrocken, »ich …«, während er fieberhaft nach einer Idee suchte, nach etwas, was ihn retten konnte, und zugleich verzweifelt und schwungvoll beendete er den Satz: »würde vorschlagen, Ihr heiratet eine Prinzessin.«
»Was?« Auch dies war noch kein Schrei, noch lange kein Gebrüll, aber der Sturm kam näher, unzweifelhaft. »Was für eine Prinzessin?«
»Die Tochter des Königs von Yos«, antwortete Erion standhaft. »Sie heißt Sidini. Durch diese Heirat wärt Ihr mit einem Schlag der Erbe der Krone von Yos. Damit wärt Ihr gleichzeitig ein Mitglied der königlichen Familie von Melgian. Aus diesem Grund ist die Prinzessin auch noch unverheiratet. Ihre Verwandten aus Melgian kann sie nicht heiraten und mit Sandart wollen sie dort nichts zu tun haben. Wenn Ihr gegen Sandart vorgehen wollt, hättet Ihr, wenn alles gut läuft, Yos und Melgian auf Eurer Seite.«
Zukata starrte seinen Gefangenen an. Erion dachte: Er wollte, dass ich sein Freund bin. Er hat es versprochen, das hat er. »Sandart hat gar nicht so viele Soldaten«, fuhr er fort, »vor allem nicht, wenn die Küste von Piraten heimgesucht werden würde. Dann müssten sie an zwei Fronten kämpfen. Ich denke sogar …«
»Halt«, gebot Zukata. »Halt, ich meine: Wieso sagst du mir so etwas?« Auch verblüfft sah man den Riesenprinzen selten. Er schaute auf Erion herab wie auf ein Exemplar einer neuen Tierart, die nie zuvor ein Mensch entdeckt hatte. »Wie kommst du dazu?«
Erion wurde blass. Er spürte die Furcht der Räuber. Sie musste sich nicht auf ihn übertragen, er hatte so schon Angst genug für mehrere von seiner Sorte.
Erions Stimme versickerte zu einem Flüstern. Er wollte klar und deutlich reden und beweisen, dass er mutig war, denn er wusste mittlerweile, wie viel Wert Zukata auf Mut und Aufrichtigkeit legte, aber er konnte kaum sprechen, und er begann auch wieder zu stottern.
»Ich – ich habe mich – mich für Adelskun-kunde in-in-interessiert.«
Zukata wischte die misslungene Auskunft mit einer Handbewegung zur Seite. »Du interessierst dich für Königshäuser?« Er nickte. »Ja, so bist du mir entgegengerannt, wie ein Knirps aus einem Königshaus, ohne Verstand, aber immerhin einen stolzen Namen auf den Lippen. Neiara. Willst du, dass ich Kaiser von Deret-Aif werde, Bürschchen?«
»Ja, ja«, versicherte Erion.
Zukata blickte in die Runde, nicht um sich der Zustimmung seiner Leute zu versichern, sondern um ihre Liebe zu spüren, ihre Zuversicht, mit der sie seinen Wunsch teilten, mit der sie seinen Traum mitträumten.
»Gut«, sagte er. »Dann gehen wir nach Yos.«
»Dort«, sagte Tinek. »Dort soll das Schloss stehen. Ich wüsste keinen besseren Platz.«
»Ich hatte mir immer vorgestellt, wir würden unser Gut einfach erweitern und umbauen.« Mit gerunzelter Stirn betrachtete Wikant den Platz, den seine Frau ausgesucht hatte. Er war eine ganze Ecke von der Kelterei entfernt, ein Ort, den er immer nur als Aussichtspunkt angesehen hatte. Von hier hatte man einen grandiosen Blick aufs Meer, das am Fuß der steil abfallenden Klippe gegen die Insel donnerte. Ein mehrere Meter breiter und noch tieferer Spalt trennte die Felsnadel vom Rest der Insel. Es war keine gemütliche Stelle zwischen Weinbergen und Dörfern, so wie sie bisher gelebt hatten.
»Ich sehe da ein kleines Problem«, sagte Wikant. »Dieser … Felsen, würde ich mal sagen, hat unbestreitbar etwas Königliches, aber er ist ja nicht einmal richtig mit dem Land verbunden. Über diese kleine Brücke kann man doch nicht die Steine für ein ganzes Schloss schleppen.«
Ein paar lange Bretter lagen über dem Riss, und obwohl sie gut befestigt waren, gehörte Mut dazu, hinüberzugehen und nicht nach unten zu schauen.
»Wir können ein paar der Bäume fällen«, schlug Tinek vor und wies auf die großen, sturmerprobten Bäume, die hier oben wuchsen. Fast ein kleiner Wald war es, der sich hier an den Rand der Klippen klammerte. »Sie würden direkt über die Schlucht fallen. Daraus lässt sich doch eine ordentliche Brücke bauen. Außerdem ist das nicht unser Problem. Der Baumeister wird schon dafür sorgen, dass es klappt.«
»Welcher Baumeister?«, fragte Wikant.
»Er.« Sie deutete vage den Hang hinunter. Der Weinfürst sah einen großen, schlanken Mann in gebeugter Haltung sich die Steigung hinaufkämpfen.
»Was? Du hast einen Baumeister bestellt? Ich bin ja mittlerweile daran gewöhnt, dass du mich überraschst, aber das … Tinek! Wir haben nichts! Wir haben überhaupt nichts, mit dem wir ihn bezahlen könnten.«
»Nicht nur ihn. Ihn und seine Arbeiter. Und das Material. Glaubst du, ich weiß nicht, welche ungeheuren Summen dieses Projekt verschlingen wird? Aber bisher ist doch alles gut gelaufen.«
»Wir haben noch nichts von unserem Anteil gesehen«, erinnerte er sie mit gepresster Stimme. »Es gibt keine Garantie dafür, dass die Räuber nicht einfach alles behalten.«
»Sie haben einen Boten zu Zukata geschickt. Oder eine Nachricht. Wie auch immer sie mit ihm in Kontakt stehen.«
»Das haben sie gesagt.« Wikant seufzte. »Tinek, du weißt, dass das nicht heißen muss, dass wir die Hälfte der Beute bekommen werden. Sie gehören zu Zukata, also wird er sicherlich einen Anteil einfordern. Meinst du, er wird darauf zu unseren Gunsten verzichten? Meinst du, er sagt: Ich fühle mich geehrt, weil ihr meinem Auftrag nachkommt, und sicherlich dürft ihr von diesem Gold nehmen, was ihr braucht? Oder wird er sagen: Es ist doch nicht mein Problem, ob ihr ein Schloss da hinstellt oder nicht, ich habe euch nur gesagt, wie es laufen wird? Oder wird er es nicht einmal für nötig halten, uns zu antworten?«
Sie sahen gemeinsam zu, wie der Mann sich näherte.
»Tinek, es gibt keine Garantie, dass wir Erion jemals wiedersehen.«
Er hatte es endlich gesagt. Sie drehte sich zu ihm um und warf das Kinn hoch. »Nein«, sagte sie. »Ich bin nicht dumm, ich weiß das selbst. Aber was haben wir zu verlieren? Was, frage ich dich. Entweder wir werden König und Königin und leben in einem Schloss und stehen diesen Geizhälsen in Drian oder Tors in nichts nach, wir stehen uns gut mit Zukata, dem zukünftigen Kaiser, und irgendwann bekommen wir unseren Sohn zurück, der ein Vertrauter des Kaisers sein wird … oder – ja, oder was? Oder wir stürzen uns hier von diesem Felsen, da nach unten, ins Meer? Willst du lieber das? Ich merke, wie du dich über mich wunderst. Aber was sollen wir denn sonst tun? Wir werden mit den Wölfen heulen oder untergehen.« Sie nickte, und ein nachdenklicher Zug trat in ihre Augen. »Wikant, es war der schwärzeste Tag in unserem Leben, als der Riese unser Tor eingetreten hat. Aber hast du bemerkt, wie dieses Raubgesindel uns ansieht, wenn wir erzählen, dass Prinz Zukata an unserem Tisch gesessen und unseren Wein getrunken hat? Sie sehen etwas in ihm, das sie sogar dazu bringt, mit uns ihre Pläne zu besprechen, statt uns den Schädel einzuschlagen. Vielleicht wird es wirklich wahr. Er wird der große Kaiser in Kirifas sein. Und dann gehören wir zu denen, die …«
Sie brach ab, denn der Baumeister hatte sie jetzt endlich erreicht. Vorsichtig balancierte er über die Bretter und trat zu ihnen auf den Felsen. Sein Gesicht strahlte. »Uneinnehmbar«, rief er aus. »In der Tat, uneinnehmbar, unangreifbar!«
»Du hältst es nicht für einen Nachteil, dass wir hier auf einer Felsnadel sitzen?«, erkundigte Wikant sich irritiert, denn er hatte mit einer anderen Reaktion gerechnet.
»Auf der einen Seite das Meer, der steil abfallende Fels, und hier diese Schlucht … bessere Voraussetzungen gibt es wohl kaum. Das Schloss wird auf einer unerreichbaren Säule thronen. Eine Zugbrücke muss hier herüberführen. Wenn sie hochgezogen ist, wer soll da gegen Euren Willen eindringen können?«
»Ja«, sagte Tinek, »genau so dachte ich es mir auch.«
»Kommende Generationen werden Euch für dieses Haus dankbar sein.«
»Das ist der Beginn unserer eigenen Dynastie«, murmelte sie. »Wir legen den Grundstein für Jahrhunderte. Das Haus Neiara. Die Herren der Inseln.«
Wikant schnaubte verächtlich. »Mit den Wölfen heulen, fürwahr.«
Tinek hatte ihn gehört. »Und?«, fuhr sie ihn an. »Willst du dich lieber von ihnen zerreißen lassen? Willst du Drian unsere Insel überlassen? Denen? Lieber zeige ich ihnen, dass ich auch Krallen und Zähne habe.«
Der Baumeister ging bereits auf und ab und zählte seine Schritte.
»Die erste Rate ist fällig«, sagte Kelon. Er stand vor ihr; da Tinek sich hinter dem Tisch verschanzt hatte, wirkte er wie ein unschlüssiger Angreifer. »Der Baumeister verlangt sein Geld. Und die Weinarbeiter haben schon einige Monate auf ihren Lohn verzichten müssen. Sie murren, wenn sie sehen, dass ihr euch ein neues Haus baut, statt ihnen ihr Geld zu geben.«
»Es muss sein.« Sie bemühte sich, sicher und selbstbewusst aufzutreten und ihn ihre eigene Angst nicht merken zu lassen. »Hier im Gutshaus sind wir nicht sicher. Du warst dabei, du weißt, dass hier einfach jeder hereinplatzen und mitnehmen kann, was ihm gefällt.«
»Ja, ich war dabei.«
»Nun denn. Vertröste sie. Das Geld wird bald eintreffen.«
»Welches Geld?«
»Geld eben. Es wird kommen. Es ist schon unterwegs.« Sie hatte nicht vor, ihrem Verwalter mitzuteilen, woher sie diese Gewissheit hatte. Und eine Gewissheit war es schon lange nicht mehr. Mit ihrer Hilfe hatten die Banditen zwei Schlösser geplündert. Sie hatte sogar den Verdacht, dass sie es immer noch taten, dass sie, nachdem sie sich einmal dort eingenistet hatten, nicht so schnell wieder damit aufhören würden, solange man ihnen nicht auf die Schliche kam. Warum hätten Berufsverbrecher ihr und Wikant etwas dafür bezahlen sollen, dass sie ihr diebisches Handwerk ausübten?
Kelon schüttelte den Kopf. »Das wird nicht mehr lange gutgehen.«
»Das lass ruhig meine Sorge sein.«
Aber sobald er fort war, stützte sie ihr Gesicht in die Hände und kämpfte gegen die Tränen. Es lief alles so gut. Die Pläne für das Schloss waren gezeichnet, die erste Ladung Steine wurde bereits den Hügel hinaufgezogen. Im Hafen wartete schon das zweite Schiff. Und sie hatten nichts, um all das zu bezahlen.
Wikant trank wieder. Sie wusste das, obwohl er versuchte, es vor ihr zu verheimlichen. Aber sie hatte es sofort gewusst, sie hatte ihm nur einmal ins Gesicht sehen müssen, in seine Augen, die schuldbewusst zur Seite starrten, und ihre alte Angst kehrte zurück. Er ruiniert sich und das Gut, er ruiniert uns alle …
»Fürstin Tinek?« Kelon steckte schon wieder den Kopf durch die Tür.
»Was? Was denn noch?«
»Hier ist ein Mann, der Euch zu sprechen wünscht.«
»Was will er? Geld?«
Noch ein Gläubiger. Sie nickte kraftlos, aber als der Mann eintrat, setzte sie sich aufrecht hin und blickte ihm kühn entgegen. Es musste einer der Hafenarbeiter sein, der seinen Lohn verlangte, wahrscheinlich einer der Vorarbeiter, denn er wirkte wie jemand, der zu arbeiten verstand, gleichzeitig trug er das Kinn recht hoch für jemanden, der sich jeden Tag neu verkaufen musste.
»Ja?«, fragte sie und kramte in dem Stapel Papiere vor sich, als sei sie ungeheuerlich beschäftigt.
Der Fremde setzte sich ohne Aufforderung, und da ihm kein Stuhl zur Verfügung stand, benutzte er einfach ihren Schreibtisch dafür. Dabei lächelte er, und irgendetwas war in diesem Lächeln, das ihr ganz und gar nicht gefiel.
»Ihr werdet alle euren Lohn bekommen, ganz bestimmt«, versicherte sie schnell. »Ich muss nur … ich warte auf …« Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie wünschte sich, Wikant wäre da und würde es übernehmen, mit solchen Leuten zu reden. Männer wie dieser hier waren in der Lage, einem das Dach über dem Kopf anzuzünden, wenn man gegen die Regeln verstieß. Sie wusste das. Mittlerweile hatte sie mit genug merkwürdigen Typen zu tun gehabt, die ihre eigenen Gesetze aufstellten und über die Sorgen und Nöte anderer nur lachen konnten.
»Wie recht du hast«, sagte er leise. »Jeder wird bekommen, was ihm zusteht, wenn er bezahlt hat.«
Sie schluckte. »Du kommst von – von ihm?«
»Kluges Kind. Ja, ich komme von ihm. Zukata höchstpersönlich hat mich hergeschickt.«
Ihr Herz flatterte wie ein Schmetterling in einem Glas. Er genoss ihre Angst sichtlich.
»Fürstin«, sagte er. »Fürstin Tinek. Nennt Ihr Euch nicht so? Man hört, Ihr baut ein Schloss.«
»Ja«, hauchte sie.
»Ein eigenes Schloss, auf dem Fundament des Goldes anderer Schlösser?«
Sie wusste nicht, ob das ein Vorwurf oder ein Kompliment sein sollte, also schwieg sie dazu.
Er griff in seinen Mantel und zog einen kleinen Beutel hervor, den er vor ihr auf die Rechnungen fallen ließ. Tinek zuckte zusammen. Münzen. Sie wusste, wie Goldmünzen klangen, das schönste Geräusch der Welt, und doch wagte sie nicht, die Hand danach auszustrecken. Der Fremde tat es für sie. Mit langen Fingern zupfte er an der Schnur, und die Münzen rollten über den Schreibtisch.
»Vielleicht habt Ihr etwas anderes erwartet?«, fragte er. »Einen Leuchter, einen Bilderrahmen, ein paar Diamantringe? Wir hielten es für besser, alle Beutestücke zu verkaufen. Man könnte vielleicht sonst auf dumme Ideen kommen, nicht wahr? Ihr wisst ja, wie die Leute reden. Und wir«, er lächelte elegant, »wir kennen uns ja mit solchen Dingen aus.«
Davon bin ich überzeugt, wollte sie sagen, aber sie brachte nur ein heiseres »Ja« heraus.
»Es ist natürlich noch nicht alles«, fuhr der Mann fort, »wie Ihr Euch sicherlich denken könnt.«
Sie zwang sich dazu, ihm ins Gesicht zu schauen. »Danke.«
»Oh, keine Ursache. Wenn Ihr doch jetzt zur Truppe gehört. Und das tut Ihr doch jetzt wohl, oder? Fürstin Tinek?« Er sah sich um, als sei ihm gerade jetzt erst aufgefallen, dass ihr Mann nicht anwesend war. »Und Fürst Wikant?«
»Ist … ich glaube … nebenan.« Wo er trank. Sie wusste das. Wenn er nicht schon so viel getrunken hatte, dass er nicht mehr konnte.
»Wunderbar. Denn sicherlich möchte er dabei sein, wenn wir Eure Verbundenheit mit dem Prinzen besiegeln.«
»Ja«, sagte sie rasch, und dann, während ihr dämmerte, dass irgendetwas hinter seinen Worten lauerte, das ihr bisher entgangen war, fragte sie: »Wie – wie meinst du das?«
Sein Lächeln hatte etwas unzweifelhaft Wölfisches, als er statt einer Antwort seinen Ärmel hochschob. Sie hatte das Brandzeichen schon einmal an einem von Zukatas Räubern gesehen, aber damals hatte es nicht ein solches Erschrecken in ihr ausgelöst wie jetzt. Es sprang ihr entgegen, ein Bild, das sich in sie einbrennen würde … in ihren Geist und ihr Fleisch …
Tinek schnappte nach Luft, sie glaubte, ohnmächtig werden zu müssen. Aber ihr Körper verweigerte ihr eine gnädige Bewusstlosigkeit, und sie hörte den Fremden sagen: »Ihr wünscht Euch doch eine Krone, wie ich hörte.«
»Aber …« Sie wollte eine Königin sein. Nicht eine gebrandmarkte Verbrecherin, der der Galgen drohte, sollte das jemals herauskommen.
»Ich bin eine Dame«, wandte sie schwach ein, »ihr könnt doch keiner Frau das antun …?«
»Ihr müsst nicht«, sagte er und lächelte wieder sein Raubtierlächeln. »Beratet Euch mit Eurem Gemahl. Ich warte hier.«
Er beugte sich über den Tisch und fegte die Goldmünzen wieder zusammen. Gebannt sah sie zu, wie er sie in den Beutel zurücktat. Wie eine Schlafwandlerin stand sie auf und ging zur Tür, ohne ihre Füße zu spüren, ohne irgendetwas zu spüren.
»Wikant?« Ihre Stimme klang ungewohnt weinerlich. Er saß auf seinem Stuhl in diesem Raum, der fast ihr Thronsaal gewesen war, bevor sie beschlossen hatten, ein echtes Schloss bauen zu lassen, und wirkte sehr ernst und sehr untätig. Natürlich hatte er getrunken. Gerade jetzt, wo sie ihn brauchte, wo sie ihn so dringend brauchte! »Wikant?« Sie legte ihre Hände auf seine Knie. Ihre Hände. Auf einmal wurde ihr bewusst, wie hell sie waren, wie schön, und wie hell und weiß und schön ihre Arme waren. Ein Mal, wie Vieh … es war nicht zu denken. »Wikant? Oh Wikant!« Sie wollte es ihm erzählen, aber sie konnte nicht. Sie weinte nur, weinte und weinte, bis er schließlich fragte: »Und was ist eigentlich los?«
»Das Geld ist da.«
»Unser Geld?«
»Ja.«
»Das scheint mir kein Grund zum Weinen.« Er sprach sehr langsam und bedächtig, wie immer, wenn er so viel getrunken hatte, dass er nicht stehen konnte.
»Wikant, oh mein Lieber! Sie wollen … Oh, hör mir zu. Zukatas Zeichen. Sie wollen … Zukata will … hörst du mir zu?«
»Das Zeichen«, wiederholte er nachdenklich. »Eine Krone. Die Krone des Kaiserreichs. Und darüber schlägt der Blitz ein. Z für Zukata. Was ist, Tinek? Siehst du dich schon am Galgen baumeln?«
»Aber wir können doch nicht … Wikant, ich kann nicht! Ich will das nicht! Kann es nicht einen anderen Weg geben? Wie kann ich das zulassen?« Sie weinte wieder. Ohne Mitleid beobachtete er, wie die Tränen aus ihren Augen quollen.
»Mit den Wölfen heulen, weißt du noch?«
»Aber doch nicht so! Wikant! Ich habe solche Angst!«
»Wovor?«, fragte er. »Zeigst du jemals öffentlich deine Schultern? Nein, denn das wäre unanständig. Also wo ist das Problem? Niemand wird es sehen.«
»Aber ich werde es wissen! Es wird sein, als gehörten wir ihm.«
»Das tun wir doch schon«, sagte er dumpf. »Längst.«
Alikas Kind kam zuerst. Sie gebar einen Jungen, hübsch und dunkelhaarig. Werie, die Hebamme legte ihr lächelnd den Säugling in den Arm. »Lasst sein Geschrei nicht draußen hören«, warnte sie.
El Jati, der seinen Sohn voller Staunen und Freude betrachtete, achtete nicht auf sie, aber Alika nickte. »Ja«, sagte sie, »ja, natürlich. Aber was ist, wenn es bei Mino noch lange dauert? Wir können ihn nicht ewig verstecken.«
»Es wird nicht lange dauern, mach dir keine Sorgen«, sagte Werie im Brustton tiefster Überzeugung.
Das Gegenteil jedoch sagte sie zu Mino, als sie sie auf Drängen der ungeduldigen Binajatja hin untersuchte. »Drei, vier Wochen durchaus noch.«
Binajatja kniff die Augen zusammen. »So lange? Und es rührt sich bei dir noch gar nichts?«
»Manchmal zieht es ein bisschen«, behauptete Mino.
»Wir können unmöglich einen ganzen Monat warten. Zwillinge, die einen Monat auseinander sind?« Binajatja schüttelte den Kopf. »Und Norha kann jeden Tag zurückkommen. Kannst du es nicht jetzt holen?« Sie starrte die Hebamme eindringlich an und die Hebamme starrte ungerührt zurück. Schließlich seufzte Binajatja. »Wie viel?«
»Fünf Goldstücke.«
»Dafür kann ich mir ein Kind kaufen, wenn ich eines haben möchte!« Ärgerlich ging sie zum Schrank und kramte in einer Schachtel herum. »Hier. Vier Goldstücke für deine Arbeit und eins für dein Schweigen.«
»Mutter, ich glaube nicht, dass es Norha so viel ausmachen würde.«
Aber Binajatja hatte keine Lust, mit ihr zu streiten. »Es geht nicht nur um Norha. Willst du, dass Alika das Kind aufzieht oder nicht? Eine Woche weiter, und es muss doch ins Kloster. Ist dir das lieber? Fang an, Werie. Jetzt oder nie.«
Werie lächelte Mino aufmunternd an. »Dann wollen wir mal.«
»Es ist noch zu früh«, protestierte Mino. »Bitte, ich spüre es, es ist doch noch viel zu früh. Wie kannst du so etwas tun?«
»Du hast deine Mutter gehört. Wir machen es jetzt. Zum Leben ist es groß genug, und wenn nicht, dann eben nicht. Ich rühre dir ein Wehenmittel an. Wenn es nicht so geht, wie wir uns das wünschen, hat sich das deine Mutter selbst zuzuschreiben.«
Als Mino von Alikas Kind erfahren hatte, war sie so froh gewesen, so voller Glück; sie hatte gar nicht daran gedacht, was diese Nachricht für sie selbst bedeutete.
»Was hat Alika bekommen? Einen Jungen oder ein Mädchen?«, fragte sie. Sie versuchte, das Zittern aus ihrer Stimme herauszuhalten. Ihre Angst vor der bevorstehenden gewaltsamen Geburt war so groß, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen.
»Einen Jungen«, sagte Werie. »Tamait heißt er. So, und jetzt trink das hier.«
Wenn sie jemals hatte fliehen wollen, hätte sie das gleich nach ihrer Ankunft tun müssen. Oder sie hätte bei den Zintas und bei Keta bleiben können. Dort, wo ihr Kind in fröhlicher Gemeinschaft hätte aufwachsen dürfen, in den Wäldern bei den bunten Wagen. Mit Toris, seinem Vater, der ihm Jonglieren beibrachte, einem Haufen Tanten, die es kitzelten und ihm Lieder vorsangen, einer überglücklichen Großmutter – es passte nicht so recht, sich Variti als Großmutter vorzustellen – und jeder Menge Spielkameraden.
Das alles hatte sie ausgeschlagen, hatte es ihrem Kind vorenthalten. Sie hatte das Unglück gewählt, für sich und damit auch für ihr Kind, doch nie war ihr das so bewusst gewesen wie jetzt. Vielleicht brachte Werie es um. Oder sie selbst starb. Vielleicht endete nun alles, hier in diesem Haus, in dem sie niemals wirklich glücklich gewesen war. Und es war unmöglich, die Entscheidung rückgängig zu machen.
Es war zu spät. Es gab keine Möglichkeit, ohne Binajatjas Erlaubnis von dieser Insel zu entkommen. Sie saß hier fest.
Als sie das Gebräu hinunterschluckte, das übel schmeckende, war es ihr, als würde sie den Tod trinken, für sich und ihr Kind, und während sie auf die Schmerzen wartete, hoffte sie fast darauf, dass der Tod sie hier fand. Aber sie konnte das Gleiche nicht für ihr Kind hoffen.
Werie erlaubte ihr nicht zu schreien, schließlich durfte niemand wissen, dass sie hier ein Kind bekam. Sie heulte in ein Tuch, während die unglaublichen Schmerzen ihren Körper zerrissen. Ich sterbe, dachte sie. Nun geschieht es doch und ich sterbe hier …
Aber sie starb nicht. Oder doch?
Sie lag da und fühlte, wie das Leben aus ihr herausrann …
»Zu viel Blut«, hörte sie die Hebamme sagen. »Sie verliert viel zu viel Blut.«
»Tu etwas, verdammt!«, sagte die Stimme ihrer Mutter.
Verdammt, ja, dachte Mino. War ich das nicht von Anfang an? Sie war damit zufrieden, zu sterben. Dann brauchte sie Norha nicht zu heiraten. Dann brauchte sie überhaupt nichts mehr zu tun. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass die Brücke vor ihr auftauchte, die wunderbare Brücke über das Meer.
»Etwas mickrig, wie?« Es interessierte sie nicht, worüber die anderen sprachen. »Schau her, Mino«, befahl Binajatja. »Schau her, sage ich dir!« Sie wollte die Augen nicht öffnen. Aber sie war es so gewöhnt, ihrer Mutter zu gehorchen, dass sie die Lider hob. Und direkt vor ihr war ein zerknautschtes, rotes Gesicht.
»Das ist dein Kind, schau es dir an!«, forderte Binajatja sie auf. Mino hatte nicht gewusst, dass es lebte. Sie hatte auf einen Schrei gewartet und es war kein Schrei gekommen. Nun sterben wir hier beide, zusammen … Aber da war das Kind, eingewickelt in ein weißes Tuch. Auf seinem Kopf bauschte sich weicher, dunkler Flaum. Für so ein winziges Kind hatte es unglaublich viel Haar. Seine Augen waren schwarz. Wundervolle schwarze Augen.
Sofort hörte Mino auf zu sterben. Sie war so kraftlos, dass sie ihre Arme kaum heben konnte, aber sie streckte die Hände nach diesem Wunder aus.
»Ein Mädchen«, teilte ihr Binajatja mit. Ihre Stimme klang auf einmal anders, weicher und freundlicher und zugleich rau, fast so, als wäre sie gegen ihren Willen gerührt.
»Ixa«, flüsterte Mino.
»Was? Du nennst es Ixa? Was ist denn das für ein Name?« Die Apfelkönigin schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht Ixa. Werie wird es zu Alika bringen, wenn sie hier mit dir fertig ist, und Alika soll sich einen Namen ausdenken. Nun, was ist, Werie? Kannst du die Blutung stoppen?«
Binajatjas Stimme zitterte leicht. »Hier«, sagte sie und ergriff Minos Hand, »fühl mal.« Ihre Hand berührte das Köpfchen ihrer Tochter. Warm und weich waren ihre Haut und das flaumige Haar. Auf einmal öffnete sie den Mund und krähte.
Dies war das Glück. Es war wie die Vision von der Brücke, auf die sie gewartet hatte – ein Gefühl von solch eindringlicher Klarheit, dass dagegen alles andere verblasste.
Während sie hier lag und starb oder auch nicht starb, während sie verblutete – aber vielleicht auch nur fast – kam ein solches Glücksgefühl über sie, dass sie es kaum aushalten konnte. Ihr Herz wurde leicht und ihr ganzer Körper schien über dem Bett zu schweben, frei wie ein Vogel im Wind über dem Meer. Die dunklen Augen, in die sie blickte, waren die schönsten Augen der Welt. Aus der Nacht ihres Leibes und ihres Lebens war ein Geschöpf ins Tageslicht geboren worden, so unaussprechlich wunderbar, dass daneben nichts anderes mehr zählte.
Dies, so fühlte sie, ist das Glück.
In dem Gasthaus zog es erbärmlich. Norha rieb seine Füße aneinander und sehnte sich nach einem Platz näher am Kamin. Auf den Glücklichen Inseln vergaß man allzu leicht, dass der Winter nicht die ideale Zeit zum Reisen war.
Missmutig schlürfte er seine heiße Suppe oder das, was der Wirt prahlerisch als Suppe bezeichnete. Falls ein Stück Fleisch oder wenigstens ein Knochen hier durchgeschwommen war, hatte es jedenfalls keine Spuren hinterlassen.
»Du musst Wild verlangen.«
Erstaunt blickte Norha auf. »Wikant? Was machst du denn hier?«
»Alles andere ist ungenießbar. Vertrau mir, ich war schon oft genug hier.«
Norha schob seinen Teller von sich fort. »Ich dachte, du bist zu Hause?«
»Das bin ich auch. Im Ernst, ich habe genug auf Neiara zu tun. Aber als ich mitbekommen habe, dass du eine Reise machst …«
»Mitbekommen? Du und Tinek, ihr habt mir doch die ganze Zeit zugeredet, dass ich auf Binajatjas Vorschlag eingehen soll.«
»Und Mino?«
»Was ist mit ihr?«
Wikant starrte ihn eine Zeitlang an, dann wandte er sich um und winkte dem Wirt. Er musste nicht einmal sagen, was er bestellte.
»Du bist anscheinend wirklich öfter hier«, stellte Norha fest. Seine Füße froren noch immer, aber er nahm sie nicht mehr so deutlich wahr. Seinen ganzen Körper durchjagten Schauer. »Was willst du von mir? Was noch? Erst sollte ich Binajatja heiraten und dann auf einmal Mino …«
»Bist du nicht froh, dass ihre Tochter gerade rechtzeitig heimgekehrt ist? Es wäre ziemlich dumm gewesen, wenn du Binajatja geheiratet hättest, um die Insel zu bekommen, und wenn dann plötzlich die Erbin aufgetaucht wäre.«
Norha ging auf die erfreuliche Wendung der Dinge nicht ein. »Was also? Du bist doch nicht zufällig hier.« Dass er das Unbehagen seines Bruders spürte, machte die Sache nicht besser. »Tinek hat dich geschickt, wie?«
»Du brauchst nicht wegen der Zölle zu verhandeln«, sagte Wikant. »Bezahl sie einfach. Wir holen uns alles wieder, was sie uns abnehmen.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Wonach klingt es denn?«, fragte Wikant angriffslustig. »Stellst du dich nur so blöd oder bist du es wirklich? Vergiss Drian. Sie haben dir den ganzen Winter freigegeben, deine Apfelköniginnen? Geh nach Sitra.«
»Was soll ich dort?«
»Das Königshaus besuchen. Dort leben. Nichts weiter. Und die Augen offenhalten.«
Norha versuchte, Wikant zu durchschauen, in seinem Gesicht etwas zu lesen, was einfach nicht entzifferbar war. »Was? Warum?«
»Sie werden dich dort aufnehmen, wenn du dich als der Fürst von Arima vorstellst. Mach nicht so eine Miene, halt dich gerade, und du bist, was du dich nennst. Tu, als wärst du auf Brautschau.«
»Ich bin gerade dabei, Mino zu heiraten, falls du das vergessen hast! Wen soll ich denn noch alles heiraten?«
»Für Binajatja, die einsame Schwiegermutter. Erzähl, dass du einen alten Grafen oder was auch immer für sie suchst. Sieh dich um. Mehr erwarten wir gar nicht.«
»Kannst du mir sagen, was das soll? Willst du es mir sagen?«
Wikant sah auf, als der Wirt einen großen, zugedeckten Teller brachte. »Ah, da ist es! Wunderbar!«
Norha lief das Wasser im Mund zusammen, als er den Duft des Bratens roch. »Wild?«, fragte er leise. »Hat nicht nur der König von Drian das Recht, in diesen Wäldern zu jagen?«
»Iss«, befahl Wikant. Er griff nach Norhas Weinglas und stürzte es hinunter.
»Ich dachte, du trinkst nicht mehr.«
»Denk nicht so viel. Iss.« Er beugte sich vor. »Du wirst dich noch daran gewöhnen, zu essen, was dem König gehört. Irgendeinem König.«
»Dein Schloss steigt dir zu Kopfe, wie?«
Norha war an diesem Tag so lange geritten, dass er kaum noch sitzen konnte. Es verlangte ihn nach einem Bett. Wahrscheinlich würde es von Flöhen und Wanzen wimmeln.
Wikants Hand zitterte leicht, als er die Hand zum Mund führte. Bratensaft tropfte auf das glatte Holz des Tisches. »Verlange ich wirklich so viel? Reite nach Sitra und lebe eine Weile dort am Hof. Das wirst du doch noch für deinen Bruder und seine Familie tun können.«
Norha gab nach. Er nickte. Das Fleisch, dunkel und würzig, steckte überall in seinen Zähnen. Er stellte es sich durchaus angenehm vor, eine Weile an einem Königshof zu leben. »Na gut«, sagte er. »Ich reite nach Sitra.«
Braune Augen. Ein kleiner, kirschroter Kussmund. Kastanienbraune Locken.
»Wie sieht Eure Braut aus, Fürst Norha?«
Die kleine Gräfin schmachtete ihn nicht an. Sie war nur freundlich. Trotzdem kam es ihm merkwürdig gefährlich vor, mit ihr zu plaudern. »Weiß«, sagte er. »Sie ist hellblond.«
Sie kicherte. »Ist sie hübsch?«
Es gab keinen Grund zum Kichern. Norha fühlte, wie er selbst immer ernster, immer grimmiger wurde. Es war schwer, sich zum Entspannen zu zwingen und gelöst zu plaudern. »Nun ja, anders hübsch als Ihr, Gräfin Liadett.«
Sie lachte glockenhell. Und er war ein Mann mit Prinzipien. Er war verlobt, also würde er sich nicht einfach einer anderen Frau zuwenden, und war sie noch so attraktiv. Er würde seinen Auftrag hier erfüllen und wieder nach Arima zurückkehren und seine Braut heiraten, wie alle es von ihm erwarteten. Dazu hatte er sich entschieden. Manchmal dachte er an Mino, mit Sehnsucht, mit ängstlicher Erwartung, voller Hoffnung, dass er mit guten Ergebnissen zu ihr zurückkehren konnte und niemanden enttäuschte. Es tat ihm jetzt schon weh, sich vorzustellen, dass sie enttäuscht sein könnte.
»Oh, Ihr schmeichelt mir aber. Das habe ich mir gleich gedacht: Der Mann sieht so still aus, aber der hat es bestimmt faustdick hinter den Ohren.«
Norha wunderte sich ein wenig, dass irgendjemand, und war er auch noch so dumm, ihn so einschätzte. Er hatte es weder dick noch sonstwie hinter den Ohren. Er war ein aufrechter, gradliniger Mann, der gute Arbeit tat und die Pflichten seiner Familie gegenüber kannte. Darauf war er stolz.
»Fürst Norha?« Sie winkte mit ihrer kleinen, in weißen Spitzenhandschuhen steckenden Hand, damit er sich zu ihr herunterbeugte. Er erwartete, dass sie ihm irgendetwas zuflüstern wollte, aber womit er nicht gerechnet hatte, das war ein Kuss.
Sie duftete. Ihr Haar duftete, alles an ihr verströmte einen betörenden Duft. Doch er war kein Mann, der mit einer Fremden durchbrannte. Auch nicht, wenn seine Verlobte ein Kind von einem anderen bekam.
»Aber Gräfin Liadett!«
»Ihr schimpft mit mir? Oh, Ihr seid ein ganz Schlimmer!«
Irgendwie war da gar nichts zu machen.
Er dachte an seine Braut, wie an eine Aufgabe, die es zu erfüllen galt. Denn die Schuld brannte in ihm. Es gab keinen Grund, sich schuldig zu fühlen – hatte Mino nicht auch ihre kleinen Geheimnisse? So schön und schlank, wie sie da stand, als hätte sie nicht heimlich ein Kind bekommen. Es gab keinen Grund, sich so zerknirscht und unwürdig vorzukommen.
Minos schlichtes Hochzeitskleid war graublau wie das Meer, und verlieh ihren Augen mehr Farbe als sonst. Sie lächelte, und bei diesem Lächeln wollte er am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, weil er sich so dreckig vorkam, während sie vor ihn hintrat wie eine Gestalt aus Licht und Wasser.
An diesem Tag schienen alle sich verschworen zu haben, sie zu überstrahlen. Binajatja glänzte aufgeregt. Seine eigenen Verwandten, Bruder und Schwägerin, hatten sich herausgeputzt, als wären sie schon immer Fürst und Fürstin gewesen. Sogar ihr Geschenk war fürstlich. »Jetzt können wir das Haus vergrößern!«, entfuhr es Binajatja begeistert. Zwischen ihnen allen wirkte das weiße Mädchen in dem einfachen Kleid wie ein verlorenes Kind. Dabei war sie viel schöner als die Frau seines Bruders. Er sah es; irgendwann würden es auch die anderen sehen.
»Los, Norha, erzähl.« Tinek trat an ihn heran. »Was hast du herausgefunden?«
»Nichts.«
Das stimmte natürlich nicht. Liadett hatte geflüstert. Getuschelt. Unentwegt geredet. Auf diesem Weg hatte Norha eine ganze Menge über das Königshaus von Sitra erfahren, mehr, als er jemals hatte wissen wollen. Er hörte gar nicht richtig zu, und doch sog sein Verstand jede Einzelheit auf, ordnete und archivierte und verstaute sie sorgfältig in den Schubladen seines Geistes.
»Nichts? Ach, komm, Norha. Wir zahlen dir diesen gewaltigen Vorschuss, und du bringst uns nichts mit?«
»Vorschuss?« Dann dämmerte es ihm. »Das Geld war doch wohl euer Geschenk zu meiner Hochzeit!«
»Kleiner Irrtum, lieber Norha. Seit wann können wir solche Geschenke machen? Es ist dein Anteil. An dem, was wir erwarten.«
»Habt ihr darauf das Fundament eures Schlosses gegründet? Auf Geschichten von Reisenden? Vielleicht auf Briefen, die du mit deiner zierlichen Handschrift aufsetzt?«
»In meiner Handschrift? Ich bin doch nicht blöd.«
Norha schüttelte den Kopf. »Ihr seid unter die Erpresser gegangen? Das hätte ich nicht von euch gedacht. Vor allem nicht von Wikant.«
Wie aufs Stichwort kam sein Bruder zu ihnen. »Nun? Hat es sich gelohnt, die lange Reise?«
»Norha wollte mir gerade alles erzählen«, verkündete Tinek.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Norha seine frischgebackene Ehefrau, die an einem der Tische saß und versonnen einen Apfel betrachtete.
»Ein Geschenk kann man nicht wieder zurückfordern«, sagte er.
»Eine Anzahlung schon.«
Und das Dumme war, dass er ihnen alles liefern konnte. Er wusste, welche Fürsten ihre Frauen betrogen und dass die Königin von Sitra ein geheimes Leben führte, von dem zwar ihre Freundinnen, aber nicht ihr Gemahl etwas wussten. Im Grunde verdienten solche Leute es, für ihre Taten zu bezahlen.
»Nur dieses eine Mal«, drängte Tinek. »Wir brauchen ein Schloss. Und du? Willst du mit deiner Frau in dieser alten Hütte leben? Verdient sie das, so zart und empfindlich, wie sie ist? Die richtigen Kleider, etwas mehr Haltung, und sie würde aussehen wie eine Prinzessin.«
Sie hatten kein Mitleid mit ihm. Nachdem er geredet hatte, war ihm übel. Er wankte fort, in das Häuschen, das für ihn und Mino und Binajatja zu klein war.
»Du dachtest doch nicht etwa, mit ein paar Pfirsichen könnte man sich ein Königreich kaufen?«, rief ihm Tinek hinterher.