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3. Keine Wahl

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» M I RI S TS C H L E C H T . «Erion war grün im Gesicht, aber er beharrte darauf, dass es ihm gut ging. Er hatte kein einziges Mal protestiert, als Zukata ihn aus dem Haus seiner Eltern herausgeführt hatte. Hinter sich hatte er das Schluchzen seiner Mutter gehört und aus irgendeinem Grund wurde er den fassungslosen Blick seines Vaters nicht los. Es war nicht leicht, Wikant von Neiara aus der Fassung zu bringen.

Erion hatte sich nicht umgedreht, als er über das zersplitterte Tor stieg und mit dem Riesen und seinen angetrunkenen Piraten zu den Schiffen ging. Sie lagen dort vor Anker, alle vier, größer und schöner als jedes Boot, das er je hier in Neiara gesehen hatte, und Stolz erfüllte ihn, weil er mit ihnen abreisen würde. Erion mochte keine Schiffe, auch wenn er immer gerne Geschichten gehört hatte, in denen es um Seeleute oder gar Piraten ging. Aber ihm selbst behagten nicht einmal die kleinen Ruderboote, mit denen sich die anderen Kinder so gerne in der Nähe des Hafens herumtrieben. Ein einziges Mal hatten sie ihn mitgenommen. Er wusste, dass er nicht beliebt war, denn als Sohn des Weinfürsten war er etwas Besonderes. Natürlich spüren Kinder so etwas, auch Fischerkinder oder die Sprösslinge der Arbeiter. Schon immer war er anders gewesen als sie. Und dass sie ihm die Bootsfahrt angeboten hatten, war sicherlich nicht aus einem neuerwachten Gefühl der Freundschaft geschehen, sondern nur, um zu erleben, wie ihm schlecht wurde und er sich ganz unstandesgemäß übergab. Damals hatte er sich geschworen, nie wieder den Fuß auf ein Boot zu setzen. Aber natürlich sagte er kein Wort, als der Riese ihm seine Schiffe zeigte.

»Die Perlentaucher. Die Windgesang. Die Goldkiste und die Großer Fang. Auf welches möchtest du?«

Jetzt kam es darauf an, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich werde König sein, dachte Erion. Ich werde der Freund des Kaisers sein. Vielleicht sogar sein bester Freund. Er hat schließlich gesagt, dass der Kaiser immer einen Freund von den Glücklichen Inseln hat, deshalb hat er mich ausgesucht.

»Auf welchem Schiff seid Ihr?«, fragte er hoffnungsvoll.

Der Riese runzelte die Stirn. »Das sind alles meine Schiffe«, sagte er. »Und alles meine Männer. Dort – ja, nimm das.«

Erion bemühte sich, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. Es war weder die Goldkiste noch die Großer Fang. Auch nicht die Perlentaucher. Es war kein Name, der irgendetwas mit Reichtum und Erfolg zu tun hatte.

»Die – die Windgesang?« Weder mit dem Wind noch mit irgendeiner Art von Gesang hatte Erion viel am Hut. Das war kein Name für ein Piratenschiff oder für das Schiff eines zukünftigen Kaisers. Es klang nach gar nichts. Aber der Junge nickte und stieg auf das wackelige Brett, das vom Landesteg nach oben führte. Er wollte kühn und aufrecht hinüberschreiten, aber stattdessen konnte er nicht anders, als sich zu bücken und sich festzuhalten. Auf allen Vieren kroch er in die Höhe. Hinter sich hörte er den Prinzen lachen. Vor ihm tauchte ein Mann auf, der ihn in Empfang nahm. Er machte ein etwas verwundertes Gesicht, aber er stellte keine Fragen.

»Na, dann komm mal rauf, du Landratte«, sagte er.

Dies war nicht das Schiff des Riesen. Erion fühlte sich nicht nur enttäuscht, sondern betrogen, als er beobachtete, wie Zukata an Bord der Perlentaucher ging. Er wollte ihn nicht in seiner Nähe haben. Obwohl er es doch versprochen hatte! Erion sah über die kleine Stadt hinweg und heftete seinen Blick auf das Gutshaus oben am Hang. Vielleicht standen seine Eltern dort am Fenster und sahen zu, wie er abfuhr.

»Brauchst nicht zu heulen«, sagte der Pirat neben ihm. »Das Leben an Land ist eh kein Leben.«

»Ich bin Erion«, stellte Erion sich vor, »der Sohn des Fürsten von Neiara.« Fast hätte er gesagt: des Königs. Wenn er zurückkam, würde sein Vater König sein und seine Mutter eine Königin. Und er ein Prinz. Fast war er es jetzt schon. Wenn er zurückkam. Sein Herz rutschte ihm in die Hose, als ihm aufging, dass er keine Ahnung hatte, wann das sein würde. Als er mit Zukata mitgegangen war, hatte es sich angefühlt wie ein spannender Ausflug. Aber nun, auf diesem Schiff, neben einem Seemann, der nichts fürs Landleben übrig hatte, begann er zu befürchten, dass er recht lange fort sein würde.

»Wohin werden wir fahren?«, fragte er.

»Wohin auch immer es den Hauptmann zieht«, sagte der Pirat. Hauptmann sagte er, nicht Prinz, und diese Anrede kam so selbstverständlich aus seinem Mund, dass Erion erschrak. Ein Prinz. Ein Pirat. Ein zukünftiger Kaiser. Und er war nichts als ein Junge, der Neiara noch nie verlassen hatte. Was um alles in der Welt tat er hier auf diesem Schiff?

Er blickte hinunter in das trübe Wasser, das beständig gegen den Schiffsrumpf schlug. Noch waren sie im Hafen. Er konnte nicht schwimmen, aber wenn er sich irgendwo zwischen den anderen Schiffen versteckte …

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Es war nicht Zukatas schwere Hand, aber auch diese war kräftig und das Zupacken gewöhnt.

»Denk nicht einmal daran«, sagte der Pirat. Mehr brauchte er nicht zu sagen. Erion nickte. Er rührte sich nicht von der Stelle, als der Rest der Mannschaft zurück an Bord kam, als der Befehl zum Ankerlichten erteilt wurde. Denk nicht einmal daran. Nein, er sprang nicht. Er sah nur hinunter ins Wasser. Auf die anderen Schiffe. Und auf die Insel, die, während sie kleiner und kleiner wurde, immer grüner zu werden schien, bis sie schließlich verblasste und nichts war als ein Schatten, der im Meer versank.

»Nie«, flüsterte Tinek, »nie wieder lasse ich mich so demütigen.«

Sie beugte sich aus dem Wagenfenster und sah zu dem Schloss zurück, das sich klein und verspielt in die grüne flache Landschaft des Königreichs Drian schmiegte.

Wikant machte sein allerdüsterstes Gesicht.

»Nun, eigentlich haben wir damit gerechnet, oder nicht?«

»Du wusstest, dass sie uns kein Geld geben würden?« Tinek funkelte ihren Mann zornig an. »Ach ja? Deine Hoffnung war mindestens so groß wie meine.«

»Es gab nichts, was wir ihnen anbieten konnten. Wir haben keine Sicherheiten, nichts.«

»Bei Rinland, wir sind verwandt! Reicht das denn nicht!«

Ein gemeinsamer Urgroßonkel reichte nicht, um Geld geliehen zu bekommen. Natürlich hatten sie es beide gewusst. Und doch hatten sie es wenigstens versuchen müssen, das waren sie sich und Erion schuldig.

»Wir könnten dem Kaiser eine Nachricht senden. Das habe ich ja gleich als Erstes vorgeschlagen.«

Tinek schüttelte den Kopf. »Zukata wird der Kaiser sein.«

»Aber noch nicht! Noch ist er es nicht! Wenn wir uns an Kanuna El Schattik wenden? Wenn wir ihn bitten, uns zu helfen? Der Prinz hat selbst gesagt, dass der Kaiser auf der Seite der Glücklichen Inseln steht.«

Tinek rutschte unruhig auf dem Sitz der Kutsche herum. Seit ihr Sohn mit dem Riesen gegangen war, schien auch mit ihren Füßen etwas geschehen zu sein. Sie konnte nicht mehr still sitzen. Unaufhörlich zappelte sie herum. Es machte Wikant halb wahnsinnig, ihr zuzusehen.

»Wie stellst du dir das vor? Wir sagen dem Kaiser, dass sein Sohn unseren Jungen entführt hat. Und dann? Was glaubst du, was Zukata mit Erion machen wird, wenn er Wind davon bekommt, dass wir uns beschwert haben?«

»Er könnte uns helfen«, beharrte Wikant unglücklich.

»Niemand kann uns helfen«, sagte Tinek. »Niemand. Weder hier noch im Kaiserreich. Weder der Kaiser selbst noch sonstwer. Wir müssen ein Schloss bauen. Woher haben die anderen Könige Geld dafür gehabt?«

»Ihre Königreiche sind auch nicht ganz so winzig wie unsere Insel.« Wikant seufzte. »Hast du dich je gefragt, ob Zukata es wirklich ernst meint? Glaubst du, er wird tatsächlich Kaiser? Denn wenn nicht, dann nützen ihm alle seine Drohungen nichts.«

»Und Erion?«

Erion. Die Reden des Riesenprinzen konnten sie als wilde Phantastereien abtun, aber ihr Sohn blieb verschwunden. Wikant überlegte, ob er Tinek darauf hinweisen sollte, dass es keine Garantie gab, dass sie ihren Jungen zurückbekommen würden. Dazu war dieser Handel zu verrückt. Warum sollte jemand von ihnen verlangen, ein Schloss zu bauen? Es ergab keinen Sinn, und wenn ihr Sohn in der Hand eines Wahnsinnigen war, welche Hoffnung gab es dann noch?

Er sah Tinek nicht an, während die Kutsche über die sanften grünen Hügel rollte. Dies war Land. Land. Und was hatten sie, außer einem Weinberg und einem Gut?

Tinek grollte immer noch.

»Sie hätten es wenigstens höflich sagen können.«

»Sie haben es höflich gesagt.«

»Ach was! Sie haben nur so getan!«

Ein Wald tat sich vor ihnen auf, hell und freundlich. Wikant starrte düster aus dem Fenster. Ihm fiel nicht einmal auf, dass die Kutsche plötzlich anhielt. Erst als jemand von außen die Tür aufriss, merkte er, dass etwas nicht stimmte. Denn es war nicht der Kutscher. Es war ein junger, bärtiger Mann mit einem stark ausländischen Akzent.

»Raus hier! Und Geld, aber schnell!«

Wikant stieg aus der Kutsche und half Tinek die Trittstufe hinunter. Es waren fünf. Fünf bewaffnete Kerle. Und sie waren bloß zu zweit; den Kutscher sahen sie nur noch von hinten.

»Da rennt er hin«, murmelte Wikant trübsinnig.

»Los!«, sagte der erste Räuber. »Schöne Leute aus Schloss, Geld, gib her!«

»Er meint«, mischte sich ein zweiter Halunke mit einer vornehmeren Sprechweise ein, »dass ihr uns bitte eure Geldbörsen aushändigen sollt.« Er deutete sogar eine kleine Verbeugung an, aber da er am Oberkörper nichts als eine Weste trug, wurde die Wirkung deutlich geschmälert.

Tinek explodierte. »Was für Geld?«, schrie sie. »Wir haben überhaupt kein Geld! Glaubt ihr, nur weil wir vom Schloss kommen, sind wir edle, reiche Leute! Ja, Geld hätten wir auch gerne, aber sie haben uns dort nur ausgelacht, ihre armen Verwandten, ja, so was von freundlich, wir würden euch ja gerne helfen, aber wir müssen auch unsere Ausgaben berücksichtigen, und – ooooaaah!« Ihre Rede endete in einem lauten, wütenden Schrei.

Die Räuber tauschten verwunderte Blicke.

»Äh?«, fragte der erste Bandit.

»Habt ihr es nicht verstanden?«, fragte Wikant höflich. »Wir haben kein Geld. Das hier ist nicht einmal unsere Kutsche. Wir haben sie nur gemietet, um Eindruck zu schinden, aber es hat reichlich wenig genützt. Von euch einmal abgesehen. Die Reichen fallen auf so etwas nicht herein.«

Tinek zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Warum überfallt ihr nicht gleich die da? Ich meine, die im Schloss? Da gibt es massig zu holen. Arme Reisende ausrauben, dass ich nicht lache! Da ist das Geld! Das große Geld! Genug für alle!« Unvermittelt begann sie zu weinen, was die Räuber in noch größere Verwirrung stürzte.

»Gebt uns einfach, was ihr habt«, schlug einer freundlich vor. »Ich sehe, du hast da eine Kette um den Hals …«

»Niemals!«, kreischte Tinek auf. »Niemals bekommt ihr diese Kette! Das war ein Geschenk meiner Mutter zur Hochzeit, und ich werde mich nie, nie davon trennen, außer wenn ich sie in Zahlung gebe, um ein paar Steine für das verdammte Schloss zu kaufen, das wir bauen sollen, und dann ist Zukata hoffentlich zufrieden und gibt uns unseren Sohn zurück, und das ist mein letztes Wort!«

Von dem ganzen Redeschwall hatte der Räuber nur ein Wort verstanden. »Zukata?«

»Hat unseren Sohn.« Wikant hatte nicht vor, diese Tatsache überall herumzuerzählen. Im Schloss hatten sie kein Sterbenswörtchen davon erwähnt, dass ihr Sohn entführt worden war. Er macht eine Reise. Darauf hatten sie sich geeinigt. Eine Reise, um die Welt kennenzulernen, und ist das nicht gut für einen jungen Menschen?

»Was habt ihr mit Zukata zu tun?«

Tinek sah das Zeichen auf seinem Arm. Die Krone und das Z darüber, und sie erinnerte sich an Gerüchte aus dem Kaiserreich vor ein, zwei Jahren …

»Ihr seid Zukatas Leute«, sagte sie langsam. »Und wir auch. Nein, nicht so wie ihr. Unser Sohn ist mit ihm auf das Schiff gegangen. Und wir – nun, wir haben den Auftrag, ein Schloss zu bauen …«

»Ein Schloss für Zukata?« Der Räuber schüttelte ungeduldig den Kopf. »Du lügst. Zukata braucht kein Schloss. Kirifas wird ihm bald gehören.«

»Hör mir doch erst zu«, befahl Tinek streng. »Es ist kein Schloss für ihn selbst, sondern das Symbol seiner Herrschaft auf den Glücklichen Inseln. Ist das zu hoch für euch? Dafür brauchen wir das Geld, das diese reichen Schnösel uns verweigert haben. Für Zukatas Sache.«

Wikant hörte ihr mit offenem Mund zu, als sie sich zu dem Riesen stellte, der sie überfallen und ihren Sohn geraubt hatte.

Sie musterte die fünf bärtigen Gesellen. »So geht das nicht. Wenn ihr dort im Schloss etwas für unsere und für Zukatas Sache unternehmen wollt, müsst ihr anders aussehen. Wie – wie Gärtnerburschen vielleicht?« Sie griff mit beiden Händen an ihren Hals und nahm die goldene Kette ab, die sie eben noch mit ihrem Leben hatte verteidigen wollen. »Nehmt das. Besorgt euch andere Kleidung. Lasst euch die Bärte abrasieren. Lasst euch eine Anstellung im Schloss geben.«

»Was machst du da?«, erkundigte Wikant sich.

»Ich? Ich baue ein Schloss. Hier.« Sie händigte einem der Räuber den Schmuck aus. Verwirrt starrte er sie an.

»Wir dort Geld holen – Gärtner?«

»Ihr tut so, als ob. Gärtner, Küchenhelfer, Kammerdiener, was weiß ich. Im Speisesaal stehen zehn goldene Leuchter auf der Tafel. Die Prinzessin trägt ein Diadem mit roten Rubinen, das sie abends auf ihr Nachttischchen legt. Die Königin trägt drei Diamantringe, die sie nicht mehr vom Finger bekommt.«

»Woher weißt du das alles?« Wikant betrachtete sie so verwundert, als hätte sie sich unversehens in ein Ungeheuer verwandelt. Es konnte aber kein allzu schreckliches Ungeheuer sein, denn in seinen Augen lag kein Entsetzen, nur Überraschung.

»Ich sehe eben genau hin. Und ich höre genau hin, wenn jemand mit seinem Reichtum protzt und mir dann weismachen will, dass er zu arm sei, um mir zu helfen. Irgendwo muss man ja hinsehen, wenn man das verächtliche Lächeln nicht mehr ertragen kann.«

»Und dann?«, fragte der höfliche Räuber mit dem Brandmal am Arm.

»Dann kommt ihr nach Tors. Dorthin geht jetzt unsere Reise. Auch in Tors haben wir entfernte Verwandte, die in einem hübschen Schloss leben und auf ihren Schätzen brüten. Wollen wir doch mal sehen, wohin Geiz so alles führen kann.«

»Du willst sie auskundschaften und ihnen dann Diebe ins Haus schicken?«

»Das Schloss in Tors ist größer, dort werden wir uns etwas länger aufhalten«, kündigte Tinek an. »Ich gehe davon aus, dass sie uns ein paar Tage durchfüttern werden, bevor sie uns nach allen Regeln der Etikette die Tür weisen.« Sie nickte den Räubern zu. »Die Hälfte. Das wäre unser gerechter Anteil. Und vielleicht könnte einer von euch uns den Kutscher machen, denn es würde wenig glaubhaft aussehen, wenn wir eigenhändig vorfahren.«

Die fünf Männer machten recht dumme Gesichter, aber in ihren Augen blitzte bereits die Gier auf nach all den Schätzen, die sie sich erhofften.

»Wir sollten Zukata davon unterrichten«, sagte schließlich der Gebrandmarkte. »Ohne seine Zustimmung läuft hier gar nichts.«

Tinek lächelte. »Ja, tut das. Und wenn ihr das macht, richtet ihm Grüße aus und auch die besten Wünsche an Erion, unseren Sohn.«

Wikant setzte sich wieder in die Kutsche. Dort saß er stumm da, das Kinn in die Hand gestützt. Er schien angestrengt nachzudenken, aber sie wusste, dass er nur so tat.

»Ich weiß nicht, ob ich wirklich so tief sinken möchte«, sagte er, als sie zu ihm in den Wagen spähte.

»Tief?«, fragte sie zurück. »Jetzt geht es endlich aufwärts. Glaubst du, mir macht das Spaß? Es geht nur um Erion.«

Aber ihre Wangen glühten, und es schien ihm irgendwie doch, dass es ihr Spaß machte.

»Er ist fort, dein Riese.« Binajatja hatte Mino im Blumengarten gefunden, den Alika angelegt hatte. Dort saß sie auf einer Bank – es war seit längerem Norhas Sitzplatz, am Abend, wenn er sich im Schein der untergehenden Sonne dort ausruhte – und zerpflückte eine dunkelrote Blüte. Die Blumen des Herbstes strahlten in warmen, dunklen Tönen. Alika ließ diesem Garten ebenso viel Pflege angedeihen wie ihrem eigenen, doch da dieser viel größer war, übertrumpfte er ihr bescheidenes Gärtchen bei weitem.

Binajatja räusperte sich. »Ich habe einige Entscheidungen getroffen, während deiner Abwesenheit. Ich arbeite jetzt viel enger mit der Fürstenfamilie von Neiara zusammen. Das kommt beiden Inseln zugute. Wir lassen unsere Händler zusammen reisen und von Wachen begleiten, das ist für uns beide vorteilhaft, vor allem da wir größtenteils dieselben Märkte beliefern. Durch Norha ist dieser Schulterschluss noch enger geworden. Er hofft natürlich darauf, all das hier einmal zu übernehmen. Aber es ist unser Land, Mino. Es sind unsere Gärten, seit Jahrhunderten. Ich habe nicht vor, Arima an Neiara zu übergeben.«

»Natürlich nicht.«

»Ich habe in Erwägung gezogen, ihn zu heiraten.«

Jetzt war Mino doch überrascht. »Ist das dein Ernst?«

»Ich sage nur, ich habe darüber nachgedacht. Aber was würde es nützen? Ich bin zu alt, um noch Kinder zu bekommen, und wenn ich sterbe und er sich eine jüngere Frau nimmt, was bleibt dann von unserer Familie übrig? Außerdem ist Res Leiche nie gefunden worden. Das ist natürlich bei vielen Fischern so und sie werden einfach nach einem Jahr für tot erklärt, aber bei Re war das immer etwas anderes. Die meisten Leute hier wollen nicht glauben, dass er tot ist. Sie haben sich ja sogar geweigert, einen neuen Fischerkönig zu wählen … Wenn ich heiraten würde, würde man mich eine Ehebrecherin schimpfen. Aber jetzt, da du hier bist, ist das Problem gelöst. Du wirst Norha heiraten, Mino. Du wirst dafür sorgen, dass Arima in der Familie bleibt.«

Mino fiel vor Schreck die Blume aus der Hand. »Was?«

Binajatja nickte, zufrieden mit ihrem Plan. »Es ist die ideale Lösung. Du bist mein einziges Kind, Mino. Ich habe niemanden sonst, der unsere Plantagen erben kann. Nur dich. Und Norha hat das Wissen und die Fähigkeit, die Gärten zu pflegen und den Verkauf zu leiten. Ich habe bereits mit ihm darüber gesprochen. Er hat zugegeben, dass er sich Hoffnungen gemacht hat, die Gärten eines Tages ganz zu übernehmen, und ihm war auch klar, dass diese Hoffnung mit deiner Rückkehr zuschanden wurde. Eure Heirat würde seine Stellung hier festigen und ihn seinem Bruder, dem Fürsten Wikant, ebenbürtig machen. Er sieht die Vorteile dieser Verbindung.«

»Norha möchte mich heiraten?«, fragte Mino entsetzt.

»Ich habe nicht gesagt, dass er es möchte, oder dass er begeistert darüber wäre. Aber es ist eine sinnvolle Entscheidung zum Besten aller. Norha ist ein sehr vernünftiger Mann. Andere hätten sich eine Bedenkzeit erbeten oder versucht, weitere Vorteile herauszuschlagen. Er hat jedoch recht schnell zugestimmt. Ich habe den Verdacht, dass er dieselbe Idee hatte, bevor ich sie ausgesprochen habe.« Binajatja ließ sich zu einem Begeisterungssturm hinreißen. »Ach, Mino, ich bin so froh, dass du da bist. Jetzt wird doch noch alles gut. Du wirst heiraten. Ich habe nie erwartet, dass das wirklich eintritt, obwohl eine Mutter die Hoffnung natürlich nie aufgibt.«

»Mutter, aber ich – ich kann nicht heiraten!«

»Und warum nicht?«, fragte Binajatja. Ihr kurzer Gefühlsausbruch war vorbei. Sie betrachtete ihre Tochter mit gerunzelter Stirn.

»Ich bekomme ein Kind.«

»Ach.« Die Augen der Apfelkönigin funkelten zornig auf. »Und wann gedachtest du mir das mitzuteilen?«

»Ich – ich habe nur auf den richtigen Moment gewartet …«

Binajatja stieß wütend die Luft aus. »Ein Riesenkind womöglich?«

»Nein! Ich habe dir doch gesagt, dass Keta wie ein Vater für mich …«

»Wie wird es aussehen?«, unterbrach Binajatja sie ungeduldig. »Du hast Norha gesehen. Rötliches Blond. Irgendetwas in die Richtung?«

»Ein – ein Zintakind.«

Binajatja konnte kaum an sich halten. »Wie dumm bist du eigentlich? Du lässt dir ein Kind machen und dann kommst du her – warum um alles in der Welt? Warum bist du nicht gleich bei diesen Spielleuten und Tagedieben geblieben? Hatten sie keine Lust, dich durchzufüttern? Aber deine Mutter wird es schon richten, hast du gedacht, wie? Du brauchst nur hier angekrochen zu kommen und alles wird gut. Wie konntest du das tun, Mino! Wie kannst du mir das antun? Denkst du denn nie an andere – wenigstens hin und wieder mal? Denkst du nie an das, was andere über uns denken, und wie mich deine Handlungen betreffen könnten?«

Binajatja ballte vor Wut die Fäuste und Mino zuckte zurück, in Erwartung eines Schlags, der jedoch nicht kam.

»Du hast dir diese Suppe eingebrockt«, sagte ihre Mutter. »Jetzt löffle sie gefälligst auch wieder aus. Sei still, ich muss einen Augenblick nachdenken.«

Mino hielt den Kopf gesenkt. Sie schaute auf ihren Bauch. Ja, man sah es schon ein wenig. Mein Kind. Mein süßes, kleines Kind …

Auf einmal sah sie Blitz vor sich. Sie hatte sich verboten, an ihn zu denken, aber plötzlich stand sein Bild wieder vor ihr. Wie er im Palastgarten dagestanden hatte, sein schwarzes Haar, die dunklen Augen, wie er sie, als sie sich ihm an den Hals warf, umarmt hatte. Was er ihr zugeflüstert hatte … Nein. Sie erlaubte sich nicht, es zu denken, sich daran zu erinnern. Und doch gab sie der Versuchung nach, sie konnte nicht anders. Sie wollte nicht weinen, über sich und über ihr Kind und ihre kalt planende Mutter, deshalb wandte sie der Trauer den Rücken zu und dachte an das Glück. Das Glück hatte einen Namen: Blitz. Und es war kurz, wie ein Blitzstrahl während eines tosenden Gewitters, flüchtig, nicht greifbar, und fuhr einem doch durch und durch … Dieser wunderbare Moment des Glücks, dieser herrliche Augenblick, in dem sie ganz gewesen war und alles wiederfand. Dieser Atemzug, dieser Herzschlag, in dem die ganze Welt vollkommen war.

Ich werde nicht sterben, dachte sie. Mein Unglück wird mich nicht in die Knie zwingen. Ich habe etwas, was niemand mir nehmen kann.

Blitz, ich liebe dich. Ahinehl.

Binajatja hob den Kopf. »Es muss sterben. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Was?« Und auf einmal war sie wieder Möwe. War sie wieder das Mädchen, das sich sogar zutraute, einem wütenden Riesen in den Arm zu fallen. »Nein. Oh nein. Wenn das alles ist, was dir einfällt, dann gehe ich.«

»Du kannst nicht gehen! Ich erlaube es nicht! Kein Händler wird dich mitnehmen, wenn ich es nicht erlaube!«

»Die Fischer schon.« Wütend hielt sie dem strafenden Blick ihrer Mutter stand. »Ich wünschte, ich wäre nie hergekommen.«

Binajatja schwenkte sofort um. »Wenn du das so siehst … Aber was sollen wir tun? Kein Mann würde eine Frau heiraten, die ein Kind von einem anderen hat, das ist dir doch wohl klar? Sein Bruder würde Norha die Heirat mit Sicherheit verbieten … Nein, wir müssen anders vorgehen. Er darf dich nicht mehr sehen, bis das Kind da ist.« Binajatjas Gesicht glühte auf, während sie laut dachte. »Und sonst auch niemand. Es darf nicht den Schatten eines Gerüchtes geben. Du bleibst also im Haus … Bei Rin, konntest du nicht warten, bis das Kind da ist, bevor du hergekommen bist? Du hättest es bei den Zintas lassen können … Nun müssen wir uns etwas anderes ausdenken. Du wirst es kriegen und niemand wird wissen, dass du schwanger warst. Vielleicht könnte ich Norha so lange wegschicken. Ich muss mir irgendetwas ausdenken, warum er dich nicht sehen kann. Wir müssten dich verstecken, bis es da ist … Und du würdest mir versprechen, dass niemand dich sieht? Dass niemand es erfährt? Würdest du mir das bei deinem Leben und dem Leben deines Kindes versprechen?«

Mino zögerte.

»Du bist hier nicht bei deinen Zintas«, sagte Binajatja. »Ich denke mal, diese Leute kümmern Ehre und Anstand wenig. Aber hier bist du auf einer kleinen Insel, wo jeder jeden kennt. Ein uneheliches Kind – weißt du, was das hier heißt? Sie werden sich das Maul zerreißen. Sie werden dich verachten.«

»Das halte ich aus.«

»Das sagst du jetzt. Du hast keine Ahnung davon, wie es werden könnte. Mino, alle sehen hier auf uns. Nimm Vernunft an. Niemand darf davon erfahren, oder wir werden unseres Lebens hier nicht mehr froh. Kannst du das nicht einsehen? Du musst es heimlich bekommen, und wenn das Kind weg ist, könnt ihr heiraten.«

Mino starrte ihre Mutter an. »Wie, wenn mein Kind weg ist?«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass du es behalten kannst? In den Klöstern nehmen sie Bastarde auf … Nun, wir haben ja noch ein paar Monate Zeit, um eine gute Lösung zu finden.«

Immer wieder legte Mino ihre Hand auf ihren Bauch und horchte nach innen. Sie fühlte die Bewegungen des Babys, noch ganz sanft, und doch erschauerte sie vor Glück, bei jedem zaghaften Tritt.

»Aber das ist doch mein Kind!«, begehrte sie auf. »Ich will es nicht weggeben! Ich will es behalten, ich will es sehen, ich will nicht, dass es irgendwo in einem Kloster landet und mich nicht kennt!«

»Das hättest du dir früher überlegen müssen«, sagte Binajatja. »Wenn du eine glückliche Familie wolltest, warum hast du dann nicht einen ordentlichen jungen Mann geheiratet? Ja, Spaß haben wollen sie alle. Aber was ist dann? Sei froh, dass wir dich, wenn alles gut geht, doch noch verheiraten können. Mit Norha kannst du so viele Kinder haben, wie du willst.« Sie seufzte. »Ach, Mino. Ich brauche dich, meine Tochter. Sehr dringend. Du bist alles, was von unserer Familie übrig ist. Du und ich. Wir beide tragen die Verantwortung für ganz Arima. Es ist unsere Pflicht, das Richtige zu tun.« Sie lächelte. »Und glaub mir, am Ende bist du mir dankbar für alles. Du bekommst einen Mann, dem es nichts ausmacht, wie du aussiehst, und eine Familie. Du bekommst ganz Arima für dich und deine Nachkommen. Mehr kann niemand vom Leben erwarten.«

Mino nickte langsam. Sie war hergekommen, um ihre Pflicht als Tochter zu erfüllen. Sie war hier, um den Gedanken an Blitz auszulöschen. Dass sie Norha heiraten sollte, war ihr zu ihrem eigenen Erstaunen völlig gleichgültig. Blitz hatte eine Frau. War es da nicht ganz egal, wen sie zum Manne nahm?

»Gut. Dann wäre das ja geklärt. Nun muss ich mir nur noch etwas ausdenken, um Norha von dir fernzuhalten.« Sie streichelte über Minos weißes Haar. »Lächle doch wieder, meine Kleine. Wir haben jetzt nur noch uns, verstehst du? Ich bin deine Mutter. Ich sorge dafür, dass alles gut wird. Vertrau mir.«

Mino fühlte, dass ihre Mutter sie wirklich liebte. Sie konnte es manchmal nicht so gut zeigen, aber sie liebte sie, wie nur eine Mutter ihr Kind lieben kann. Mino wusste das, wenn sie das kleine lebendige Wesen in ihrem Bauch fühlte – es gab keine Verbindung, die so stark war wie diese.

Mino erschrak, als sie den Kies auf dem Gartenweg knirschen hörte. Sie hatte sich in den Garten zurückgezogen, obwohl sie doch im Haus bleiben sollte, aber seit ihren Wanderungen mit Keta hielt sie es nicht lange unter einem Dach aus. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass jemand in den Garten kommen würde, und nun musste sie es irgendwie schaffen, ungesehen zurück in ihr Zimmer zu kommen.

»Mino? Bist du das?« Alikas fröhliche Stimme lockte Mino zwischen den Sträuchern hervor, zwischen denen sie sich versteckt hatte. Es war zwecklos, sich vor der Gärtnerin verbergen zu wollen. Alika würde nicht so schnell wieder gehen.

Alika sah noch genauso aus wie vor drei Jahren und vielleicht noch schöner. Damals hatte die Sorge um Blitz eine Falte zwischen ihre Augen getrieben, doch jetzt wirkten ihre Züge weich und glücklich. Sie umarmte Mino voller Herzlichkeit.

»Oh Mino! Wie schön, dass du wieder da bist! Wie wunderbar! Als ich gehört habe, dass du lebst und dass du zurückgekommen bist, war das ein Festtag für mich. Ich wollte schon gestern herkommen, aber deine Mutter sagte, du bräuchtest Ruhe nach der anstrengenden Reise.«

»Ja, ich – ich war schon müde«, stammelte Mino. Erst jetzt merkte sie so richtig, wie sehr sie alle ihre Freunde vermisste. Das Haus war leer ohne Lexan. Und das Dorf war leer ohne Bajad, Jußait und Blitz. Und wie hätte man auf Arima leben können, ohne hin und wieder in Alikas Küche zu sitzen?

»Aber du siehst gut aus. Ein bisschen erwachsener, reifer – was du doch für ein hübsches Mädchen bist, Mino! Was ist – kommst du gleich mit zu uns? Ich wollte hier nur ein paar Stauden beschneiden und die trockenen Blüten abzupfen. Deine Mutter legt Wert darauf, dass alles ordentlich aussieht, und seit Norha hier ist, darf nicht einmal ein Blatt auf dem Weg liegen … Möchtest du mitkommen? Ich koche uns etwas Schönes und du erzählst, wie es dir ergangen ist seit jener Sturmnacht.«

Mino wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie sehnte sich so sehr nach Alikas Haus und ihrer gemütlichen Küche. Alika würde ihr zuhören, das wusste sie, ihr würde sie alles erzählen können – aber sie hatte geschworen, dass niemand sie zu Gesicht bekam.

»Ich würde gerne, Alika, wirklich, aber ich kann nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Alika frei heraus. »Jati ist noch nicht da, er kommt etwas später. Er freut sich auch schon darauf, dich zu sehen. Wenn ich es richtig verstanden habe, hast du Blitz in Kirifas getroffen? Das musst du uns unbedingt erzählen! Wir könnten es uns so richtig bequem machen, wir …«

Mino unterbrach sie nur ungern. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich tausend Qualen wider. »Ich kann nicht.«

»Und ich habe hier noch eine Nachricht für dich, von diesem Riesen, der bei uns war. Er hat uns einen Brief von Blitz gebracht und gleich wieder Briefe hiergelassen – für dich und auch einen für Blitz, falls er hierhin zu Besuch kommt! Hier ist deiner.« Alika reichte ihr eine versiegelte Rolle.

»Gib sofort her!«

Binajatjas strenge Stimme hallte durch den ganzen Garten. »Was soll das sein? Ein geheimer Treffpunkt?« Binajatja riss ihr die Rolle aus der Hand. Mino konnte sehen, dass nur ein einziger Satz auf dem Papier stand. Ihre Mutter zog die Brauen hoch und überreichte ihr Ketas Botschaft.

Möwe – erwähne Alika und El Jati gegenüber niemals Blitz’ Frau.

Keine Abschiedsworte. Kein Trost. Nur diese rätselhafte Anweisung. Mino schluckte. Es klang nicht einmal wie eine Bitte, sondern mehr noch wie ein Befehl. Seine Handschrift verriet ihr, wie aufgeregt er gewesen war, als er das geschrieben hatte.

»Und jetzt«, sagte Binajatja streng, »geh ins Haus.«

Mino ließ Alika stehen und ging rasch aufs Haus zu. Am Gartentor drehte sie sich noch einmal um, um der überraschten Freundin wenigstens noch ein Lächeln zu schenken, wenn sie auch nichts sagen durfte. In diesem Moment strich ein leichter Wind vorbei und drückte ihr feines, weites Kleid gegen ihren Körper.

»Du bist ja schwanger!«, rief Alika aus. »Oh Mino, das wusste ich nicht!«

»Still!«, zischte Binajatja. »Sei bloß still, Alika. Du hast dich getäuscht, Mino ist einfach nur nicht mehr so schlank wie früher. Geh rein, Mino, aber sofort.«

Alika war ihr bis an die Pforte gefolgt. »Oh wie schön, Mino! Warte doch!«

Binajatja hielt sie auf, so dass sie dem Mädchen nicht ins Haus nachgehen konnte. »Sei endlich still, Alika! Wenn du nicht sofort deinen Mund hältst, entlasse ich dich und El Jati aus meinem Dienst! Hast du gehört?«

Alika starrte sie an. »Was? Aber warum?«

»Warum? Es geht dich nichts an, warum. Misch dich nicht in unsere Familienangelegenheiten ein, Alika, ich warne dich. Du hast dich getäuscht. Und du wirst mit niemandem darüber sprechen, nicht mit deinem Mann, nicht mit deinen Freunden, mit keinem. Ist das klar?«

Alika war keine Frau, die sich einschüchtern ließ. »Was hast du mit deiner Tochter vor, Binajatja? Sie ist schwanger, das habe ich genau gesehen. Das kommt in den besten Familien vor. Und? Dann bekommt sie eben ein Kind. Wie willst du das auf dieser kleinen Insel vertuschen? Indem du mir den Mund verbietest? Versuch nicht, mir zu drohen. Ich entscheide selbst, mit wem ich über was rede.«

Binajatja war blass vor Wut. »Du wagst es, so mit mir zu sprechen? Wenn ich euch entlasse, habt ihr nichts mehr!«

»Du kannst deine Tochter nicht daran hindern, mit ihren Freunden zusammen zu sein«, beharrte Alika. In ihren dunklen Augen war keine Furcht, sie wich keinen Fingerbreit zur Seite. »Du kannst sie doch nicht gerade jetzt einsperren! Sie braucht Luft und Sonne und den Duft dieses Gartens und das Meer und die Bäume. Und Menschen an ihrer Seite. Wer wüsste das besser als ich? Man ist so empfindlich in dieser Zeit … Mino ist meine Freundin und ich werde nicht dabei zusehen, wie du ihr diese wunderbaren Monate verdirbst!«

»Ach ja«, sagte Binajatja langsam. »Du bist ja auch schwanger, nicht wahr, Alika?«

»Ja, das bin ich«, sagte Alika stolz.

»Im Frühjahr? Hast du mir das nicht vor ein paar Wochen gesagt? Im Frühjahr, nicht?«

»Lenk jetzt nicht ab, Binajatja!«

»Ich lenke nicht ab, ich denke nach.« Kurz entschlossen hielt Binajatja die Tür auf. »Komm rein, Alika. Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«

Mino hatte fast vergessen, wie mild der Winter auf Arima war. Zu einer Zeit, in der sie davon träumte, mit Keta durch den Schnee zu stapfen, saß sie draußen im Garten und trank den süßen Früchtetee, den Alika für sie beide regelmäßig kochte. Stundenlang redeten sie miteinander. Seit Jati befördert worden war – als Folge ihrer Vereinbarung mit Binajatja –, brauchte Alika kaum noch zu arbeiten. Sie kümmerte sich um Binajatjas Blumen, aber die meiste Zeit sorgte sie sich um Binajatjas Tochter.

Der Winter bescherte ihnen einen blassen, wolkigen Himmel, unter dem alle ihre Bewegungen sanft und verträumt wurden. Kugelrund saßen sie nebeneinander und spielten das Spiel: »Wessen Baby sich zuerst bewegt, der hat gewonnen«.

»Denkst du viel an Norha?«, fragte Alika.

Mino lächelte. »Es überrascht dich vielleicht, aber das tue ich tatsächlich.« Immer, wenn Blitz vor ihr auftauchte, wischte sie sein Bild entschlossen fort und dachte an Norha. Immer, wenn Blitz’ schwarze Augen sie in ihren Träumen anschauten, gab sie sich einen Ruck und erinnerte sich an ihr letztes Gespräch mit Norha, bevor er abgereist war.

Sie hatte sich in weiser Voraussicht an den Esstisch gesetzt, so dass die Holzplatte ihren Bauch verbarg. Als Norha vor sie hintrat, bemühte sie sich, ihn anzusehen. Es fiel ihr schwer; irgendwie glitt ihr Blick ständig an ihm vorbei, an seinem glatten Gesicht, seinen Augen, die auf sie so merkwürdig zurückhaltend wirkten. Wie anders waren Blitz’ Blicke gewesen! Dunkel und feurig, und wenn er einen Raum betrat, dann erfüllte er ihn ganz mit seiner bloßen Anwesenheit. Dagegen war es leicht, Norha zu übersehen oder zu vergessen, dass er da war oder dass es ihn überhaupt gab.

Zögernd setzte er sich ihr gegenüber, die Verlegenheit glühte auf seinen Wangen rot auf.

»Deine Mutter meint, ich sollte in Drian und Sitra Verhandlungen über die Zollgebühren führen. Von meinem Bruder Wikant nehmen sie anscheinend nicht so viel wie von uns. Er ist ein geschickter Verhandlungspartner. Ich hoffe«, Norha räusperte sich, »dass ich etwas für Arima tun kann. Deine Mutter sagte mir, dass sie das als mein Geschenk zu unserer Hochzeit betrachtet.«

Sie versuchte, ihn wahrzunehmen, aber selbst der Tisch, an dem sie saß, schien ihr wirklicher als dieser rotwangige Mann. Sie wusste nicht einmal, welche Farbe seine Augen hatten. Vielleicht war der Traum zu stark, vielleicht war alles andere in ihr zu gewaltig und überwältigend: das Kind, die verlorene Liebe, zu viele Sehnsüchte, zu viele Gefühle.

Norha nahm sichtlich all seinen Mut zusammen. »Du musst mich nicht heiraten, Mino«, sagte er, »wenn du nicht willst.«

Sie hörte die Furcht in seiner Stimme – vor Ablehnung, aber auch vor Zustimmung, vor allem, was auf ihn zukam. Und auf einmal konnte sie ihn sehen. Er hatte ein freundliches, unauffälliges Gesicht, von Furcht und Unsicherheit überschattet.

Er war ein Gegenüber, ein Mensch, dessen Wirklichkeit die ihre berührte. Und sie würde ihn nicht belügen. »Norha«, begann sie. »Ich muss dir etwas sagen. Es gibt einen Grund, warum du gerade jetzt abreisen sollst.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, gab er zu. »Ich dachte – vielleicht willst du die Hochzeit hinauszögern?«

Sie sah ihm in die Augen. Sie waren grünlich, mit braunen Flecken gesprenkelt.

»Ich bin schwanger, Norha«, sagte sie. »Deswegen schickt meine Mutter dich fort.« Sie wartete auf seine Reaktion.

Er senkte den Blick auf die Tischplatte. Die Röte in seinem Gesicht stieg höher und kroch über seine Stirn bis zu den Haarwurzeln.

Sie lachte leise. »Meine Mutter hat sich so bemüht, dass du nichts erfährst. Und jetzt sage ich es dir einfach. Bist du nicht entsetzt?«

»Möchtest du jetzt schon heiraten?«, fragte er leise.

Dieses Angebot überwältigte sie, eine Welle von Zuneigung überflutete sie.

»Danke – aber man wird sehen, dass du nicht der Vater sein kannst. Es wird dunkel sein. Alika wird es als ihr Kind aufziehen, zusammen mit ihrem eigenen.«

Er nickte. »Das klingt nach einer guten Lösung. Dann hast du es ganz in der Nähe. Und auf deinen guten Ruf fällt kein Schatten.« Seine Augen streiften ihre helle Haut. Es fühlte sich fast an wie eine Berührung.

Der Erbe des Riesen

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