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5. Ein besonderes Kind

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I L I N I A SM A C H T EE I N E NSchritt zurück. Sie hielt die Lanze mit beiden Händen, ihre Augen funkelten vor Entschlossenheit und Angriffslust.

Sarika nickte ihr zu. Ihre Lippen formten ein einziges Wort: Jetzt.

Ilinias stürmte vorwärts, aber die ältere Kriegerin hatte ihre Deckung gut aufgebaut – Schild, Lanze und Brustpanzer bildeten ein undurchdringliches Hindernis. Sie wehrte das Mädchen mühelos ab. Ilinias hatte damit gerechnet; dieser Angriff war nichts als eine Finte, um ihre Lehrerin, die ihr oft vorwarf, zu ungestüm zu sein, in Sicherheit zu wiegen. Sie ließ sich zur Seite fallen und stieß dabei mit der Lanze zwischen Sarikas Knien hindurch; eine geschickte Drehung genügte, um die Amazone zu Fall zu bringen.

Lachend richtete Ilinias sich auf, doch im selben Moment schwankte sie. Sie spürte, wie eine Welle von Übelkeit sie zu überwältigen drohte, und ohne auf Sarika zu achten, die ihr etwas zurief, stürzte sie davon.

Sie schaffte es nicht mehr in den Palast, sondern erbrach sich hinter einer Hecke. Mit zittrigen Beinen stand sie auf.

»Wie lange geht das schon so?« Sarika war ihr gefolgt.

»Oh nein«, murmelte Ilinias. »Warum läufst du mir nach?«

»Vielleicht, weil ich sehen möchte, was eigentlich mit dir los ist? Antworte mir. Wie lange schon? Wie weit bist du?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, meinte Ilinias mürrisch. »Mir war bloß schlecht. Ich habe wohl etwas Falsches zum Frühstück gegessen.«

»Wir werden das Training beenden.«

»Nein! Nein, Sarika, das kannst du nicht tun! Bitte!«

Die schwarzhaarige Kriegerin schüttelte den Kopf. »Ich kann keine Schülerin gebrauchen, die mich belügt.«

»Aber ich belüge dich doch gar nicht! Ich dachte nur … ich fand nur, es geht noch. Ich bin ja nicht krank!«

»Wir spielen nicht, wir kämpfen«, erinnerte Sarika sie. »Meine Güte, Ilinias, bist du verrückt? Wem willst du hier eigentlich was beweisen? In der Palastwache kann ich keine Schwangere gebrauchen.«

»Ich bin nicht schwanger«, knurrte Ilinias.

»Ach nein?« Sarika seufzte. »Weiß Blitz es schon? Ach, dumme Frage. Er würde dich nicht kämpfen lassen, wenn er es wüsste, das ist mir klar. Und dir erst recht.« Sie legte dem Mädchen die Hand auf den Arm. »Ilinias! Mach nicht solch ein Gesicht! Sobald du dein Kind bekommen hast, machen wir weiter. Und mit dem Stillen müsstest du natürlich auch fertig sein, es kämpft sich schlecht mit Milch in den Brüsten. Alles in allem macht das etwa ein Jahr. Oder anderthalb.«

»Ein Jahr«, stöhnte Ilinias unglücklich.

»Das geht schnell vorbei«, versicherte Sarika. »Wenn du dir eine Amme nimmst, geht es sogar noch schneller.«

»Natürlich nehme ich mir eine Amme! Aber bis dahin soll ich hier herumsitzen und Däumchen drehen? Das macht mich verrückt! Oh bitte, Sarika, kann ich nicht irgendetwas anderes lernen? Vielleicht Bogenschießen? Ich könnte doch schießen lernen, oder nicht? Du hast mir gesagt, dass das auch noch in meiner Ausbildung vorkommen wird.«

Sarika lächelte auf einmal. »Du gibst wohl nie auf, wie? Aber du hast recht. Du brauchst nicht herumzusitzen. Wir werden dich anders weiterbilden, ich werde mir darüber Gedanken machen, was alles möglich ist. Und dafür versprichst du mir, es sofort deinem Mann zu sagen. Und das meine ich auch so. Jetzt. Sofort.«

»Ja, sicher«, versprach Ilinias, »ich wollte es ihm ja sowieso sagen.«

Sie legte Sarika die Lanze in die ausgestreckten Hände.

»Ihr seid so ein schönes Paar«, meinte die Amazone. »Was wird das für ein hübsches Kindchen werden.«

»Ja«, stimmte Ilinias aus reiner Höflichkeit zu. Mit immer noch wackeligen Knien ging sie Blitz suchen.

Keine Kinderfrau kam gegen Maninas Liebe zu Blitz an. Sie war damit einverstanden gewesen, die Kaiserin »Mama« zu nennen, doch es dauerte lange, bis die Riesenfrau das Vertrauen des kleinen Mädchens gewann. An Kanuna El Schattik, ihren Vater, gewöhnte sie sich etwas schneller, doch ihr »Papa« war Blitz und blieb es auch. Vielleicht spürte sie, dass die beiden Riesen sie am liebsten aus den Armen ihres Lieblingsmenschen gerissen und an ihr Herz gedrückt hätten, denn immer wieder zeigte sie ihr Misstrauen sehr deutlich und rief nach Blitz, wenn er ihrer Meinung nach zu lange fort blieb. Die Kinderfrauen, die zu ihrer Betreuung berufen waren, hatten keine Chance, und selbst als sie zu akzeptieren lernte, dass Blitz ihr nicht pausenlos zur Verfügung stand, gehörte ihre ganze Liebe nur ihm. Alle anderen ließ sie spüren, dass sie nur Lückenbüßer waren, mit denen sie sich aus reiner Gefälligkeit abgab. Sie war eine Prinzessin durch und durch.

An diesem Morgen, als Ilinias Blitz suchte, um ihm mitzuteilen, dass sie ein Kind erwartete, war er mit Manina im Stall, um die Pferde zu streicheln. Maninas Prioritäten waren klar: an erster Stelle stand bei ihr Blitz, dann die Pferde, dann Ilinias und danach ihre richtigen Eltern. Eine besondere Vorliebe hatte sie auch für Kroa, den Zwerg. Obwohl sie ihn nur zwei- oder dreimal bei seinen seltenen, aber regelmäßigen Besuchen zu Gesicht bekommen hatte, war er einer der wenigen, für die sie bereit war, Spielsachen oder Süßigkeiten zu teilen. Auch jeder, der im Stall arbeitete, hatte die Gelegenheit, ihr Herz zu erobern. Manch ein Stallbursche schmeichelte sich bereits jetzt nach Kräften bei ihr ein; man konnte nie wissen, ob einem das nicht langfristig handfeste Vorteile verschaffte.

Blitz führte das große braune Pferd über den Hof, dieses Pferd, mit dem sie von Salien aus bis nach Kirifas geritten waren. Kein edleres Ross, kein niedliches kleines Pony bedeutete Manina mehr. Sie war, was ihre Zuneigung betraf, absolut treu.

»Blitz!«

Der junge, schwarzhaarige Mann, der den Braunen führte, sah auf, als er seine Frau hörte. Ihn wunderte ein wenig, dass sie mit ihren Kampfübungen schon fertig war. Ilinias bekam nie genug davon, selbst wenn sie sich danach mit blauen Flecken und Muskelkater durch die Flure schleppte. In ihr war ein solches Bedürfnis nach Kampf, dass er sich manchmal wunderte, wie sie ihre Klosterzeit überhaupt überstanden hatte – und dass die Menschen in ihrer Umgebung das überlebt hatten.

Ihr blondes Haar löste sich aus dem Zopf, den sie sich immer zum Kämpfen flocht. Ihre Beinkleider waren an den Knien zerrissen und ihre dunkelrote Tunika machte nicht alle Flecken unsichtbar. Keine der Wachen sah so abgerissen aus wie sie, aber die Alternative wäre gewesen, ihr zu jeder Übungsstunde neue Kleidungsstücke zu geben. Wenn sie kämpfte, gab Ilinias alles und achtete nicht darauf, wie sie aussah.

»Weiter!«, befahl Manina. Aber Blitz stand da wie angegossen, während er Ilinias betrachtete. Er war nicht der Einzige; ihm entging nicht, dass auch einige andere Männer in ihrer Arbeit innehielten, um die schönste Frau zu beobachten, die des Kaisers Hof zu bieten hatte. Seine Frau. Keine der sittsamen Fürstinnen und Fürstentöchter am Hof konnte ihr das Wasser reichen, keine Prinzessin und keine Magd. Schöne Gesichter gab es zuhauf, vielleicht sogar schönere, doch keine andere Frau war von einer solchen Aura von Kraft und Lebendigkeit umgeben. Ilinias hatte recht damit gehabt, dass sie nicht an diesen Hof passte – obwohl sie nicht groß war, wirkte jeder Raum zu klein für sie. Die höfischen Sitten langweilten sie nur und alle Versuche der Kaiserin, ihr ein paar Freundinnen zur Seite zu stellen, schlugen fehl, denn keines der adligen Mädchen konnte sich an Ilinias’ Art gewöhnen. Sie fühlte sich nur bei den Amazonen wohl und die Fürstentöchter fanden auch, dass eine Dahergelaufene, die nicht einmal den Namen ihrer Eltern kannte, nach draußen auf den sandigen Platz gehörte und nicht in die prunkvollen Säle. Während die weiblichen Palastbewohner heimlich von oben herab taten – Ilinias offen zu beleidigen wagte niemand –, wussten die Männer doch sofort, dass es eine Frau wie diese nur ein einziges Mal gab. Aber niemand wagte auch nur einen vorsichtigen Versuch, denn ihre strahlend blauen Augen unter den schwarzen Wimpern sahen allein Blitz an.

Die Beobachter fühlten den leisen Stich der Eifersucht, als sie Ilinias auf Blitz zutreten sahen. Sie konnten nicht hören, was sie miteinander redeten, aber sie sahen, wie das Mädchen, nachdem es seine Botschaft überbracht hatte, sich einfach wieder umdrehte und davonmarschierte. Blitz blieb wie vom Donner geschlagen stehen und starrte ihr nach. Und dann tat er etwas für ihn Ungewöhnliches: Er winkte einen Stallburschen heran und drückte ihm den Führungsstrick des Braunen in die Hand, und ohne auf Maninas Proteste zu achten, lief er seiner Frau nach.

»Haben sie sich wohl gestritten?«, fragten ein paar Dienstmädchen neugierig, die die Szene von weitem beobachtet hatten. Der Stallbursche, so unverhofft im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Blitz wirkte überhaupt nicht ärgerlich. Er sah eher aus, als würde er vor Freude in die Luft gehen.« Der Bursche nickte weise mit dem Kopf. »Ja, tatsächlich, also wenn ihr mich fragt, hatte sie eine richtig gute Nachricht für ihn. Er strahlte wie – wie …« Ihm fiel kein Vergleich ein. Schließlich schaute er das hübscheste Dienstmädchen an und ergänzte: »So wie ich strahlen würde, wenn du mit mir ausgehst.«

Ilinias wollte nicht schwanger sein. Sie hasste es, Rücksicht auf dieses Kind zu nehmen, das sie sich nicht einmal gewünscht hatte. Ohne sie zu fragen, hatte es sich in ihr eingenistet, ein fremdes Wesen, das ihren Körper als seine Wohnung beanspruchte und dem sie gegen ihren Willen Unterkunft und Nahrung gewähren musste. Ihr blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie fletschte die Zähne, wenn man sie freundlich fragte, wann das Baby zur Welt kommen sollte, und hoffte, dass die Leute es für ein Lächeln hielten. In ihr loderte die Wut auf ihren weiblichen Körper, der sie so schmählich verraten hatte. Natürlich hatte sie gewusst, wie Kinder entstehen, aber in ihrem Inneren hatte sie nicht daran geglaubt, dass es tatsächlich passieren könnte. Sie und Blitz. Mehr wollte sie gar nicht, mehr brauchte sie nicht zum Glücklichsein. Er war derjenige, der sich auf das Kind freute – aber warum musste sie dann diejenige sein, die dick und unförmig wurde, die mit Übelkeit, Rückenschmerzen und Sodbrennen zu kämpfen hatte? Sie wollte andere Kämpfe ausfechten, sie hatte den Ehrgeiz, die beste Kriegerin von allen zu werden und irgendwann zur persönlichen Leibwächterin der kaiserlichen Familie aufzusteigen, so wie Sarika. Sie wollte stark sein und gefährlich, eine ernstzunehmende Gegnerin, egal ob für einen Menschen oder einen Riesen. Wenn Zukata kam – und obwohl sie nie mit Blitz darüber sprach, war in ihr die Gewissheit, dass er irgendwann kommen würde, um sich für Blitz’ Verrat zu rächen –, wollte sie bereit sein.

»Ich werde Zukata töten«, sagte sie zu ihrer Meisterin. »Du musst dafür sorgen, dass ich so gut werde, dass ich ihn töten kann.«

»Du willst einen Riesen töten können?«, fragte Sarika und zog die Brauen hoch. »Du bist verrückt. Niemand tritt gegen einen Riesen an.«

»Nicht einmal eine Amazone?«

Sarika schüttelte den Kopf. »Wir nennen uns die Wächterinnen des Kaisers, aber du weißt selbst, dass er gut auf sich alleine aufpassen kann. Wenn er wollte, könnte er den ganzen Palast auseinandernehmen.«

Ilinias runzelte die Stirn. »Man kann einen Riesen besiegen, das weiß ich. Zukata hat es nicht geschafft, uns Manina wieder wegzunehmen.«

»Weil ihr geflohen seid.«

Ich werde nicht mehr fliehen, dachte sie, wenn sie die Armbrust spannte und den Pfeil fliegen ließ, nie mehr. Ich werde mich nicht mehr verstecken und verkleiden und auf der Flucht sein. Wer auch immer etwas von mir will, ich werde ihm entgegentreten …

Sarika hatte ihr mehrere Lehrerinnen zur Seite gestellt. Sie zeigten ihr verschiedene Griffe und Tricks, die im Nahkampf nützlich waren, aber wenn sie mit ihr Ringen übten, achteten sie sehr darauf, dass sie nicht fiel. Diese Rücksichtnahme steigerte Ilinias’ Wut noch. Sie hätte sich dieses Kind aus dem Leib gerissen, wenn sie nur gekonnt hätte. Der Zorn verlieh ihr Kraft. Mit nur wenigen Handkantenschlägen einen Gegner außer Gefecht zu setzen, bereitete ihr keine Mühe.

»Hör doch endlich mit diesen Übungen auf«, sagte Blitz. »Du sagst, es ist nicht gefährlich, aber wenn ich das so mitansehe …«

Es ärgerte sie, wenn er ihr zuschaute. Mit einem wuchtigen Schlag fällte sie ihre Lehrerin, die ebenfalls abgelenkt war.

»Verschwinde«, fauchte sie. »Ich kann jetzt nicht mit dir reden!«

Blitz schaute fassungslos zu. Er hatte gewusst, dass sie immer noch übte, aber dass es so zur Sache ging, damit hatte er nicht gerechnet. Ilinias’ Bauch war mittlerweile so groß, dass von ihren geschmeidigen, katzenhaften Bewegungen kaum noch etwas übriggeblieben war; bis zur Niederkunft konnte es jetzt nicht mehr lange dauern. Voller Sorge um seinen Nachwuchs war er davon ausgegangen, dass sie sich Ruhe gönnte, dass sie irgendwann selbst einsah, dass anderes nun wichtiger war. Es erschreckte ihn, mit welcher Rücksichtslosigkeit sie ihren Weg weiterging.

»Und ihr macht da auch noch mit?«, klagte er die beiden Kriegerinnen an, mit denen Ilinias hier zusammen war, die gestürzte, die sich gerade aufrappelte, und eine weitere, die amüsiert zugesehen hatte.

»Sie ist nicht krank«, sagte die Erste. »Sie bekommt bloß ein Kind.«

»Sag nicht zu viel, sonst landest du auch da im Dreck«, warnte die Zweite.

»Ilinias, bitte!«

Sie seufzte. Achselzuckend nickte sie den Frauen zu, die beide mehr ihre Freundinnen waren als gestrenge Erzieherinnen, die sich dazu berufen sahen, auf sie zu achten, und folgte Blitz in den Palast.

Er nahm sie bei der Hand. Sein Händedruck war fest. So, dachte sie wütend, führt er auch Manina ab, wenn sie unartig war.

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Er blickte sie nicht an wie ein ungehorsames Kind und doch fühlte sie sich so. Sie hatte keine Lust, sich irgendetwas anzusehen, aber sie sah die Freude in seinen Augen und wollte ihm den Tag nicht verderben. Schlimm genug, dass sie ihre schlechte Laune ständig an ihm ausließ; immer wieder wurde sie von Gewissensqualen überwältigt, weil sie ihn schlecht behandelte, und versuchte es mit besonders viel Freundlichkeit und Zärtlichkeit wettzumachen.

»Eine Überraschung?«, fragte sie.

»Ja, eine Überraschung. Ein Geschenk.«

»Ich liebe Geschenke.« Sie lächelte.

Ein Messer, das gut in der Hand lag, mit einer scharfen Klinge. Ein Schild, kriegerisch bemalt, eine gut ausbalancierte Lanze – solche Gegenstände ließen ihr Herz höher schlagen. Was hatte Blitz wohl für sie vorbereitet, um ihr eine Freude zu machen? Seine Aufregung steckte sie an, ihre Schritte wurden schneller. »Was ist es?«

Er öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. »Schau. Und, gefällt sie dir?«

Es war eine Wiege. Eine Wiege, aus Holz geschnitzt, die Seitenteile kunstvoll verziert. Ein kleines Kissen lag darin, eine Decke, sogar eine Rassel.

»Ach. Wie schön.« Das war ja gar nichts für sie. Es war für das Kind. Warum nannte er es ein Geschenk, wenn es für das Kind war? Alles, was sie tun musste, was sie essen sollte, was sie zu hören bekam, war für das Kind. Wann kommt es? Wie soll es heißen? Freust du dich schon sehr? Oh wie schön. Du wirst eine wundervolle Mutter sein. Hier, iss das, das wird dir und deinem Kind gut tun.

Niemand fragte danach, was ihr gut tat. Was sie wollte, was sie sich wünschte. Eine Reise nach Salien. Die Ausrüstung einer Leibwächterin. Die Fähigkeit, es mit einem Riesen aufnehmen zu können.

»Freust du dich?« Blitz schaukelte die Wiege, als läge das Kind bereits darin. »Fanes hat sie für uns in Auftrag gegeben. Es ist ihr Geschenk an uns. Ihre Frauen haben die Deckchen genäht und all das hier bestickt. Sie haben«, er zog sie am Arm zum Bett, wo ein Stapel Wäsche lag, »sie haben Kleidung gemacht. Winzige Jäckchen, schau her. Und sogar Söckchen und Mützen.«

»Hm.«

Er schaute sie an. Liebevoll zupfte er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ist das nicht wunderbar? Ich kann es kaum mehr erwarten.«

»Ich auch nicht.«

»Wirklich? Manchmal weiß ich nicht …« Er sprach nicht aus, was ihn beunruhigte.

»Doch, ich freu mich. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass es endlich auf die Welt kommt.« Das zumindest war nicht gelogen. Sie wollte es endlich aus ihrem Bauch heraushaben, sie wollte wieder sie selbst sein. Nie, so kam es ihr vor, hatte sie sich etwas mehr gewünscht.

»Die Liebe kommt«, versicherte ihr Blitz. »Das sagen alle. Sobald eine Mutter ihr Kind sieht, liebt sie es heiß und innig.«

Mutter. Wenn sie dieses Wort hörte, zuckte sie innerlich zurück. Sie war achtzehn. In diesem Alter hatten manche schon drei Kinder, aber andere, so wie die Amazonen, die ohne Mann lebten, waren weitaus älter und sehnten sich auch nicht nach den Freuden der Mutterschaft. Eine Kriegerin, das bin ich, dachte sie. Und mehr Worte brauche ich nicht, um mich zu beschreiben.

»Ich werde es lieben«, versicherte sie Blitz, lächelnd, denn sie wollte nicht, dass er sie so zweifelnd ansah. »Ich liebe es doch jetzt schon. Fast so, wie ich dich liebe.«

Es war nicht schwer, ihn zu belügen. Er glaubte ihr, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass es möglich war, ein Kind zu bekommen und dabei nichts zu empfinden als Zorn. Seine Welt war von Liebe erfüllt – zu ihr, zu ihrem ungeborenen Kind, zu Manina, ja, sie war sich sicher, dass er sogar den Kaiser und die Kaiserin ergeben und anhänglich liebte. Wenn sie merkte, wie anders sie dachte und fühlte, fürchtete sie oft, er könnte schlecht über sie denken und sie weniger lieben. Aber sie wollte von ihm geliebt werden. Alle anderen in diesem Palast waren ihr gleich. Nur seinetwegen war sie hier. Die Ausbildung zur Kriegerin hätte sie lieber in Salien erhalten als hier in Kirifas; wenn Blitz nicht gewesen wäre, hätte sie sich längst auf den Weg dorthin gemacht. Und nun, da sie ein Kind bekam, war der einzige Trost, dass ihn dieses Kind so glücklich machte, dass er sich darüber freute, als wäre noch nie ein Kind auf dieser Welt geboren worden. Manchmal, wenn sie sich kaum rühren konnte und sich wie eine Gefangene ihres eigenes Leibes vorkam, eingesperrt und gefesselt, sagte sie sich immer wieder vor: Es ist für Blitz. Es ist für ihn, er wird mich dafür umso mehr lieben. Es ist für ihn, und nun wird er erst recht nicht mehr an Mino denken. Wie ein Schatten lag diese Furcht über ihr, dass Blitz, der über alles geliebte, an dieses andere Mädchen denken könnte, mit dem er aufgewachsen war.

Manchmal war sie kurz davor, ihn zu fragen. Denkst du noch an sie, an die andere? Träumst du von ihr?

Mino. Ilinias brachte es nicht über sich, diesen Namen auszusprechen, wie ein Fluch schien er über ihr zu hängen, Quelle der Bitternis und des Zweifels. Durch nichts ließ Blitz erkennen, dass seine Liebe zu ihr nicht echt war, und doch konnte Ilinias jenen Sommertag nicht vergessen, an dem jenes andere weißhaarige Mädchen im Schlosspark erschienen und Blitz vor aller Augen umarmt hatte. Sich nur daran zu erinnern, bereitete Ilinias unerträgliche Qualen. Aber ich schenke ihm ein Kind, dachte sie voller Triumph, ich tue es und nicht sie.

»Ihr Lieben! Gefällt euch die Wiege?«

Es war die Kaiserin selbst, die durch die offengelassene Tür zu ihnen ins Zimmer trat.

»Vielen Dank, Hoheit. Ich kann es gar nicht erwarten, mein Kind dort hineinzulegen«, sagte Ilinias steif.

Fanes lächelte sie strahlend an. »Ich bin so gespannt! Ihr seid beide so verschieden, du dunkel, Blitz, du hell, Ilinias. Nach wem wird es geraten? Wie wird es aussehen und mit welchem Temperament wird es ausgestattet sein? Ach, es gibt doch nichts Spannenderes, als auf ein Kind zu warten.«

»Ja«, sagte Ilinias ohne Überzeugung.

»Verratet ihr mir denn auch endlich, für welche Namen ihr euch entschieden habt?«

»Für gute Ideen sind wir dankbar«, meinte Blitz. »Jeder hier im Palast überschüttet uns mit Vorschlägen, einer schöner und ausgefallener als der andere. Ich würde gerne die Namen meiner Eltern nehmen – Jakebeny für einen Jungen und Menik für ein Mädchen –, aber davon will Ilinias nichts wissen.«

»Ich habe keine Namen aus der Familie, die ich beisteuern könnte. Es ist irgendwie ungerecht, finde ich. Dann lieber einen Namen, der nichts mit Verwandtschaft zu tun hat.«

Fanes legte ihre Hand auf Ilinias’ Bauch. Auch das hasste sie. Was gab den Leuten das Recht, sie ständig anzufassen? Der Kaiserin konnte sie es nicht verbieten, aber schon manch ein anderer war von ihrer grimmigen Miene zurückgeschlagen worden.

»Ihr seid so wunderbare junge Menschen«, sagte die Riesenkaiserin. »So hübsch von Angesicht, so treu und loyal meiner Familie gegenüber … Ihr werdet ein wunderbares Kind bekommen, davon bin ich überzeugt.«

»Das sagen alle«, meinte Ilinias trocken.

»Nun, jede Mutter ist der Meinung, dass ihr Kind das Schönste von allen ist. Alle diejenigen, die euch Komplimente machen, denken doch, dass ihre eigenen Kinder unübertroffen sind. Doch euer Kind, wenn es alle eure Eigenschaften vereint …« Liebevoll blickte sie die beiden an.

Hinter ihr tauchte Kanuna El Schattik auf. Er hatte die letzten Worte seiner Frau gehört und nickte dazu.

»Die beiden können sich für keinen Namen entscheiden«, sagte Fanes.

Der Kaiser lächelte gütig. »Wenn ihr mir erlaubt …« Er trat näher. »Darf ich?«

Ilinias nickte. Es waren die von Rin gesegneten Hände, die er auf ihren gewölbten Leib legte, riesige warme Hände, in denen die Macht über das ganze Kaiserreich ruhte.

»Es ist uns eine Ehre«, stammelte Blitz überwältigt.

»Rins Segen über dieses Kind«, sagte Kanuna leise. »Er hebe sein Angesicht auf dich und erkenne dich … Dort drinnen bist du, Kind, geborgen in den Tiefen des dunklen Meeres, gesegnet und geliebt. Etwas Wunderbares, Einzigartiges wächst in dir heran, Ilinias. Ein einzigartiges Kind … Sollte das sein Name sein? Der Einzigartige. Sorayn. Ja, wenn es ein Junge ist, würde ich ihn Sorayn nennen. Soraya für ein Mädchen.«

»Danke«, sagte Blitz bewegt.

Ilinias, mit einem Mal überwältigt von ungewohnten Gefühlen, schwieg. Der Kaiser selbst hatte ihr Kind gesegnet – natürlich nicht mit dem großen Segen, der nur einmal verliehen werden konnte, sondern mit einem kleinen Segen, und nichtsdestotrotz war es ein kaiserlicher Segen. Auf einmal konnte sie sich doch vorstellen, ein Kind zu haben. Sie empfand es nicht als einen Teil von sich selbst. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie das Gefühl, dass dieses Lebewesen in ihr mit ihr verbunden war – aneinandergefesselt, das ja, das waren sie, auf Gedeih und Verderb –, aber immer war das Kind für sie ein Mensch, der nicht wirklich etwas mit ihr zu tun hatte. Doch nun, mit dem kaiserlichen Segen, wuchs in ihr die Erwartung, dass es ein Mensch sein würde, auf den sie stolz sein konnte.

Mitten in der Nacht erwachte Ilinias von Schmerzen, die sich mit überwältigender Macht durch ihren Leib wälzten. Es hatte schon am Vortag angefangen, aber sie hatte nichts gesagt, weil sie in den vergangenen Wochen schon öfter die Vorboten von Wehen verspürt hatte. Ruhig blieb sie liegen, während eine Welle von Schmerz sie überflutete. Sie versuchte weiterzuatmen, um sich nicht davon fortspülen zu lassen. Dies war ein Kampf, für den sie bereit war; sie würde sich nicht erlauben, stöhnend und jammernd zu unterliegen.

Als die Wehen in immer kürzeren Abständen erfolgten, berührte sie Blitz an der Schulter. Er war sofort wach.

»Ilinias? Geht es los?«

»Es ist schon gleich da«, verkündete sie. »Du kannst jetzt die Hebamme holen.«

Sie achtete nicht darauf, wie er hastig fortlief, und nahm kaum wahr, wie er mit der Frau zurückkam. Auch dass Blitz fortgeschickt wurde, interessierte sie in diesem Moment nicht mehr. Sie war so damit beschäftigt, nicht zu schreien, dass es nichts anderes mehr gab.

»Lass es raus«, sagte die erfahrene Wehmutter. »Du darfst dich nicht so verkrampfen, das macht es nur noch schwerer. Niemand wird schlecht von dir denken, wenn du schreist.«

Während die unvorstellbaren Schmerzen sie schüttelten, war ein Teil von Ilinias sich immer noch dessen bewusst, dass dies ein Kampf war, den sie unbedingt gewinnen musste. Sie würde nicht heulen und jammern, sie würde nicht weinen. Warum sollte irgendjemand so etwas auf sich nehmen, nur um ein Kind zu bekommen? Während sie litt, wunderte sie sich darüber, dass es Frauen gab, die dieses Leid willkommen hießen, weil sie sich auf das Kind freuten. Ilinias freute sich nur darauf, es endlich los zu sein. Sie wollte es aus sich herauspressen und es zugleich mit diesem fürchterlichen Schmerz von sich schleudern.

»Jetzt«, sagte die Hebamme. »Oh, ich sehe schon die schwarzen Haare … Jetzt musst du pressen, los, Mädchen, du schaffst das …«

Und dann der Schrei eines neuen Menschen, eine laute, fremde Stimme.

»Es ist ein Junge, sieh.«

Ilinias war trotz allem neugierig auf dieses Kind, das sie so lange mit sich herumgeschleppt hatte. Sie blickte es an und rechnete halb damit, dass vielleicht doch Muttergefühle in ihr hochstiegen und sie dieses Neugeborene zum schönsten Kind der Welt erklärte. Alle hatten ihr versichert, dass das passieren würde. Sie würde es sehen und vor Entzücken nicht aus noch ein wissen, und mit einem Schlag würde sie sich darüber freuen, Mutter zu sein.

Sie blickte es an.

»Sorayn, nicht wahr?«, fragte die Hebamme. Alle im Palast wussten davon, dass der Kaiser selbst diesem Kind einen Namen gegeben hatte.

Sorayn.

Das Kind war so abgrundtief hässlich, dass Ilinias fast in Tränen ausgebrochen wäre. Diese Ausgeburt der Nacht sollte sie schön finden? Das sollte ihr Kind sein, das ihr so viel Mühe gemacht hatte? Das Kind, das sie voller Stolz Blitz in die Arme hatte legen wollen?

»Wird er noch hübscher?«, fragte sie angstvoll.

Die Hebamme zögerte. »Nach der Geburt sind sie oft etwas zerknittert. Das gibt sich nach ein paar Tagen.«

Ilinias konnte sich nicht vorstellen, dass sie dieses Kind jemals schön finden könnte. Seine Haare waren schwarz und die Augen, mit denen es verträumt in die Welt hinausblinzelte, waren so himmelblau wie ihre eigenen. Aber dieses merkwürdige Gesicht mit der gewaltigen Nase und dem fliehenden Kinn, den grotesken Ohren und den wulstigen Augenbrauen – wie konnte ein Kind so aussehen? Es hatte einen kurzen, dicken Hals und einen breiten, unförmigen Körper. Seine zarten Ärmchen mündeten in klobige Hände, die ihm viel zu groß waren.

»Willst du es jetzt stillen?«, fragte die Hebamme freundlich.

»Hol die Amme«, bat Ilinias sofort. So schnell wie möglich wollte sie zurück zu den Amazonen.

»Ich würde dir raten, es selbst zu tun.«

»Das hatte ich aber nicht vor. Hol bitte …«

Auf einmal war Blitz im Zimmer. »Ist es da?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Hier. Ein Junge.« Die Hebamme hielt ihm das Neugeborene hin. Ilinias wartete darauf, dass er sich enttäuscht abwandte. Aber Blitz nahm das Kind freudestrahlend in den Arm und beugte sich zu ihr hinunter.

»Ich bin so froh«, sagte er zu ihr, »so sehr froh.«

»Er gefällt dir?«, fragte Ilinias ungläubig.

»Er ist wunderschön.« War er blind? Oder hatte er, um die Wartezeit zu überbrücken, zu viel getrunken? Sie schnupperte, aber an seinem Atem war nichts Verdächtiges, daran konnte es nicht liegen.

»Jetzt sind wir eine Familie.« Blitz küsste das winzige, das abstoßend hässliche Gesicht seines Sohnes.

Die Wehmutter brachte die Amme ins Zimmer. Blitz überreichte ihr vorsichtig den kleinen Jungen, aber sobald sie ihn angeschaut hatte, stieß sie einen Schrei aus und gab ihm Sorayn zurück.

»Das – das ist euer Kind?«

»Gerade eben geboren«, bestätigte die Hebamme.

»Das stille ich nicht.«

»Was?«, rief Ilinias entsetzt. »Wir hatten das aber vereinbart, wir …«

»Das Ding hier soll ich mit meinem eigenen Sohn an die Brust legen?« Die Frau schüttelte angewidert den Kopf. »Das tue ich nicht.«

Blitz funkelte sie zornig an. »Du weigerst dich, unserem Kind Milch zu geben?«

»Dann suchen wir uns eben eine andere Amme«, sagte Ilinias müde.

»Ihr werdet keine einzige Amme in ganz Kirifas finden, die dieses Ungeheuer an ihre Brüste lässt!«, rief die Frau.

»Wir hatten eine Vereinbarung!«

»Das ist mir egal!« Fort war sie. Vor Zorn stiegen Ilinias die Tränen in die Augen. Die ganze Zeit hatte sie sich beherrscht, alle Schmerzen hatte sie ausgehalten, aber diese Demütigung brachte sie zum Weinen.

»Ganz ruhig, mein Schatz«, sagte Blitz. »So ein garstiges Weib, gut, dass wir sie los sind. Wir finden eine andere.«

»Aber sie hat gesagt …«

»Und ich fürchte, sie hat recht«, ließ die Hebamme sich vernehmen.

»Was soll das heißen?«, fuhr Blitz auf. »Der Kaiser hat dieses Kind gesegnet und den Namen ausgesucht. Es wird genug Frauen geben, die erkennen, welche Ehre es ist, sich um unseren Sohn zu kümmern.«

Die Wehmutter schüttelte besorgt den Kopf. Sie nahm Blitz das Kind aus dem Arm und legte es an Ilinias Seite. »Hier«, sagte sie. »das ist dein Kind. Füttere du es.«

»Aber …«

»Tut euch das nicht an. Handelt euch nicht eine Abfuhr nach der anderen ein, bis ihr zum Gespött von ganz Kirifas werdet«, riet die Frau. »Es gibt Kinder, denen fliegen die Herzen zu. Und es gibt Kinder, die werden vor allem und vielleicht sogar ausschließlich von ihren Eltern geliebt. Und manche Kinder liebt keiner, aber groß müssen sie trotzdem irgendwie werden. Und ich bringe sie alle auf die Welt, ohne Unterschiede zu machen. Kümmere dich um deinen Sohn und zeig ihn nicht herum. Vielleicht wird es besser.«

»Was sollte besser werden?«, fragte Blitz aufgebracht. »Mit meinem Sohn ist alles in Ordnung.«

»Nun ja, wir werden sehen.« Sie seufzte mitleidig. »Wir werden sehen.«

Ilinias und Blitz merkten rasch, dass es ein weiser Ratschlag gewesen war, das Kind nicht allen Leuten zu zeigen. Die Bewohner des Palastes waren neugierig, nachdem schon vorher so viel darüber geredet worden war. Die Kaiserin selbst kam, um Ilinias im Wochenbett zu besuchen.

»Oh«, entfuhr es ihr, nachdem sie den Kleinen gesehen hatte. Alle Lobesworte erstarben ihr auf der Zunge. Das Gerücht von der Hässlichkeit des Kindes machte bereits die Runde, aber niemand glaubte, dass es wirklich so schlimm war, bis er Sorayn selbst gesehen hatte. Schnell wandte Fanes sich Ilinias zu und fragte sie nach ihrem Befinden, und wie die Besucher vor ihr fand sie recht schnell wieder hinaus. Kurze Zeit danach ließ Blitz den Kaiser ins Zimmer.

Er beugte sich über die Wiege und betrachtete Sorayn, ohne eine Miene zu verziehen.

»Nun, Majestät?«, fragte Ilinias und verzog spöttisch das Gesicht. »Wie gefällt Euch mein Kind, auf dem Rins Segen ruht?«

Der Kaiser zögerte mit seiner Antwort.

Sie lachte leise. »Wunderbar und einzigartig, in der Tat.« Der außergewöhnliche Name ihres Sohnes kam ihr nun vor wie ein Hohn. »Der Einzigartige, ha! In ganz Kirifas, nein, im ganzen Kaiserreich«, sagte Ilinias laut, »gibt es wohl kein Kind, das so hässlich ist wie dieses. Es sieht gar nicht aus wie ein Kind. Es sieht aus wie eine Puppe, die ein ungeschickter Spielzeugmacher aus den Resten verschiedener kaputter Puppen zusammengebastelt hat. Von jener einen Arm, von einer anderen das Bein, von dieser den Kopf, aber natürlich nicht den ganzen. Nehmen wir von dieser hübschen Mädchenpuppe die schönen blauen Augen. Dort, jene mit dem Erwachsenengesicht, berauben wir ihrer Nase. Von jener nehmen wir die Ohren, und von der dort den Mund. Und das Kinn – ach, wozu brauchen wir ein Kinn? Das lassen wir gleich fort. Mit Haaren brauchen wir nicht geizig zu sein, reißen wir der schwarzen Katze dort einfach ein paar aus. So, fertig. Ein einzigartiges Kind. Sollten wir uns denn mit weniger zufrieden geben? Mit einem ganz gewöhnlichen Balg, das vielleicht sogar andere Leute niedlich finden könnten?«

Kanuna wandte sich zu ihr hin. »Ilinias …«

»Ja, Majestät?« Ihre blauen Augen funkelten ihn angriffslustig an.

»Ich hatte nicht vor, irgendetwas Schlechtes über dein Kind zu sagen.«

Betreten senkte sie den Blick. »Verzeiht, Majestät.«

»Ich weiß, das ist kein Trost«, sagte er, »aber immer wieder werden Kinder geboren, die anders sind, schwach und krank, und die nie so werden wie andere Menschen. Niemand weiß, warum Rin uns auch solche Kinder schickt. Niemand weiß, was daraus vielleicht noch Gutes entstehen könnte.«

»Habt Ihr auf seine Augen geachtet?«, fragte Blitz. »Er hat die gleichen Augen wie Ilinias, blau und schön.«

»Aber er macht sie kaum auf«, klagte Ilinias.

Das Kind lag in seiner Wiege und rührte sich nicht. Wenn es wach war, starrte es vor sich hin, ohne etwas zu sehen. Blitz kam es manchmal vor, als sei dieses Kind von seiner eigenen Geburt so überrascht worden, dass es erst einmal zu sich kommen musste. Das Kind. Sie nannten es alle »das Kind«, sie vermieden es, seinen Namen auszusprechen, als wäre sein Name eine Krone, die nicht zu diesem Kopf passte. Und wenn einer von ihnen es sagte – sie selbst oder ein Besucher –, erschraken sie alle gemeinsam über diesen Namen, in dem so viel Segen und Verheißung lagen. Sorayn, der Einzigartige.

Einmal, nachdem sie etwas länger geschlafen hatte und nicht schon nach zwei, drei Stunden von dem Kind geweckt wurde, erwachte Ilinias und es kam ihr vor, als sei dies alles nur ein Albtraum. Irgendwann würde sie erwachen, zu ihrem richtigen Leben, das irgendwo ohne sie stattfand, und würde feststellen, dass nichts von dem hier wirklich passiert war. Sie hatte kein Kind bekommen, das aussah wie ein groteskes Ungeheuer. Sie war immer noch schwanger und irgendwann würde ihr Sohn zur Welt kommen, klein und fein und niedlich, ein Junge, der aussah wie Blitz. Sie konnte sich vorstellen, dass es möglich war, ein Kind, das Blitz glich, innig zu lieben. Schwarzes Haar. Ein Kind, das lächeln konnte, ein Kind, über das sich die anderen Leute beugten und Ausrufe des Entzückens von sich gaben.

Sie merkte, dass Blitz wach war. Auch er horchte wohl darauf, dass der Kleine sich meldete. Diese Nacht war ungewöhnlich ruhig gewesen.

»Ilinias.« Er streckte die Hand aus und streichelte ihre Wange.

Es war ein herrlicher Traum: sich vorzustellen, dass es nur sie beide gab. Dass dieses Kind nicht zu ihnen gehörte, dass Rin ihnen gnädig gewesen war und ihnen ein anderes Kind geschenkt hatte, ein richtiges Kind.

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie unter Tränen.

»Was?«, fragte er und blickte sie voller Zärtlichkeit an. Im Schein der kleinen Lampe sah er älter und gereifter aus, ein erwachsener Mann, aber sie fühlte sich wie ein kleines, verlorengegangenes Mädchen.

Sie wischte sich über die Augen. »Das«, flüsterte sie und wies in Richtung Wiege. »Ich wollte dich stolz machen. Ich wollte, dass du dich freust und es lieb hast, so wie du Manina lieb hast. Bitte, sei mir nicht böse, verachte mich nicht …«

»Was machst du dir nur für Gedanken?«, wunderte Blitz sich. »Ich habe ihn lieb, glaub mir. Das ist unser Sohn!«

Aber Ilinias weinte. »Ich wollte nie, dass es so wird, glaub mir …«

»Aber ich gebe dir doch nicht die Schuld! Kein Mensch gibt dir die Schuld daran!«

»Das stimmt nicht«, sagte sie. »Das stimmt nicht und du weißt das. Im Palast zerreißen sie sich das Maul darüber, wer wohl der Vater von diesem Monstrum ist. Hast du das wirklich nicht mitbekommen? Sie reden darüber, wer der hässlichste Mann von Kirifas ist. Manche haben sich sogar an diesen komischen Zwerg erinnert, und behaupten, er wäre der Vater!«

»Kroa?«, fragte Blitz verständnislos.

»Sie sagen, wenn ich immer nur dich angesehen hätte, müsste mein Kind so aussehen wie du. Und ich habe nur dich angesehen, wirklich! Ich habe nie auch nur an einen anderen Mann gedacht! Ach, Blitz … Sie sagen sogar, wenn eine Schwangere Hässliches denkt, dann kann ihr Kind davon hässlich werden.«

»Lass sie doch reden, sie haben keine Ahnung. Du bist so eine wundervolle Frau, Ilinias. Du hast bestimmt nie etwas Hässliches gedacht.«

»Doch.« Ihr Weinen wurde stärker. »Ich hab die ganze Zeit gedacht, dass ich dieses Kind eigentlich gar nicht möchte. Ich hab nur ans Kämpfen gedacht und daran, wie ich möglichst schnell wieder meine Übungen aufnehmen kann. Ich habe keine Socken gestrickt und mit Blümchen verziert oder was die anderen Frauen so machen, wenn sie schwanger sind. Ich wollte kein Kind und deshalb ist es auch kein richtiges Kind geworden, sondern so ein schreckliches Ding.«

»Du bist nicht schuld.« Er nahm sie in den Arm und wiegte sie sanft hin und her. »Lass dir das von niemandem einreden.«

»Es tut mir so leid.«

»Oh meine Liebe, weine nicht.«

Schon lange hatten sie einander nicht mehr innig umarmt, nicht wie Liebende miteinander geflüstert. Seit sie in Kirifas waren, war ihnen auch ein guter Teil der Leidenschaft verloren gegangen, die sie auf ihrer Flucht vor Zukata empfunden hatten, angefacht von Gefahr und Wagnis. Hier, im Palast, war jeder seinen eigenen Geschäften nachgegangen – Blitz kümmerte sich um Manina und verbrachte darum viel Zeit mit der kaiserlichen Familie, Ilinias hielt sich bei den Wächterinnen auf. Jeder lebte sein eigenes Leben. Es war, als hätte diese kurze Zeit, in der Mino in Kirifas gewesen war, einen Schatten über ihre Liebe geworfen oder eine Schlucht zwischen ihnen aufgerissen. Doch nun, als er sie zu trösten versuchte, war die alte Verbundenheit wieder da. Ilinias kuschelte sich in seine Umarmung. In diesem Moment der Ehrlichkeit wagte sie es, etwas zu sagen, was ihr schon lange auf dem Herzen lag: »Mino hätte dir bestimmt ein richtiges Kind geschenkt.«

»Denk nicht an Mino«, sagte er leise. »Du bist es, die ich geheiratet habe.«

Mehr als alles andere wünschte sie sich, sie hätte in sein Herz hineinsehen können, aber zugleich fürchtete sie sich vor dem, was sie dort vielleicht zu sehen bekäme.

»Denkst du denn an sie?«, fragte sie.

»Ilinias«, sagte Blitz nur und küsste sie auf ihr tränennasses Gesicht.

In diesem Moment begann Sorayn sich unruhig zu bewegen, und Blitz sprang aus dem Bett, um ihn zu ihr zu bringen, bevor er mit seinem Geschrei den ganzen Palast aus dem Schlaf riss.

»Mino ist eine Erinnerung an eine schöne Kindheit«, sagte er, als er ihr das Kind an die Brust legte. »Du bist hier. Du bist meine Frau. Und das ist mein Sohn.« Er streichelte das haarige Köpfchen. »Unser kleiner Sohn. Mach ihn nicht schlechter, als er ist, Ilinias. Muss denn jeder Mensch hübsch sein?«

Ja, dachte sie nur. Das Gesicht des Kleinen lag im Schatten. Sie sah es nicht an, sie schaute auf Blitz, der an der Bettkante saß. Vielleicht, wenn wir blind wären, wenn wir in einer dunklen Welt lebten, in der nur unsere Worte und unsere Taten und unsere Gedanken zählten … Aber, hätte sie am liebsten gefragt, würdest du mich dann lieben, Blitz? Würdest du mich lieben, in einer dunklen Welt? Du Lügner.

Wenn Ilinias den Kleinen an ihre Brust legte, schloss sie die Augen, um ihn nicht dabei ansehen zu müssen. Sie versuchte sich vorzustellen, dass sie ein anderes Kind im Arm hielt, ein hübsches, freundliches Kind, das ihren Blick suchte. Sorayn war dagegen nicht freundlich. Er trank mit einer Gier, die sie überraschte und die ihr Schmerzen bereitete. Schließlich fragte sie die Hebamme, ob das Stillen allen Frauen so wehtat. Die erfahrene Heilerin betrachtete verwundert Ilinias’ gerötete Brust und sah sich daraufhin das Kind noch einmal an.

»Das gibt es doch nicht! Er hat schon einen Zahn! Kein Wunder, dass er dir wehtut.«

Es bereitete Ilinias ungeahnte Qualen, ihr Kind zu versorgen. Er trank so viel, dass ihre Brüste Unmengen an Milch bildeten – dann wieder schlief er so lange, dass sie sich sehnlichst wünschte, er würde trinken, doch er war nicht wachzubekommen. An die Wiederaufnahme ihrer Übungen bei den Amazonen war nicht zu denken. Mit kühlenden Umschlägen auf ihrer Brust lag sie im Bett, während der Kleine sich nicht darum scherte, ob seine Ansprüche ihr bekamen oder nicht. Alle Ratschläge der Hebamme, wie sie ihn zu regelmäßigen Fütterungszeiten erziehen könnte, schlugen fehl. Wenn er schlief, ließ er sich nicht wecken, und wenn er Hunger hatte, brüllte er mit einer Lautstärke, die fast im ganzen Palast zu hören war und es nicht zuließ, ihn warten zu lassen. Und doch waren diese ersten beiden Wochen nichts gegen das, was noch kommen sollte; später wünschten sie sich diese Zeit zurück.

Bei seinem ersten Anfall glaubte Ilinias, ihr Kind würde ersticken. Es rang nach Luft und lief blau an, es krümmte sich und zuckte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, was sie tun konnte, und schließlich lief sie los, den Kleinen im Arm, um nach dem kaiserlichen Heiler, dem Arzt Rugan, zu suchen. Noch bevor sie ihn gefunden hatte, hatte das Kind wieder Luft geholt und begann zu schreien. Es waren solche lauten, qualvollen Schreie, dass ihr schien, er würde jetzt sofort in ihren Armen sterben, und Ilinias lief weinend durch den Palast und hoffte, Rugan rechtzeitig zu finden.

Schließlich fand er sie, von dem Geschrei herbeigerufen, aber er war genauso hilflos wie sie.

»Ich weiß nicht, was er hat«, musste der Arzt zugeben, nachdem er das Kind kurz untersucht hatte. Er tastete es ab, um festzustellen, ob irgendetwas gebrochen war, und fragte sie etwas verlegen, ob sie es vielleicht fallengelassen hatte. »Ruf mich noch einmal, wenn er schläft, vielleicht kann ich ihn dann besser untersuchen.«

Ilinias kam es unwahrscheinlich vor, dass ihr Sohn jemals wieder schlafen würde, geschweige denn, dass er diesen Tag überhaupt überlebte. Eine Menge Leute waren zusammengelaufen, um zu sehen, was es gab. Es wäre Ilinias peinlich gewesen, so viel Aufsehen zu erregen, wenn sie nicht so benommen von dem Lärm gewesen wäre, dass ihr bald alles gleich war, wenn es nur aufhörte. Die neugierigen Fürstinnen, die darauf hofften, auch einmal einen Blick auf das sagenhaft hässliche Kind werfen zu können, überboten sich mit weisen Ratschlägen.

»Das ist Bauchweh, das hatte meine Tochter auch in dem Alter.«

»Nein, das sind Schüttelkrämpfe, hast du nicht gesehen, wie es zuckt?«

»Solche Kinder leben sowieso nicht lange.«

Ilinias legte Sorayn ein Tuch über das Gesicht, damit niemand ihn sah, während sie zurück in ihr Zimmer ging. Die Dunkelheit schien ihn ein wenig zu beruhigen, aber vielleicht war er auch nur erschöpft. Irgendwann wurde er tatsächlich ruhiger und schlief ein. Wieder brauchte sie den Arzt nicht zu rufen – am abebbenden Gebrüll hatte er selbst erkannt, dass er nun zu der Untersuchung kommen konnte. Hinter ihm erschien die übergroße Gestalt des Riesenkaisers in der Tür.

»Es tut mir so leid, dass wir hier solchen Lärm machen«, begann Ilinias, aber Kanuna winkte ab. »Lass uns mal sehen, was er hat.«

Rugan hatte sein Hörrohr an die Brust des Kleinen gelegt, der im Schlaf nur noch hin und wieder leise aufschluchzte.

»Sein Herz schlägt aber laut«, fand er verwundert. »Laut und – ja, unregelmäßig. Zu schnell. Einmal laut, dann leise, dann …« Er runzelte die Stirn. »Hat er etwa zwei Herzen? Ein kleines und ein großes?«

»Und das erklärt, warum er so schreit?«

Rugan versuchte, seine hilflose Miene durch ein gelehrtes Gesicht zu ersetzen, aber es gelang ihm nur schlecht.

»So ein Fall ist mir noch nie begegnet. Nein, ich weiß nicht, was mit ihm ist. Vielleicht würde ihm eine Luftveränderung gut tun? Wärme und Sonne?«

»Ja, vielleicht«, sagte Ilinias ohne Überzeugung.

Nun trat der Kaiser an die Wiege.

»Wenn Keta hier wäre«, sagte er leise. »Was immer es ist, ich bin sicher, er könnte es heilen. Seine Hände vermögen Unglaubliches … Aber ich tue, was ich kann.«

Er legte seine Hände auf das schlafende Kind. Sofort öffnete es die Augen und sah ihn an.

»So haben mich meine Söhne angeblickt, als sie klein waren«, sagte Kanuna. »Mit ebensolchen blauen, wissenden Augen …«

»Eure Söhne waren gesund und kräftig«, bemerkte Rugan. »Wir wissen beide, dass es nicht möglich ist, jedes Kind zu retten.«

Kanuna ließ sich nicht beirren. Er berührte den missgestalteten Körper mit seinen großen Händen, die Segen verteilen konnten und Heilung – wenn auch nicht im selben Maße wie die seines Sohnes –, und er murmelte irgendetwas, vielleicht ein Gebet.

»Mehr kann ich nicht tun«, sagte er zu Ilinias. »Vielleicht wird es besser, vielleicht auch nicht.«

Es wurde nicht besser. Bereits am nächsten Tag ereilte Sorayn der nächste Anfall, und er schrie so laut, dass niemand im Palast seiner Arbeit nachgehen konnte und mehrere Beschwerden beim Kaiser eingingen.

»Er ist gewachsen«, stellte Ilinias verwundert fest, als Blitz zusammen mit Manina nachsehen kam, was los war; bei dem Gebrüll war es unmöglich, sie zu ihrem Mittagsschlaf zu bewegen. »Sein rechter Arm ist jetzt länger als der linke. Das war gestern noch nicht so. Und schau dir seine Nase an. Ist sie nicht noch dicker als vorher?«

»Du meinst, er schreit, wenn er wächst? Aber so schnell wächst niemand.«

»Sieh es dir an, wenn du mir nicht glaubst.«

Blitz musste zugeben, dass Sorayn noch merkwürdiger aussah als sonst.

»Ich hoffe nur, das gibt sich«, meinte er. »Ich dachte bisher immer, dieser Palast ist fest und sicher gebaut, aber langsam habe ich den Eindruck, die Wände sind nur aus Papier. Wie kann ein so kleines Kind eine so laute Stimme haben?«

Es gab sich nicht. Der Rat, Wärme und Sonne und vielleicht auch noch Seeluft könnten ihrem kranken Schreihals helfen, wurde ihnen so oft erteilt und von so vielen Seiten, dass sie es schließlich selbst für das Beste hielten, Kirifas zu verlassen und eine Reise zu machen.

»Wir fahren nach Arima«, sagte Blitz zum Kaiser. »Noch bevor der Winter kommt. Vielleicht wird es am Meer besser. In der milden Luft … Wir können dort den ganzen Tag über mit ihm draußen sein. Und ich möchte natürlich auch meinen Bruder und seine Frau wiedersehen. Ich hatte mir zwar gewünscht, Manina noch ein wenig Zeit zu geben, aber …«

»Wegen Manina mach dir keine Sorgen. Kümmere dich um deinen Sohn. Wir hoffen hier alle, dass ihr, wenn ihr wiederkommt, ein gut erholtes Kind mitbringt.«

Kanuna bat ihn nicht, bei Manina zu bleiben, er sorgte sogar dafür, dass sie möglichst schnell abreisen konnten. Der ganze Hofstaat atmete auf, als Blitz und Ilinias zusammen mit Sorayn die Stadt verließen. Endlich kehrte im Palast des Kaisers wieder Ruhe ein.

Der Erbe des Riesen

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